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LAIRE/305: Agrar - Zerstörungs- und Wiederherstellungsgewinne ... (SB)



Während der sogenannten Grünen Revolution in den 1960er Jahren haben Saatgutkonzerne daran gearbeitet, die Erntemengen zu steigern. Zwar ist ihnen das gelungen, aber der Preis für die bloße Volumenzunahme der Hochertragssorten bestand darin, daß deren Nährwertigkeit teilweise abnahm, traditionelle Sorten verschwanden und vielerorts Monokulturanbau mit den hinlänglich bekannten ökologischen Folgeschäden, u. a. durch den hohen Pestizideinsatz und Wasserverbrauch, praktiziert wurde. Seit einigen Jahren wird das Heil in "bioverstärkten" Getreidesorten gesucht. Mit ihnen soll in den ärmeren Ländern der Mangel an lebenswichtigen Nährstoffen wie Vitamin A, Eisen, Zink, Jod oder auch an Antioxidantien behoben werden.

Die Saatgutindustrie macht quasi einen doppelten Gewinn: Nachdem sie im ersten Schritt Monopolstrukturen durchgesetzt und unter anderem dabei nährstoffärmeres Getreide gezüchtet hat, züchtet sie nun die mangelnden Nährstoffe wieder ein und verlangt für dieses biologisch "aufgewertete" Getreide einen höheren Preis. Forschung und Entwicklung müssen sich auszahlen, lautet die übliche Begründung.

Weil die bloße Erntemenge, umgerechnet in Kalorien, nicht genügt, um die Ernährungslage einer Bevölkerung zu beschreiben, wurde der Begriff "versteckter Hunger" eingeführt. Die davon Betroffenen haben unter Umständen eine ausreichend hohe Kalorienzufuhr, aber ihnen fehlen lebenswichtige Nährstoffe, beispielsweise weil sie sich hauptsächlich von Reis ernähren. Deswegen hatten Entwicklungsorganisationen zunächst die Vergabe von Nahrungsergänzungsstoffen in Form von Kapseln in ihr Repertoire aufgenommen. Dieser Ansatz hat sich allerdings häufig als unwirksam erwiesen, denn die Kapseln waren nicht immer verfügbar, wurden überdosiert eingesetzt oder weggelassen. Alles in allem sind sie nur bedingt nützlich und bieten keine Gewähr für eine langfristige, adäquate Versorgung mit Nährstoffen.

Da gewann verstärkt die Idee an Attraktivität, Reis und andere Grundnahrungsmittel mit Mikronährstoffen anzureichern, so daß durch eine ganz normale Mahlzeit, wie sie täglich eingenommen wird (sofern sie zur Verfügung steht), Mangelernährung vermieden werden kann. Die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen und nationale Institutionen setzen sehr auf jene nährstoffangereicherten Grundnahrungsmittel. Beispielsweise sollen in Indien ab Dezember dieses Jahres alle Schulessen "biofortified crops" enthalten. Biofortifikation ist eines der Versprechen im Streben, den Hunger in der Welt abzuschaffen, wie es im zweiten der 17 Nachhaltigkeitsziele (SDGs - Sustainable Development Goals), auf deren Erfüllung bis zum Jahr 2030 sich die internationale Staatengemeinschaft geeinigt hat, gefordert wird.

Weltweit sind rund zwei Milliarden Menschen nicht ausreichend ernährt, viele von ihnen zeigen die entsprechenden Mangelerscheinungen wie Beeinträchtigung des Wachstums, der Kognitionsfähigkeit und der Immunabwehr sowie eine höhere Anfälligkeit für Krankheiten und Erblindung. Die desaströse Lage zu beheben, ist somit ein hehres Anliegen.

Hunger und versteckter Hunger stellen sich jedoch als sehr vielschichtige Probleme dar. Wenn die Behebung eines Mangels ein lukratives Geschäftsmodell ist, wirft das die Frage auf, wo die Prioritäten liegen, auf Profit oder Problembewältigung? Die Meinung ist weit verbreitet, daß sich beides geschmeidig miteinander verbinden läßt: Saatgutunternehmen produzieren bioaufgewertetes Getreide und werden, möglicherweise weniger von den Betroffenen selbst als von Hilfsorganisationen und staatlichen Einrichtungen, dafür bezahlt. In dem Fall steht Profit an vorderster Stelle, denn ohne Geschäftsaussichten würde kein Unternehmen wirtschaften, sondern in absehbarer Zeit bankrott gehen.

In der marktwirtschaftlichen Ordnung werden jedoch die Geschäftsaussichten von Unternehmen getrübt, wenn die Nachfrage gestillt ist. Die Bewirtschaftung des Mangels und damit dessen Produktion bildet daher geradezu den Kern der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Die Aussicht, mit der existentiellen Not der Menschen Geschäfte machen zu können, öffnet den Saatgutunternehmen bei ihren Kreditgebern Tür und Tor; und wenn in China ein überraschender Wintereinbruch einen erheblichen Teil der Ernte vernichtet, schießen weltweit die Aktienkurse von Saatgutunternehmen in die Höhe, weil auf eine hohe Nachfrage spekuliert wird. Die Not der Menschen beflügelt die Profiterwartungen ... und umgekehrt. Der Kapitalismus gilt als überaus erfindungsreich bei der Bewältigung von Mangel, heißt es gemeinhin. Bei dieser Vorstellung wird unterschlagen, daß umgekehrt die Erzeugung von Mangel und dessen Aufrechterhaltung zugleich sein Treibstoff und Motor sind.

Ist der Mangel naturgegeben? Gewissermaßen ja, denn ohne Stoffwechsel zu betreiben, wird ein Mensch sterben. Doch wie er mit dieser als Naturzwang empfundenen Bedingtheit umgeht, ist nicht vorgegeben. Der Mensch hat sehr wohl die Wahl, ob er es präferiert, seine Produktivität in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung verwerten zu lassen, oder ob er an Mitteln und Wegen forscht, sich von jeglichen Zwängen zu befreien. Die technologische Entwicklung, zu der auch die Züchtung neuer Saatgutsorten durch die Agroindustrie gehört, hat den Menschen jedenfalls nicht von seinen Fesseln befreit. Vielmehr verstoffwechselt der Mensch seine Um- und Mitwelt und unterwirft seine Artgenossen, so daß sie in Not geraten und fremdnützige Arbeit leisten. All das, so scheint es, sind nicht die günstigsten Voraussetzungen, um den Hunger, ob als offene oder versteckte Variante, endgültig aus der Welt zu schaffen.

Sogar ohne die bestehende Wirtschaftsordnung grundsätzlich in Frage zu stellen, läßt sich sehr wohl eine andere Welt vorstellen, in der nicht ausgerechnet die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die doch den größten Teil der weltweit produzierten Nahrung erzeugen, diejenigen sind, unter denen Hunger und Mangelernährung am verbreitetsten sind. Die Nahrungsproduktion auf dem Land bildet die Basis der Wertschöpfungskette, ohne sie könnten viele Städte nicht existieren. Das schlägt sich jedoch nicht im Preis nieder, den die Bäuerinnen und Bauern für ihre Erzeugnisse oder, wenn sie sich in einem Angestelltenverhältnis befinden, als Lohn für den Einsatz ihrer Arbeitskraft erhalten.

Mit der Biofortifikation wird ein Agrarmodell präferiert, bei dem der Blick auf ein einzelnes Defizit gerichtet ist, was dann durch eine Einzelmaßnahme gelöst werden soll. Die Mangelernährung wird getrennt von Armut und der üblichen Geringschätzung landwirtschaftlicher Arbeit "behandelt". An den Lebensumständen der Betroffenen insgesamt hingegen ändert sich nichts. Wieder einmal werden den transnationalen Agrokonzernen neue Geschäftsfelder eröffnet, anstatt beispielsweise lokale landwirtschaftliche Strukturen zu stärken. Die vermeintliche Lösung des Problems der Mangelernährung wird von oben nach unten dirigiert und geht ausgerechnet von jenen Interessensgruppen aus, die seit jeher in einem hohen Ausmaß vom Mangel anderer profitiert haben. Auch der Millionenspende eines Bill Gates - z. B. für die Initiative Harvest Plus zur Biofortifikation von Saatgut - geht der Milliardenraub an Mehrwert voraus, den andere zuvor für ihn erwirtschaftet haben. Die Biofortifikation von Grundnahrungsmitteln vermag vielleicht die Mangelernährung einiger Menschen zu lindern, dennoch bleibt davon das Grundsatzproblem unberührt.

30. August 2019


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