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ATOM/331: Der Fleurus-Zwischenfall - Chronologie der Vertuschung (SB)


Schwerer Zwischenfall mit Jod-131 in Belgien

Regierung, Behörden und Betreiber verharmlosen fortgesetzt die Strahlengefahr für die Bevölkerung


Ob in den USA, Deutschland, Frankreich oder auch Belgien, in welchem Land auch immer mit radioaktiven Substanzen gearbeitet wird und es zu einem Unfall mit Freisetzung eines Strahlenstoffs kommt, stets wissen die Behörden im voraus, noch bevor sie Messungen durchgeführt haben, daß keine Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung besteht. So auch beim bislang jüngsten Zwischenfall, zu dem es im vergangenen Monat in einem Forschungslabor des kleinen belgischen Städtchens Fleurus, nördlich von Charleroi, gekommen war.

Eigentlich sollte die Bevölkerung nach dem Tschernobyl-GAU, der bekanntlich erst mehrere Tage später von der sowjetischen Administration zugegeben wurde und für das sie von westlichen Regierungen Kritik einstecken mußte, von ihren Behörden erwarten können, daß sie Störfälle mit Nuklearmaterial so schnell wie möglich mitteilt und sofortige Maßnahmen zum Schutz der Menschen ergreift. Doch was sich seit dem 22. August in Belgien ereignet hat, kann nur als Ausdruck der fortgesetzten Vertuschung bezeichnet werden.

Am Freitag (22.8.) kam es im Institut für Radioelemente (IRE - Institut des Radioéléments), in dem radioaktive Isotope für die Medizin und Industrie hergestellt werden, von Fleurus zu einem Leck mit Freisetzung des Strahlenstoffs Jod-131. Das wurde jedoch aus zwei Gründen zunächst nicht bemerkt. Zum einen wies ein Meßcomputer einen Defekt auf, so daß das Leck erst am Sonntagmorgen (24.8.) bemerkt wurde. Zum anderen hat ein Betriebstechniker die Meßergebnisse des in der Zwischenzeit wieder funktionierenden Computers falsch gelesen und erst am Montag (25.8.) Alarm geschlagen. Am Abend wurde auch die Atomaufsichtsbehörde FANC verständigt. Von Freitag bis Sonntag entwichen größere Mengen Jod-131 aus dem Institut.

Erst am Dienstag (26.8.) wurde auf Anordnung der FANC die Produktion in dem Institut eingestellt. Dann vergingen weitere zwei Tage, bis Messungen durchgeführt wurden und man die Bevölkerung über die Strahlengefahr informierte. Die Behörden verstrickten sich von Anfang an in Widersprüche und leugneten die Gefahr, noch bevor sie bekannt war. So maßen sie zwar am Donnerstag (28.8.) auf dem Rasen und anderen Stellen außerhalb des IRE erhöhte Werte des ausgetretenen Radioisotops, behaupteten aber am Freitag, daß die Kontamination unterhalb der zulässigen Grenzwerte liegt und zu keinem Zeitpunkt eine Gesundheitsgefahr bestanden habe.

Das war insofern nicht korrekt, als daß die Gefahr selbstverständlich niemand beurteilen konnte, solange er nicht gemessen hatte. Das bedeutet logischerweise, daß tagelang eine nicht abschätzbare Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung existierte, ohne daß die Menschen darüber aufgeklärt wurden oder ihnen die Chance gegeben wurde, sich in Sicherheit zu bringen. Oder zumindest lebenswichtige Schutzmaßnahmen zu ergreifen, beispielsweise vorsorglich Jodtabletten einzunehmen.

Auf der siebenstufigen INES-Skala zur Bewertung von Un- und Zwischenfällen mit radioaktivem Material wurde dem Ereignis die Stufe 3 zugeordnet. Demnach handelte es sich um einen "ernstzunehmenden Zwischenfall", aber noch nicht um einen Unfall, von dem erst ab Stufe 4 gesprochen wird.

Ungeachtet des Versuchs der Behörden, den Eindruck zu erwecken, der ganze Vorfall sei harmlos, warnten sie am Freitag die Einwohner im Umkreis von fünf Kilometern nordöstlich des Instituts davor, Blattgemüse oder Obst aus dem eigenen Garten zu essen und Regenwasser zu benutzen. Auch sollte der Konsum frischer Milchprodukte aus der Umgebung vermieden werden. Betroffen waren demnach das Zentrum von Fleurus und Teilgemeinden wie Keurniée, Wanfercée-Baulet und Lambusart. Und ungeachtet wiederum dieses Vorgangs behauptete die FANC, daß für im Freien spielende Kinder, Spaziergänger oder draußen arbeitende Menschen zu keinem Zeitpunkt eine Gesundheitsgefahr bestand.

Ein weiterer Widerspruch: Die Einnahme von Jod-Tabletten zum Schutz gegen eine Kontamination mit Jod-131 sei nicht erforderlich, hieß es seitens der Behörden. Gleichzeitig wurden Massentests zur Jod-Belastung der Schilddrüse durchgeführt. Insbesondere für Kinder und Schwangere bestand ein erhöhtes Gesundheitsrisiko, wenn sie Jod-131 aufgenommen hätten. Nach Angaben des belgischen Ministeriums für Volksgesundheit konnten sich die Einwohner von Lambusart von Montag (1.9.) bis Mittwoch (3.9.) auf radioaktive Strahlung untersuchen lassen. Eine entsprechende Informationsbroschüre sollte noch am Sonntag in den Briefkästen verteilt werden. Es bestehe keine Gesundheitsgefahr, wird den Menschen unermüdlich versichert. Die Analyse der Gras-, Milch-, Wasser- und Blattgemüseproben hat keine Konzentrationen oberhalb der Grenzwerte ergeben, dennoch sollten die Menschen in der Risikozone kein Obst und Gemüse aus eigenen Garten verzehren.

Inzwischen erklärt Energieminister Paul Magnette, daß sowohl das IRE als auch die Behörden Fehler begangen hätten. Mit diesem Eingeständnis des Versagens wird jedoch etwas Fundamentales verschleiert: Entweder wußten die Beteiligten im Institut und den Behörden nicht, daß es sich bei Jod-131 um einen hochgefährlichen, potentiell krebsauslösenden Strahlenstoff handelt. Wenn das zutrifft, dann sollte der Vorfall nicht nur persönliche Konsequenzen nach sich ziehen, sondern dann müßte auch gefragt werden, wie ein Institut oder eine Behörde zulassen konnte, daß Mitarbeiter derart unwissend geblieben sind.

Oder aber, und das scheint der naheliegendere Fall zu sein, sämtliche Beteiligten wußten sehr wohl, daß eine Strahlengefahr besteht, sie wollten es jedoch nach Möglichkeit so lange verschweigen, bis sich die Bekanntgabe partout nicht mehr vermeiden ließ. In diesem Fall also über eine Woche nach dem Zwischenfall und erst an dem Tag (29.8.), nachdem am Abend zuvor erhöhte Strahlenwerte auf dem Rasen des Institut registriert wurden.

Offenbar gaben eben diese Werte den Experten Anlaß zur Beunruhigung, so daß nach einem Krisentreffen die belgische Regierung das EU-Notfallsystem zum Informationsaustausch bei radioaktiven Vorfällen (ECURIE) verständigte. Erst in diesem Rahmen wurde das Schweigen gebrochen und die Bevölkerung über den Vorfall verständigt. Jetzt soll die tagelang getäuschte Bevölkerung glauben, daß für sie zu keinem Zeitpunkt eine Gesundheitsgefahr bestand und auch in nächster Zeit nicht bestehen wird? Jod-131 hat eine Halbwertszeit von 28 Tagen. Statistisch ist in dieser Zeit die Hälfte der Atome zerfallen (zu dem stabilen Xenon-131).

Wenn nun der belgische Energieminister Magnette von "menschlichen Fehlern" spricht, die begangen wurden, dann ist das noch die harmlose Umschreibung. Man könnte auch zugespitzt behaupten, daß der Fehler lediglich darin bestand, sich erwischen zu lassen. Das Eingeständnis eines Fehlers kann nämlich beglichen werden, indem der eine oder andere Funktionsträger entlassen wird. Würde der Minister jedoch zugeben, daß beim Fleurus-Zwischenfall das grundlegende administrative Interesse, solche Vorfälle unter den Tisch zu kehren, offenbart wurde, bestände die Gefahr, daß der angeblich kontrollierbare Umgang mit Strahlenstoff prinzipiell in Frage gestellt wird. Diesen Eindruck gilt es selbstverständlich aus der Sicht der Regierung zu vermeiden. Es soll alles so schnell wie möglich abgewickelt werden. Wenn ein paar Köpfe rollen, macht das gar nichts, solange niemand weitergehende Fragen stellt.

Am Sonntag (31.8.) wurde die Risikozone von fünf auf drei Kilometer im Nordosten der Anlage verkleinert. Damit soll der Bevölkerung signalisiert werden, daß man den Zwischenfall im Griff hat und die erforderlichen Maßnahmen zu ihrem Schutz ergreift. Dabei wird jedoch verschwiegen, welche Mengen Jod-131 aus dem Gebäude in die Umgebung gelangt sind. Die Meßergebnisse vom Rasen des Instituts oder aus der näheren Umgebung sind nicht verallgemeinerbar. Wie die Tschernobyl-Katastrophe gezeigt hat, konnte es an weit entfernten Orten zu viel stärkeren Kontaminationen kommen als in relativer Nähe zum havarierten Reaktor. Auch in diesem Fall ist denkbar, daß der Wind das entwichene radioaktive Gas zunächst weiter fortgetragen und nicht sogleich auf dem Institutsrasen abgelegt hat.

Jod-131 wird aus hochangereichertem Uran gewonnen und findet vor allem in der Medizin als Strahlenquelle Verwendung. Die Anlage in Fleurus produziert rund 75 Prozent des Weltbedarfs. Das Leck trat innerhalb des Produktionsprozesses auf, bei dem im Keller des Instituts eine radioaktive Flüssigkeit von 50-Liter-Tanks in 3000-Liter-Tanks zur weiteren Behandlung geleitet wird. In den Tanks entstehen Gase, die normalerweise weitgehend herausgefiltert werden, bevor sie über einen Entlüftungsschacht nach draußen gelangen.

Die Meßgeräte an diesem Schacht haben angezeigt, daß über das "normale" Maß hinaus schätzungsweise 45 Gigabecquerel (GBq) Jod-131 entwichen sind. Die theoretische Strahlendosis, die eine Person in der Nähe des Institut zusätzlich erhalten haben könnte, wird mit 0,16 Mikrosievert (mSv) angegeben, nachdem die Behörden zuvor einen Wert von 0,10 mSv vermutet hatten. Der allgemeine Grenzwert für Strahlenbelastungen liegt bei 1,0 mSv pro Jahr.

Jod besitzt die Eigenschaft, sich in der Schilddrüse abzusetzen, weshalb die tatsächliche Belastung für dieses Organ und nicht für den ganzen Körper berechnet werden müßte. Experten multiplizieren die effektive Dosis für den ganzen Körper mit dem Faktor 20, um die Strahlenbelastung für die Schilddrüse zu bestimmen. Dieser Rechnung zufolge muß man also einer Schilddrüsendosis von 3,2 mSv ausgehen, was dem Dreifachen der Jahresdosis entspricht. Für Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder gelten nochmals höhere Werte.

Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß aufgrund dieser Abschätzung der Vorfall harmlos ist, denn auch eine vermeintlich geringfügige Mehrbelastung bleibt, wie die Bezeichnung schon sagt, eine Mehr-Belastung. Übrigens war die EU-Kommission lange vor der Bevölkerung über den Zwischenfall informiert, obgleich sich doch keines der Kommissionsmitglieder in so großer Nähe zu dem Institut befunden hat wie die Bewohner der Region um Fleurus. Da sieht man, um wessen Wohlergehen sich die Behörden sorgen ... und um wessen offensichtlich nicht.

3. September 2008