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ATOM/443: Menschen, gekettet (SB)


Trinationale Symbolpolitik


Rund 50.000 Menschen haben am Sonntag eine 90 Kilometer lange Menschenkette vom Atomkraftwerk Tihange durch die belgische Stadt Lüttich zur niederländische Stadt Maastricht und von dort weiter zur deutschen Grenzstadt Aachen gebildet. Die Beteiligten protestierten damit gegen den Weiterbetrieb des belgischen Akw, in dessen Druckbehälter Tausende Risse entdeckt worden waren und das somit ein akutes Sicherheitsrisiko darstellt. Jeder Tag, an dem der Meiler in Betrieb ist, kann ein Tag zuviel sein.

Strahlenfreisetzungen durch havarierte Kernkraftwerke machen nicht vor nationalen Grenzen halt. Insofern wären die Menschen in Deutschland und den Niederlanden von einem GAU in einem belgischen Akw nicht weniger betroffen als die dortige Bevölkerung, zumal sie in der Hauptwindrichtung wohnen. Ein grenzüberschreitender Protest gegen das Akw Tihange und das ebenfalls marode belgische Akw Doel ist allemal legitim. Eigentlich sollten die Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 schon vor zwei Jahren abgeschaltet werden, doch aufgrund von störfallbedingten Ausfallzeiten erhielten sie Betriebsgenehmigungen bis mindestens 2022.

An medialer Aufmerksamkeit für die Menschenkette hat es nicht gemangelt, die Organisatoren haben ihr Etappenziel erreicht. Wie die belgische Politik darauf reagiert, steht auf einem anderen Blatt. Die Organisatoren, das sind neben lokalen, nationalen und internationalen Umweltschutz- bzw. Anti-Akw-Organisationen auch etwa 100 Städte und Gemeinden. Die Schirmherrschaft hatten, abgesehen vom belgischen Schauspieler Bouli Lanners, der Aachener Oberbürgermeister Marcel Philipp, der Präsident der Städteregion Aachen, Helmut Etschenberg (beide CDU), und die parteilose Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker übernommen. Der designierte nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat sich an die Bewegung angehängt, nahm nicht selbst an der Menschenkette teil, doch forderte er zur Teilnahme auf. Er erwarte, "dass auch der Bund stärker als bisher auf die belgische Regierung einwirkt und auf eine Stilllegung der Reaktoren dringt". [1]

Laschet ist stellvertretender Vorsitzender der Bundes-CDU und somit zugleich Absender und Adressat seiner eigenen Forderung. Der Mann spricht zu sich selbst. Seine NRW-CDU befürwortet den sofortigen Exportstopp von Brennelementen aus der Brennelementefabrik Lingen an die beiden belgischen AKW Tihange und Doel, doch den vollständigen Atomausstieg, wie ihn die Anti-Akw-Bewegung anstrebt, trägt sie nicht mit. Die Brennelementefabrik in Lingen (Niedersachsen) und die Urananreicherungsanlage in Gronau (NRW), denen maßgebliche Funktionen in der nationalen sowie internationalen Kernenergieinfrastruktur zukommt, bleiben auf absehbare Zeit in Betrieb.

Eine 90 Kilometer lange Menschenkette ist eine symbolische Handlung, die auffällt, und auch wenn Laschet nicht selber daran beteiligt war, hat er sich - symbolisch - gemeinsam mit den 50.000 an den Händen gehalten. Das muß für niemanden ein Problem sein, der einverstanden damit ist, daß sich ein Politiker aufs Trittbrett einer breiten Anti-Akw-Bewegung schwingt, sobald es opportun erscheint, da es gegen belgische Akw und nicht gegen die in NRW ansässige Urananreicherungsanlage Gronau geht; oder daß vor kurzem Armin Laschet und Christian Lindner (FDP) einen Koalitionsvertrag unterzeichnet und sich deutlich zum Abbau von Braunkohle zur Energiegewinnung ausgesprochen haben, während gleichzeitig den Erneuerbaren Energien ein Riegel vorgeschoben wird.

Wer dagegen nicht symbolisch mit Laschet Händchen halten, aber es sich dennoch nicht nehmen lassen will, gegen die Atomwirtschaft zu protestieren, steht womöglich vor der Frage, was genau es ist, das ihn an der Kernspaltung stört. Ist es allein die potentielle Verstrahlungsgefahr und damit das Risiko zu erkranken oder zu sterben? So ein Risiko besteht auch ohne Akws. Jeder Mensch kann jederzeit erkranken und sterben.

Ist nicht der Umstand, daß einige Menschen darüber entscheiden können, daß andere einem höheren Erkrankungs- und Sterberisiko ausgesetzt werden, ein wesentliches Motiv für die Ablehnung der Kernenergie? Wäre dann nicht konsequenterweise jede Form von Verfügungsgewalt, bei der Menschen über die Köpfe anderer Menschen hinweg und damit gegen deren vitale Interessen Entscheidungen treffen, zurückzuweisen?

Wie glaubwürdig sind Politiker, die mit der einen Hand gegen den Weiterbetrieb von Kernkraftwerken protestieren, während zugleich die andere den Braunkohleabbau als Brückentechnologie weiterbetreibt? Die Anti-Akw-Bewegung trug einmal einen starken gesellschaftskritischen Charakter; ihr Anliegen ging deutlich über den jeweiligen unmittelbaren Anlaß hinaus und schloß beispielsweise das Hinterfragen der vorherrschenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ein. Reißt der Bezug zu dieser Wurzel vollends, verkommt die Anti-Akw-Bewegung im Atomausstiegsdeutschland zum von der Regierung goutierten Ringelpiez mit Anfassen.


Fußnote:

[1] http://www.taz.de/!5420565/

26. Juni 2017


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