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ATOM/407: Radioaktive Wolke über Europa - Könnte Akw-Revision Quelle von Jod-131 sein? (SB)


Meßstationen quer durch Europa registrieren leicht erhöhte Strahlenwerte

Für die Bevölkerung besteht angeblich keine Gesundheitsgefahr


In den letzten rund zwei Wochen haben Meßstationen in zahlreichen europäischen Ländern leicht erhöhte Werte des radioaktiven Isotops Jod-131 registriert, aber offiziell wurde die Quelle noch nicht ausfindig gemacht. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien weiß nicht, woher die Strahlenpartikel stammen, schließt aber den havarierten Kernkraftwerkskomplex Fukushima Daiichi als möglichen Ursprung der Isotope aus. [1] Die Radioaktivität sei so gering, daß keine Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung bestehe, beteuert die Organisation, die sich der Verbreitung der zivilen Nutzung der Atomenergie verschrieben hat und den Bau neuer Kernkraftwerke propagiert.

Neue Informationen seitens der Atomenergiebehörde sind bis Redaktionsschluß nicht veröffentlicht worden, auch wurden dort keine Einzelheiten über den weiteren Verlauf der Strahlenintensität bekanntgegeben. Warum nicht? Haben nicht die Bürgerinnen und Bürger ein Anrecht darauf zu erfahren, ob sie beispielsweise vorsorglich Jod-Tabletten an ihre Kinder verteilen sollen, oder ob die Strahlung derart gering ist, daß das nicht erforderlich ist, wie die Medien berichten? Müßte die Behörde nicht von sich aus bestrebt sein, die Bevölkerung auch dann zu informieren, wenn kein Jod-131 mehr gemessen wird, einfach um den weiteren Strahlenverlauf zu schildern? Schließlich könnte ja der Trend eine unliebsame Entwicklung hin zu einer gesundheitsschädigenden Strahlenbelastung nehmen.

Laut Reuters [2] hat das österreichische Umweltministerium Spuren von Jod-131 gemessen, die für die Bevölkerung ein 40.000stel der Strahlenbelastung eines Transatlantikflugs entspricht. [2] Auch Frankreich meldete diese Woche Jod-131 in einer Konzentration im Bereich von Mikrobecquerel, was als harmlos angesehen wird. [3] Als Strahlenquelle kämen unter anderem Medizinlabors in Krankenhäusern, Atom-Unterseeboote oder die Hersteller radiologischer Substanzen in Frage, so Reuters.

Tschechische Sicherheitsbehörden hatten die IAEA über die Verstrahlung, die seit Ende Oktober festgestellt werde, benachrichtigt. Die komme von außerhalb, aber nicht von einem Kernkraftwerk, sagte die Leiterin der tschechischen Atomsicherheitsbehörde, Dana Drabova, gegenüber Reuters. Auch das deutsche Bundesumweltministerium hat leicht erhöhte Jod-131-Werte im Norden Deutschlands registriert. Laut einer Sprecherin liegen die Werte "an der Grenze der Nachweisbarkeit". Die natürliche Hintergrundstrahlung sei etwa einhundert mal höher. [4] Solche Angaben sollen beruhigen, doch wird bei dem Vergleich unterschlagen, daß sich die Radioaktivität addiert. Mag die Jod-Belastung klein sein, sie verschwindet nicht innerhalb der natürlichen Hintergrundstrahlung, sondern setzt sich oben drauf.

Warum der Nuklearunfall von Fukushima nicht als Quelle der Strahlenpartikel in Frage kommt, wird in dem IAEA-Bericht nicht erklärt. An der kurzen Halbwertszeit von acht Tagen für Jod-131 einerseits und der großen Entfernung zwischen Japan und Deutschland und somit dem langen Transportweg andererseits kann es nicht liegen, hatte doch das Bundesamt für Strahlenforschung am 25. März, also zwei Wochen nach Beginn der Fukushima-Nuklearkatastrophe, an der Meßstation Schauinsland bei Freiburg den Nachweis geringer Konzentrationen an Xenon-133 und Jod-131 in der Atmosphäre - bei Jod waren es 60 Mikrobecquerel pro Kubikmeter Luft - registriert. [5]

Könnten nicht doch erneute Kettenreaktionen in Fukushima, über die die Presse Anfang November berichtete [6] Jod-131 freigesetzt haben? Wenn das zuträfe, bestünde allerdings eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß dieses radioaktive Isotop auch in Japan selbst oder beispielsweise in den USA registriert wurde. Darüber ist nichts bekannt.

Nuklearunfälle wie der am 19. Oktober im Karachi Nuclear Power Plant (KANUPP) sowie dem französischen Marcoule gelten nicht als Quelle, da in der pakistanischen Anlage offiziell kein jod-, sondern tritiumhaltiges Wasser und das auch nur innerhalb des Gebäudes ausgeflossen ist [7] und am 12. September bei der Explosion eines Verbrennungsofen für schwachradioaktive Abfälle in der südfranzösischen Atomanlage Marcoule keine Strahlung an die Umwelt gelangt sein soll. [8] Zu überprüfen wäre auch, ob das Jod-131 vom deutschen Akw Gundremmingen stammt. Das habe "zu Beginn der Jahresrevision im September sehr viel mehr radioaktive Edelgase abgegeben als im vorherigen Leistungsbetrieb", warnte die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW am 11. November. [9] Sie machte darauf aufmerksam, daß bei einer Revision mit Brennelementewechsel der Deckel des Reaktordruckgefäßes geöffnet werde: "Dabei entweichen neben radioaktivem Kohlenstoff weitere Radionuklide, wie Tritium, Jod-131, Cäsium-137 und radioaktive Edelgase."

Zwischen der Revision und den ersten Auffälligkeiten in Tschechien liegen mehrere Wochen. Wie gesagt, hat das Jod-131 eine Halbwertszeit von acht Tagen. Statistisch gesehen ist nach acht Tagen noch die Hälfte vorhanden, nach 16 Tagen noch ein Viertel, nach einem Monat etwa 1/16. Zu erwarten wäre also Ende Oktober ein geringe Radioaktivität mit Jod-131.

Wir haben es hier also mit einer geringfügigen Strahlung zu tun, die dennoch offiziellen Stellen eine Meldung wert ist. Die IAEA forscht weiter nach der Herkunft der Strahlung, versäumt es aber, die Öffentlichkeit mit Zwischenberichten zu versorgen. Oder wird die Radioaktivitätserhöhung als harmlos erachtet? Das wäre ein Irrtum, denn daß das Jod-131 an weit voneinander entfernt liegenden Orten innerhalb eines relativ engen Zeitraums registriert wurde, könnte ein Hinweis auf eine weit entfernte Quelle sein. Wenn wider Erwarten das Akw Fukushima Daiichi die Strahlenquelle ist, dann könnte zwar die Jod-Belastung in Europa harmlos sein, nicht aber der Ort ihrer Herkunft. Möglicherweise hat die dreifache Kernschmelze in dem Nuklearkomplex sogar aktuell noch weitreichendere Folgen, als offiziell bekanntgegeben wird. Überraschen würde das nicht, haben sich doch sowohl die Betreibergesellschaft Tepco als auch die japanische Regierung stets durch verharmlosende Berichte hervorgetan.

Die an sich für ihre Duldsamkeit bekannte japanische Bevölkerung ist darüber so aufgebracht, daß sie anfangen hat, Anti-Akw-Demonstrationen zu organisieren und Bürgerinitiativen [10] zu gründen, die auf eigene Faust Messungen durchführen und Daten zur Radioaktivitätsbelastungen durchführen. Über die vermeintlich unbedeutende Radioaktivität in ganz Europa wurde von den Mainstream-Medien ein, zwei Tage berichtet, dann nicht mehr. Das Thema wurde einmal durchgekaut und gilt wohl inzwischen als gegessen. Was immer die Quelle des Jod-Isotops war, das von der IPPNW angesprochene Öffnen der Reaktordruckbehälter, bei dem größere Mengen radioaktiver Gase entweichen, ist ein immer wiederkehrender Vorgang. Nach Ansicht der Experten würde dies die statistische Häufung von Kinderkrebs in der Nähe von Kernkraftwerken erklären. Vielleicht war die Aussage der IAEA, daß von dem Jod-131-Peak keine Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung ausgeht, voreilig.


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Fußnoten:

[1] "Low Levels of Iodine Detected in Europe", IAEA, Press Release 2011/24, 11. November 2011
http://www.iaea.org/newscenter/pressreleases/2011/prn201124.html

[2] "Low levels of radioactive particles in Europe: IAEA", Reuters, 11. November 2011
http://www.reuters.com/article/2011/11/11/us-nuclear-iodine-iaea-idUSTRE7AA4U020111111

[3] "Radiation Spreads to France", Washington´s Blog, in: Global Research, 15. November 2011
http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=27686

[4] "Jod-131-Messungen - Radioaktive Strahlung über Europa", Süddeutsche Zeitung, 11. November 2011
http://www.sueddeutsche.de/wissen/jod-messungen-radioaktive-strahlung-ueber-europa-1.1187120

[5] "Spuren Radioaktivität in Deutschland stellen keine gesundheitliche Gefährdung dar", Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), Pressemitteilung 003, 25. März 2011
http://www.bfs.de/de/bfs/presse/pr11/pm03.html

[6] "No uncontrolled reaction at Fukushima: operator", ScienceDaily/AFP, 3. November 2011
http://www.terradaily.com/reports/No_uncontrolled_reaction_at_Fukushima_operator_999.html

[7] "No KANUPP linkage to Radioactivity in Europe, PAEC clarifies", Associated Press of Pakistan (APP), 13. November 2011
http://ftpapp.app.com.pk/en_/index.php?option=com_content&task=view&id=164195&Itemid=38 12.09.2011

[8] "Ein Toter bei Explosion in französischer Atomanlage Marcoule", Spiegel Online, 12. September 2011
http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/0,1518,785765,00.html

[9] "Radioaktive Emissionsspitze zu Revisions-Beginn des Atomkraftwerks Gundremmingen", IPPNW-Presseinformation, 11. November 2011
http://www.ippnw.de/startseite/artikel/bee32d7d95/radioaktive-emissionsspitze-zu-revis.html

[10] INTERVIEW/003: Wataru Iwata, Mitglied der Bürgerinitiative CRMS in Fukushima (SB), 22. August 2011
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/redakt/urdi0003.html

16. November 2011