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RECHT/065: EUGh-Beschluss zur Abholzung im Bialowieza-Nationalpark (EUGh)


Gerichtshof der Europäischen Union
Pressemitteilung Nr. 122/17 - Luxemburg, den 20. November 2017

Beschluss des Gerichtshofs in der Rechtssache C-441/17 R

Kommission / Polen


Außer in Ausnahmefällen, in denen die Wahrung der öffentlichen Sicherheit es unbedingt erfordert, hat Polen die Maßnahmen der aktiven Bewirtschaftung des Waldes von Bialowieza unverzüglich einzustellen. Sollte ein Verstoß gegen diese Anordnung festgestellt werden, wird der Gerichtshof Polen ein an die Kommission zu zahlendes Zwangsgeld in Höhe von mindestens 100.000 Euro pro Tag auferlegen.

Im Jahr 2007 genehmigte die Kommission die Ausweisung des Gebiets Natura 2000 Puszcza Bialowieska als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung gemäß der Habitatrichtlinie [1] wegen des Vorhandenseins natürlicher Lebensräume und von Lebensräumen bestimmter Tier- und Vogelarten. Dieses Gebiet ist außerdem ein gemäß der Vogelschutzrichtlinie [2] ausgewiesenes besonderes Schutzgebiet für Vögel. Der Wald von Bialowieza ist einer der besterhaltenen Naturwälder Europas, der durch große Mengen von Totholz und eine Vielzahl alter Bäume, die zum Teil über hundert Jahre alt sind, charakterisiert ist. Aufgrund der Ausbreitung des Buchdruckers (Ips typographus) genehmigte der polnische Minister für Umwelt im Jahr 2016 eine Ausweitung der Holzgewinnung im Forstgebiet Bialowieza und Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung in Gebieten, die bis dahin von Interventionen ausgenommen waren, wie Sanitärschnitte, Aufforstung und Verjüngungsschnitte. Daraufhin wurde mit der Beseitigung trockener und vom Buchdrucker befallener Bäume auf einer Fläche von etwa 34.000 Hektar des sich über 63.147 Hektar erstreckenden Gebiets Natura 2000 Puszcza Bialowieska begonnen.

Da die Kommission davon ausging, dass sich diese Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung negativ auf die Bewahrung eines für die natürlichen Lebensräume und die Lebensräume bestimmter Tier- und Vogelarten - zu deren Bewahrung das Gebiet Natura 2000 Puszcza Bialowieska ausgewiesen worden sei - günstigen Erhaltungszustands auswirkten, hat sie am 20. Juli 2017 eine Vertragsverletzungsklage [3] erhoben, mit der sie beantragt, festzustellen, dass Polen gegen seine Verpflichtungen aus der Habitat- und der Vogelschutzrichtlinie verstoßen habe. Außerdem hat die Kommission beantragt, Polen aufzugeben, bis zum Erlass des Urteils zur Hauptsache - außer im Fall einer Bedrohung für die öffentliche Sicherheit - die Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung, darunter insbesondere die Beseitigung von über hundert Jahre alten toten Fichten sowie das Fällen von Bäumen im Rahmen der Ausweitung der Holzgewinnung im Gebiet Puszcza Bialowieska, zu beenden.

Mit Beschluss vom 27. Juli 2017 hat der Vizepräsident des Gerichtshofs diesem Antrag vorläufig -bis zum Erlass des Beschlusses, mit dem das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abgeschlossen wird - stattgegeben.

Im Beschluss vom heutigen Tag weist der Gerichtshof darauf hin, dass der für die Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter einstweilige Anordnungen nur dann treffen kann, wenn (1) die Notwendigkeit der Anordnungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht (fumus boni iuris) und (2) dargetan ist, dass diese Anordnungen dringlich in dem Sinne sind, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen der Union, vertreten durch die Kommission, bereits vor der endgültigen Entscheidung erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten müssen. Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter nimmt gegebenenfalls auch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vor.

Was erstens die Voraussetzung des fumus boni iuris betrifft, weist der Gerichtshof darauf hin, dass diese erfüllt ist, wenn eine bedeutsame rechtliche oder tatsächliche Kontroverse besteht, deren Entscheidung sich nicht sofort aufdrängt, so dass die Klage dem ersten Anschein nach nicht einer ernsthaften Grundlage entbehrt. Insbesondere erscheint das Vorbringen der Kommission dem ersten Anschein nach nicht als einer ernsthaften Grundlage entbehrend, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass mit den in Rede stehenden Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung die sich aus der Habitat- und der Vogelschutzrichtlinie ergebenden Schutzanforderungen nicht eingehalten werden.

Zweitens weist der Gerichtshof hinsichtlich der Voraussetzung der Dringlichkeit darauf hin, dass der Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes darin besteht, die volle Wirksamkeit der künftigen Endentscheidung zu gewährleisten, um eine Lücke im vom Gerichtshof gewährten Rechtsschutz zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Dringlichkeit danach zu beurteilen, ob eine einstweilige Anordnung erforderlich ist, um den Eintritt eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens bei der Partei, die vorläufigen Rechtsschutz beantragt, zu verhindern.

Im vorliegenden Fall macht die Kommission geltend, dass die in Rede stehenden Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung die Umwelt in schwerer und nicht wiedergutzumachender Weise schädigen könnten. Da diese Maßnahmen gerade in der Beseitigung alter, sterbender oder toter Bäume - unabhängig von einem etwaigen Käferbefall - bestehen, erscheint es nach Ansicht des Gerichtshofs tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass sie sich auf die betroffenen Lebensräume auswirken. Davon zeugt auch der Umstand, dass eine der Maßnahmen zur Erhaltung dieser Lebensräume bis zum Jahr 2016 gerade darin bestand, Maßnahmen der genannten Art in bestimmten Gebieten auszuschließen.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass derartige Folgen einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Interessen der Union und das gemeinsame Erbe darstellen können. Ist der durch das Schlagen und Entfernen dieser Bäume entstehende Schaden nämlich erst einmal eingetreten, lassen sich diese Bäume später in dem Fall, dass die Vertragsverletzungen, die die Kommission Polen vorwirft, festgestellt werden, nicht wieder herstellen. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass die Dringlichkeit der von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnung feststeht.

Drittens prüft der Gerichtshof, ob die Abwägung der Interessen für den Erlass der einstweiligen Anordnung spricht. Er weist darauf hin, dass unter Zugrundelegung des Vorbringens der Parteien die abzuwägenden Interessen auf der einen Seite im Schutz der Lebensräume und Arten vor einer etwaigen Bedrohung durch Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung und auf der anderen Seite im Interesse daran bestehen, eine Verschlechterung der natürlichen Lebensräume des Waldes von Bialowieza zu verhindern, die mit der Anwesenheit des Buchdruckers einhergeht. Nach Ansicht des Gerichtshofs erläutert Polen nicht, weshalb die Einstellung dieser Maßnahmen bis zum Erlass des Urteils zur Hauptsache (d. h. wahrscheinlich für lediglich einige Monate vom Tag des Erlasses des heutigen Beschlusses an) zu einer schweren und nicht wiedergutzumachenden Schädigung dieses Lebensraums führen könnte.

Des Weiteren spricht der von Polen geltend gemachte Umstand, dass diese Maßnahmen auf einen geringen Teil des Gebiets Natura 2000 Puszcza Bialowieska begrenzt seien, nicht für die von diesem Mitgliedstaat vertretene Ansicht, sondern stützt vielmehr den Standpunkt der Kommission, wonach die vorübergehende Einstellung dieser Maßnahmen keinen schweren Schaden für dieses Gebiet zur Folge haben werde. Da keine genauen Informationen zu möglichen kurzfristig durch den Buchdrucker verursachten Schädigungen vorliegen, ist es somit dringlicher, das Eintreten der Schäden zu verhindern, die die Fortsetzung der in Rede stehenden Maßnahmen für das geschützte Gebiet zur Folge hätte.

Dem Antrag der Kommission auf einstweilige Anordnung ist daher stattzugeben. Gemäß diesem Antrag sind jedoch diejenigen Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung ausnahmsweise von der so erlassenen einstweiligen Anordnung auszuschließen, die unbedingt erforderlich und verhältnismäßig sind, um unmittelbar und sofort die öffentliche Sicherheit von Personen zu gewährleisten, und zwar unter der Voraussetzung, dass andere, weniger einschneidende Maßnahmen aus objektiven Gründen nicht möglich sind. Folglich dürfen die Maßnahmen nur insoweit fortgesetzt werden, als sie das einzige Mittel darstellen, um die öffentliche Sicherheit von Personen in unmittelbarer Umgebung der Verkehrswege oder sonstiger bedeutsamer Infrastrukturen zu wahren, wenn es aus objektiven Gründen nicht möglich ist, diese Sicherheit durch Erlass anderer, weniger einschneidender Maßnahmen wie eine angemessene Warnung vor den Gefahren oder ein vorübergehendes Verbot - gegebenenfalls unter Androhung geeigneter Sanktionen - des Zugangs der Öffentlichkeit zu dieser unmittelbaren Umgebung zu wahren.

Den Antrag Polens auf Leistung einer Sicherheit weist der Gerichtshof zurück. Der Mitgliedstaat ist der Ansicht, dass es in dem Fall, dass dem Antrag der Kommission stattgegeben werde, erforderlich sei, die Vollstreckung des Beschlusses über die einstweilige Anordnung von der Leistung einer Sicherheit in Höhe der Schäden abhängig zu machen, die sich aus der Vollziehung dieses Beschlusses ergeben könnten, d. h. 3.240.000.000 PLN (ungefähr 757 Millionen Euro), wobei dieser Betrag nach polnischem Recht berechnet worden ist, das eine Entschädigungspflicht für den Fall vorsieht, dass einer Fläche die Eigenschaft als Forstfläche genommen wird. Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, dass die Leistung einer Sicherheit nur in Betracht kommt, wenn die Partei, die Sicherheit zu leisten hat, Schuldner der Beträge ist, deren Zahlung auf diese Weise gesichert werden soll, und wenn die Gefahr ihrer Zahlungsunfähigkeit besteht. Diese Voraussetzungen sind jedoch vorliegend nicht gegeben, da jedenfalls nicht zu erwarten ist, dass die Union nicht in der Lage wäre, die Folgen einer eventuellen Verurteilung zur Leistung von Schadensersatz zu tragen.

Schließlich prüft der Gerichtshof den ergänzenden Antrag der Kommission auf Anordnung der Zahlung eines Zwangsgeldes für den Fall, dass Polen die mit dem Beschluss vom heutigen Tag erlassene Anordnung nicht befolgt. Die Kommission trägt nämlich vor, dass die Tätigkeiten, deren vorläufige Einstellung durch den Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 27. Juli 2017 angeordnet worden sei, nach Bekanntgabe dieses Beschlusses an den Mitgliedstaat unter Missachtung der einstweiligen Anordnung fortgeführt worden seien. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass in dem vom Vertrag geschaffenen Rechtsschutzsystem der Richter des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die andere Partei insbesondere geeignete Anordnungen erlassen kann. Art. 279 AEUV räumt dem Gerichtshof nämlich die Befugnis ein, alle einstweiligen Anordnungen zu erlassen, die er für erforderlich hält, um die volle Wirksamkeit der Endentscheidung sicherzustellen. Eine solche Anordnung kann namentlich darin bestehen, die Verhängung eines Zwangsgeldes für den Fall vorzusehen, dass eine Anordnung von der betroffenen Partei nicht befolgt wird. Da die Aussicht auf die Verhängung eines Zwangsgeldes in einem solchen Fall dazu beiträgt, den betroffenen Mitgliedstaat davon abzuhalten, die erlassene einstweilige Anordnung nicht zu befolgen, verstärkt sie die Wirksamkeit dieser Anordnung und gewährleistet dadurch die volle Wirksamkeit der Endentscheidung, womit sie sich voll und ganz in den Rahmen des mit Art. 279 AEUV verfolgten Ziels einfügt. Dass die Verhängung eines Zwangsgeldes allein zu dem Zweck, die Befolgung der betreffenden einstweiligen Anordnung sicherzustellen, vorgesehen ist, nimmt in keiner Weise die künftige Entscheidung zur Hauptsache vorweg.

Im vorliegenden Fall enthalten die Akten ein Bündel von Indizien, die genügen, um den Gerichtshof daran zweifeln zu lassen, dass Polen den Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 27. Juli 2017 befolgt hat und bereit ist, den Beschluss vom heutigen Tag bis zum Erlass des Urteils zur Hauptsache zu befolgen. Unter diesen Umständen erscheint es erforderlich, die Wirksamkeit der heute erlassenen einstweiligen Anordnung zu verstärken, indem die Verhängung eines Zwangsgeldes für den Fall vorgesehen wird, dass Polen diese einstweilige Anordnung nicht unmittelbar und vollständig befolgt, um den Mitgliedstaat davon abzuhalten, es zu verzögern, sein Handeln mit dem Beschluss vom heutigen Tag in Einklang zu bringen. Zu diesem Zweck ordnet der Gerichtshof daher an, dass Polen der Kommission spätestens 15 Tage ab Bekanntgabe des Beschlusses unter genauer, begründeter Angabe der betreffenden Maßnahmen der aktiven Waldbewirtschaftung, die es fortzuführen beabsichtigt, weil sie zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit erforderlich sind, sämtliche Maßnahmen mitzuteilen hat, die es ergriffen hat, um diesem Beschluss in vollem Umfang nachzukommen.

Sollte die Kommission der Ansicht sein, dass Polen dem Beschluss nicht vollständig nachgekommen ist, kann sie die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen. Der Gerichtshof wird dann durch einen neuen Beschluss über einen etwaigen Verstoß gegen den Beschluss vom heutigen Tag entscheiden. Sollte ein Verstoß festgestellt werden, wird der Gerichtshof Polen ein an die Kommission zu zahlendes Zwangsgeld in Höhe von mindestens 100.000 Euro pro Tag - beginnend mit dem Tag der Bekanntgabe dieses Beschlusses und so lange, bis dieser Mitgliedstaat den Beschluss vom heutigen Tag befolgt, bzw. bis zur Verkündung des das Hauptsacheverfahren abschließenden Urteils - auferlegen.

HINWEIS: Der Gerichtshof wird sein Endurteil in dieser Sache zu einem späteren Zeitpunkt verkünden. Ein Beschluss über einstweilige Anordnungen greift dem Ausgang der Hauptsache nicht vor.

HINWEIS: Eine Vertragsverletzungsklage, die sich gegen einen Mitgliedstaat richtet, der gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, kann von der Kommission oder einem anderen Mitgliedstaat erhoben werden. Stellt der Gerichtshof die Vertragsverletzung fest, hat der betreffende Mitgliedstaat dem Urteil unverzüglich nachzukommen.
Ist die Kommission der Auffassung, dass der Mitgliedstaat dem Urteil nicht nachgekommen ist, kann sie erneut klagen und finanzielle Sanktionen beantragen. Hat ein Mitgliedstaat der Kommission die Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie nicht mitgeteilt, kann der Gerichtshof auf Vorschlag der Kommission jedoch bereits mit dem ersten Urteil Sanktionen verhängen.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.

Der Volltext des Beschlusses wird auf der Curia-Website
veröffentlicht.


[1] Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) in der durch die Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 158, S. 193) geänderten Fassung.

[2] Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 2010, L 20, S. 7) in der durch die Richtlinie 2013/17 geänderten Fassung.

[3] Rechtssache C-441/17.

*

Quelle:
Europäischer Gerichtshof (EuGH)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2017

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