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WILDNIS/028: Rettung eines der letzten großen Wildnisgebiete (Naturschutz heute)


NATURSCHUTZ heute - Winter 2019
Mitgliedermagazin des Naturschutzbundes (NABU) e.V.

Rettung eines der letzten großen Wildnisgebiete

von Christiane Winkler


Im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern liegt der Anklamer Stadtbruch, eine einzigartige Moorlandschaft zwischen Land und Meer. Einen Großteil des Wildnisgebietes will die NABU-Stiftung erwerben und so dauerhaft bewahren.


Es war ein ganz besonderes Schauspiel, das sich Naturfreunden im vergangenen Sommer im Anklamer Stadtbruch bot. Mehr als 200 Seeadler sammelten sich an den flachen Gewässern, die durch die ungewöhnlich lange Trockenheit nur sehr wenig Wasser führten. Das machte es den Greifvögeln sehr einfach, Fische zu erbeuten, und ließ die sonst eher einzelgängerischen Jäger ungewöhnlich gesellig erscheinen. Auch in Zeiten ohne Rekordhitze fühlt sich der König der Lüfte im Stadtbruch sehr wohl. Zwölf Paare brüten im Gebiet, das ist die höchste Dichte an Seeadlern in Mitteleuropa. Das rund 1.500 Hektar große Naturschutzgebiet an der Mündung der Peene bietet heute unzähligen Arten eine Heimat und zählt durch seine Größe und Unwegsamkeit zu den letzten Wildnisgebieten in Deutschland.

Glücksfall Sturmflut
Wie der Name verrät, war der Anklamer Stadtbruch im Laufe seiner Geschichte nicht immer eine "wilde" Moorlandschaft. Schon im 16. Jahrhundert legten die Menschen Torfstiche an, um Brennstoff für die Stadt Anklam zu gewinnen. Die übrigen Flächen wurden als Weide und Wiese genutzt. Erst 1945 wurde die Torfgewinnung eingestellt, durch die etwa die Hälfte des ehemals 500 Hektar großen Hochmoores verschwand. Mithilfe zweier Schöpfwerke und der Eindeichung wurden die Moorflächen weiter trockengelegt und eine intensive land- und forstwirtschaftliche Nutzung eingeführt. Doch dann ließ 1995 eine Sturmflut den baufälligen Deich zwischen Stadtbruch und Stettiner Haff brechen und überschwemmte weite Teile des Gebietes. Nach dem Rückzug des Wassers waren die tiefer liegenden Polder überflutet, Wege unpassierbar und das Land für die Forst- und Landwirtschaft nur noch eingeschränkt nutzbar. Bis auf gelegentlichen Holzeinschlag konnte sich die Natur seitdem weitgehend ungestört vom Menschen entfalten.

Heimat für über 100 Brutvogelarten
Heute ist der Anklamer Stadtbruch durch naturnahe, feuchte Moorwälder geprägt, die sich um das zentral gelegene Hochmoor ziehen. Die hohen Wasserstände verringerten die weitere Mineralisierung der Moorböden und ließen die Torfmoose wieder wachsen. Durch die Überflutungen starben zudem Bäume und Gehölze großräumig ab. Auf den nicht dauerhaft überfluteten Flächen entstehen durch natürliche Verjüngung wertvolle Moorwälder aus Erle, Birke und Eiche. Über 100 Vogelarten brüten in dem Naturschutzgebiet, darunter Schwarz- und Mittelspecht. Wendehals, Zwergschnäpper und Karmingimpel. Besonders zahlreich besiedeln Wasservögel wie Schwarzhalstaucher, Flussseeschwalben oder Trauerseeschwalben die Gewässer. Während der Zugzeit sammeln sich hier Zehntausende nordische Gänse, Schwäne, Enten sowie Kraniche und Limikolen. Gerne nutzen auch Fischotter die ehemaligen Grabensysteme, und der Biber baut hier stattliche Burgen.

Einmalige Schmetterlingswelt
Bereits 1935 wurden erste Bereiche im Stadtbruch aufgrund der artenreichen Schmetterlingsfauna unter Naturschutz gestellt. So leben auf den feuchten Moorflächen beispielsweise der seltene Große Feuerfalter oder der vom Aussterben bedrohte Moorwiesen-Striemenspanner, der außer im Anklamer Stadtbruch nirgendwo mehr in Deutschland vorkommt. Heute sind 1.469 Hektar im Anklamer Stadtbruch als Naturschutzgebiet ausgewiesen. 2017 beschloss die Hansestadt Anklam jedoch, einen Großteil der städtischen Naturschutzflächen zu verkaufen. Dadurch bestand die Gefahr, dass diese deutschlandweit einzigartige Wildnis in die Hand von Privatpersonen gelangte, die neue wirtschaftliche Nutzungsinteressen in das Gebiet tragen. Denn nach der Schutzgebietsverordnung ist eine forstliche und jagdliche Nutzung des Gebietes weiterhin erlaubt. Die NABU-Stiftung Nationales Naturerbe bewarb sich daraufhin ebenfalls als Käufer - und das mit Erfolg.

Zuschlag für den NABU
Im Sommer 2018 stimmte die Stadtverordnetenversammlung mit deutlicher Mehrheit für den Verkauf der 1.360 Hektar großen städtischen Moorflächen an die NABU-Stiftung. In ihrer Obhut darf sich der Stadtbruch auch in Zukunft ohne wirtschaftliche Nutzung entwickeln. Zusätzlich wird die NABU-Stiftung für eine Stabilisierung der zurzeit noch stark schwankenden Wasserstände sorgen und damit den Lebensraum der Moorbewohner weiter verbessern. Unterstützt wird sie hierbei vom Land Mecklenburg-Vorpommern und weiteren Förderinstitutionen. Am Ende wird die NABU-Stiftung voraussichtlich 1,35 Millionen Euro an Eigenmitteln für das umfangreiche Wildnisprojekt aufbringen müssen. Als Ort für einzigartige Naturerlebnisse bleibt der Anklamer Stadtbruch bestehen. Besucher können das Wildnisgebiet auf ausgewiesenen Wanderwegen erkunden, sollten dabei aber nicht auf Gummistiefel verzichten. Ganz besondere Einblicke in die Moorlandschaft bieten orts- und fachkundige Naturführer an. Die Chancen stehen gut, den König der Lüfte bei diesen Erkundungen auch in Aktion zu erleben.


Mehr Informationen unter

www.naturerbe.de

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Quelle:
Naturschutz heute - Heft 1/19, Seite 22 - 23
Verlag: Naturschutz heute, 10108 Berlin
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"Naturschutz heute" ist das Mitgliedermagazin
des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) e.V.
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ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2019

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