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ATOM/433: Strahlenmüll - freigemessen, aber nicht harmlos (SB)


Akw-Rückbau in Deutschland - das dicke Ende kommt noch


Wenn in rund sechs Jahren hierzulande nicht die Lichter, wohl aber die letzten Atomkraftwerke ausgehen, hat die Bundesrepublik ein nicht geringzuschätzendes Problem mit dem Strahlenmüll. Für die hochradioaktiven Abfälle existiert kein Endlager und es wird voraussichtlich auch in Jahrzehnten noch keines geben - einmal davon abgesehen, daß der notwendige Einschluß des Strahlenmaterials über einen menschheitsgeschichtlich langen Zeitraum sowieso nicht sichergestellt werden kann.

Für die mittel- und schwachradioaktiven Abfälle existiert ebenfalls kein Endlager. Der dafür vorgesehene Schacht Konrad, so er jemals als Lager freigegeben wird, hat nicht die Füllkapazität, um sämtlichen dafür in Frage kommenden Strahlenmüll erstens aus den Atomkraftwerken und zweitens aus dem abgesoffenen atomaren Endlager Asse, aus dem über 100.000 Fässer mit Strahlenmaterial herausgeholt werden müssen, aufzunehmen.

Der größte Volumenanteil aus dem Rückbau von Atomkraftwerken entfällt auf Materialien, deren Strahlenbelastung unterhalb der Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung liegt und die auf herkömmlichen Deponien gelagert werden sollen. Das gilt auch für Schleswig-Holstein, das rund 35.000 Tonnen, verteilt über einen Zeitraum von 22 Jahren, deponieren wird. Es gehe dabei ausschließlich um Müll mit vernachlässigbarer Radioaktivität, sagte Landesumweltminister Robert Habeck (Grüne) vergangene Woche bei einem Gespräch mit Deponiebetreibern und Bürgermeistern, wie die "Welt" berichtete. [1] Habeck schlage eine möglichst gerechte Aufteilung dieses Mülls, der beispielsweise aus Bauschutt, asbesthaltigen Abfällen, Mineralwolle und Straßenaufbruch besteht, auf die in Frage kommenden sieben Deponien des nördlichsten Bundeslands vor.

Bei "möglichst gerechter Aufteilung" handelt es sich im Zusammenhang mit Strahlenmaterial um eine bemerkenswerte Formulierung, denn die Beteuerung des zuständigen Ministers impliziert, daß die Verteilung auch ungerecht aussehen könnte, man dies aber vermeiden wolle. Da stellt sich die Frage, was an der Verteilung von Material aus rückgebauten Atomkraftwerken ungerecht sein könnte, wenn es doch angeblich harmlos ist. Wenn die Radioaktivität "vernachlässigbar" wäre, warum sich dann über Gerechtigkeitsfragen den Kopf zerbrechen?

Die Antwort darauf ist simpel: Habeck und auch die Deponiebetreiber wissen ganz genau, daß das Material aus dem Akw-Rückbau, obgleich "freigemessen", also unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte liegend, deswegen nicht automatisch harmlos ist.

Es gibt inzwischen unter anderem epidemiologisch begründete Zweifel an der Vorstellung, daß eine radioaktive Belastung bis zu einer gewissen Höhe harmlos ist und erst ab dann seine schädliche Wirkung entfaltet. Ohne die Annahme eines solchen Grenzwerts dürfte es gar keine Atomenergie geben, da jede Form von Handhabung mit Strahlenmaterial das Erkrankungsrisiko erhöht.

Die Befürworter der Atomenergie bringen gern Argumente vor wie, daß die natürliche Strahlung höher ist als die des freigemessenen Materials, daß sich viele Menschen auch radiologischen medizinischen Untersuchungen aussetzen oder, sehr beliebt, daß sie beim Langstreckenflug über den Atlantik ebenfalls einer höheren Strahlung ausgesetzt sind. Diese Argumente treffen zu und doch voll daneben. Denn erstens ist die natürliche Strahlenbelastung, beispielsweise durch aus dem Gestein entweichendes radioaktives Gas Radon, nicht harmlos, zweitens erhöhen radiologische Diagnoseverfahren das Krebserkrankungsrisiko (warum sonst, wenn nicht zur Gefahrenminderung erhalten Patientinnen und Patienten beispielsweise Bleischürzen, wenn sie geröntgt werden?) und drittens weisen die Berufsgruppen der Piloten und Flugbegleiter eine signifikant höhere Krebsrate auf. Strahlung ist nicht gegeneinander aufrechenbar, sondern sie addiert sich. Jede weitere Quelle kommt auf die vorhandene Strahlenbelastung oben drauf.

Wenn also das freigemessene Material aus Atomkraftwerken auf sieben Deponien in Schleswig-Holstein "gerecht" verteilt werden soll, versucht damit ein grüner Landesminister für die Energiewende zu verschleiern, daß der Abfall keineswegs unbedenklich ist. Deshalb warnen Atomenergieexperten wie der Meteorologe Dr. Karsten Hinrichsen aus Brokdorf davor, daß der Akw-Rückbau in Deutschland sogar zu noch höheren Strahlenbelastungen führen könnte als der Betrieb der Anlagen. [2]


Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/regionales/hamburg/article155690868/Habeck-will-Abfall-aus-Akw-Abrissen-gerecht-verteilen.html

[2] Ein aktuelles Interview mit Dr. Karsten Hinrichsen finden Sie im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT
INTERVIEW/218: Brokdorf, Memorial und Mahnung - nicht nur Schönheitsfehler ... Dr. Karsten Hinrichsen im Gespräch (SB)

30. Mai 2016


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