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ATOM/420: Sellafield wird stillgelegt - Super-GAU für britische Steuerzahler (SB)


Gesellschaftliche Kosten für Atomenergie steigen ins Unermeßliche



Das Public Accounts Committee (PAC), das britische Pendant zum Bundesrechnungshof, hat dem britischen Parlament einen Bericht vorgelegt, wonach die Aufräumarbeiten im Nuklearkomplex Sellafield im Nordwesten Englands 67,5 Milliarden Pfund (77,8 Mrd. Euro) verschlingen werden. Dabei handelt es sich nur um die bis jetzt absehbaren Maßnahmen. Weil niemand genau weiß, welche Mengen an radioaktivem Abfall in den zahlreichen Becken und Silos auf dem sechs Quadratkilometer großen Gelände lagern und von welcher Beschaffenheit das Strahlenmaterial ist, werden die Kosten für die Stillegung höher ausfallen. "Es gibt keine Hinweise darauf, ab wann die Kosten nicht mehr steigen werden", erklärte die Abgeordnete und PAC-Vorsitzende Margaret Hodge. Jahrzehntelang hätten es die Regierungen versäumt, dieses Problem zu lösen, kritisierte sie [1].

Laut der britischen Zeitung "Guardian" glauben die Sellafield-Betreiber zu wissen, daß sich auf dem Gelände 82 Tonnen Plutonium befinden [2]. Die FAZ spricht sogar von 112 Tonnen [3]. Plutonium ist eines der gefährlichsten Materialien, die es gibt. Es kommt in der Natur so gut wie nicht vor, sondern ist erst durch künstliche Kernspaltungsvorgänge in die Welt gelangt und gilt allein von seiner Wirkung als Schwermetall her als krebserregend. Um vieles gefährlicher ist seine Radioaktivität.

Im Nuklearkomplex Sellafield, der früher Windscale hieß, stehen unter anderem vier Atomreaktoren, drei Wiederaufbereitungsfabriken, eine Konditionierungsanlage zur Verglasung von Strahlenmüll, eine Anlage zur Produktion von MOX-Brennstäben, mehrere Kernenergielabore und diverse Abklingbecken und Silos, in denen radioaktives Material gelagert wird. Alles in allem besteht die Anlage aus etwa 1400 Gebäuden.

Ab dem Jahr 2015 soll der erste Strahlenmüll aus Sellafield weggeschafft und sicher gelagert werden. Der Bezirksrat der Grafschaft Cumbria, in der der Nuklearkomplex ansässig ist, hat sich gegen den Bau eines radioaktiven Endlagers vor Ort ausgesprochen. Nun weiß die britische Regierung nicht, wohin mit dem Strahlenmüll. John Clarke, leitender Manager der Atomaufsichtsbehörde Nuclear Decommissioning Authority (NDA), die im Jahr 2005 geschaffen wurde, um das britische Strahlenerbe zu verwalten, versucht angesichts solcher Meldungen noch das Positive zu sehen: Man habe das Problem schlicht zukünftigen Generationen aufgehalst und müsse heute damit zurechtkommen. Aber erstmals läge nun ein geeigneter Plan für die Stillegung von Sellafield vor, wird er von der BBC zitiert [4].

Jener Plan dürfte allerdings überholt sein. Hodge zufolge lagen im vergangenen Jahr 12 von 14 Projekten im Zusammenhang mit dem Rückbau des Nuklearkomplexes hinter dem Zeitplan zurück und fünf waren über ihr vorgesehenes Budget geraten. Die Steuerzahler werden die Rechnung begleichen müssen, sagte die Labourabgeordnete mit Verweis auf die Verträge, die zwischen der NDA und dem Sellafield-Betreiber sowie dessen Subunternehmen geschlossen wurden.

Wenig Anlaß für die Hoffnung, daß der finanzielle Super-GAU von Sellafield sich nicht noch zu einem Schwarzen Loch im britischen Haushalt auswächst, bot Hodges Aussage, wonach die Nuclear Decommissioning Authority zunächst einmal bestimmen müsse, wann sie hinsichtlich der Kosten "genügend sicher" sei, um das Risiko dem Privatsektor zu übertragen. Bislang machten die Steuerzahler dabei kein gutes Geschäft. Im vergangenen Jahr hätte das Konsortium Nuclear Management Partners 54 Millionen brit. Pfund (62,7 Mio. Euro) an Zuwendungen erhalten, obgleich nur zwei der vierzehn Projekte im Zeitplan gewesen seien.

Jenes Konsortium - URS (Vereinigte Staaten), Areva (Frankreich) und Amec (Vereinigtes Königreich) - war im November 2008 ins Boot geholt worden, damit es Sellafield Ltd. bei der Bewältigung der Aufgabe, den Nuklearkomplex zurückzubauen, unterstützt. Tatsächlich lassen sich die Kosten der Stillegung einer Nukleareinrichtung erst dann einigermaßen abschätzen, wenn man weiß, womit man es überhaupt zu tun hat. Der Stillegungsplan für Sellafield mag "glaubwürdiger" sein als frühere Pläne, schreibt hierzu die Nuclear Decommissioning Authority [5], aber er sei noch gar nicht ausreichend getestet worden. So müßten noch einige "Unsicherheiten" beispielsweise hinsichtlich der "Art des Abfalls" in den Becken und Silos beseitigt werden, was einen "potentiell signifikanten Einfluß auf Kosten und Zeitpläne" habe. Außerdem würde es nach den gegenwärtigen Plänen weitere 27 Jahre bis 2040 dauern, um ein geologisches Endlager zu entwickeln und zu bauen.

Abgesehen von den Stillegungskosten fließen jedes Jahr umgerechnet 1,8 Milliarden Euro Steuergelder in den Nuklearkomplex Sellafield. Dazu schreibt die NDA: "Diese größere Investition durch den Steuerzahler hat das Potential, der Region und dem Vereinigten Königreich erhebliche und nachhaltig wirtschaftliche Vorteile zu bringen." [5]

Dazu ein Gedankenspiel: Sellafield bietet etwa 9000 Personen einen bezahlten Arbeitsplatz. Würde die Regierung die 1,8 Mrd. Euro jährlich nicht an Sellafield Ltd. überweisen, sondern direkt an jene 9000 Personen, so erhielte jeder von ihnen 200.000 Euro im Jahr. Das ist zwar weniger als die 1,4 Millionen Euro, die der Posten eines der Sellafield-Direktoren verschlingt [6], aber es käme dabei ein durchschnittliches Monatseinkommen von immerhin gut 16.000 Euro heraus. Sicherlich würden die auf diese Weise vom Staat Begünstigten auch sehr viel Geld im Ausland ausgeben, weil sie sich dann Fernreisen leisten könnten, aber ebenso sicher darf man annehmen, daß sie Geld im Vereinigten Königreich und speziell in der Grafschaft Cumbria lassen. Das heißt, das strukturschwache Gebiet könnte eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit erleben, die nicht mehr enden würde. Weil die Betroffenen nicht arbeiten müßten, hätten sie Zeit, kreativ zu werden. Vielleicht würden einige ihre künstlerischen Ambitionen entdecken, andere würden die Infrastruktur verbessern und Heranwachsende erhielten genau die Ausbildung, die sie haben wollen

Bedauerlicherweise handelt es sich hier nur um ein Gedankenspiel. Aber ist nicht im Vergleich dazu die Subventionierung der Atomwirtschaft, die bezahlte Arbeitsplätze bereitstellt, ein sehr umständlicher, verlust- und schadensreicher Weg zur Verteilung von Steuereinnahmen?

Die Aufgabe des britischen Rechnungshofs besteht darin, der Regierung hinsichtlich ihrer Ausgabenpraxis auf die Finger zu klopfen. Die Stillegung Sellafields birgt eine weitere Dimension. Die Ausgaben müßten sogar noch höher angesetzt werden, wenn man die gesellschaftlichen Kosten berücksichtigte, die sich aus den Treibhausgasemissionen ergeben, die bei der Produktion von Atomstrom sowie den vor- und nachgelagerten Prozessen entstehen. Sellafield, das größte Industrieprojekt Englands, beweist, daß sich gerade das "Aufräumen" besonders aufwendig gestaltet. Um sich einen groben Eindruck davon zu verschaffen, was - abgesehen vom finanziellen Verlust - 77,8 Milliarden Euro Stillegungskosten außerdem für die Umwelt bedeuten, kann man diese Summe als Äquivalent für eine entsprechend große Menge an Treibhausgasemissionen ansehen, die bei den vielfältigen energieverbrauchenden Aktivitäten beim Rückbau und der Lagerung des radioaktiven Abfalls entstehen.

Beim Nuklearkomplex Sellafield hat man es demnach in mehrfacher Hinsicht mit einer industriellen Katastrophe größten Ausmaßes zu tun: Zum einen wegen der unmittelbaren Rückbaukosten, zum zweiten wegen der anteilsmäßigen Kosten, die bei der Bekämpfung der Folgen von Treibhausgasemissionen anfallen, und zum dritten wegen der gesundheitlichen Kosten infolge der radioaktiven Strahlung, die permanent und - so zumindest häufiger in der Vergangenheit geschehen - durch zu erwartende Unfälle freigesetzt werden.


Fußnoten:

[1] http://www.parliament.uk/business/committees/committees-a-z/commons-select/public-accounts-committee/news/nuclear- decommissioning-authority-managing-risk-at-sellafield/

[2] http://www.guardian.co.uk/business/2013/feb/04/sellafield-management-criticised-commons-committee

[3] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/sellafield-in-england-die-atomstadt-12038005.html

[4] http://www.bbc.co.uk/news/uk-england-cumbria-21298117

[5] http://www.publications.parliament.uk/pa/cm201213/cmselect/cmpubacc/746/74604.htm

[6] http://www.publications.parliament.uk/pa/cm201213/cmselect/cmpubacc/746/74606.htm

5. Februar 2013