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KLIMA/255: Kohlenstoffneutral - eine Wunschvorstellung (SB)


Individualistischer Klimaschutz

In den USA und anderen Industriestaaten bemüht sich eine wachsende Zahl von Menschen um eine "kohlenstoffneutrale" Lebensführung



Angesichts des Klimawandels und einer sich allmählich entwickelnden Erderwärmung kommen viele Menschen auf die Idee, sie könnten zumindest in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld dafür Sorge tragen, daß alle Faktoren, die diesen Prozeß verstärken, eliminiert werden. Das betrifft an vorderster Stelle Einsparungen des als Treibhausgas wirksamen Kohlendioxids, das vor allem bei Verbrennungsvorgängen entsteht. Klimaforscher sind sich weitgehend einig darüber, daß der Anstieg der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre seit Beginn der Industriealisierung wesentlich zum Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur geführt hat. Wenn es nun gelänge, daß sich immer mehr Menschen dem Trend anschlössen und ihr Leben "kohlenstoffneutral" gestalteten, so die Vorstellung, würde sich in der Summe jedes noch so geringen Beitrags ein klimarelevanter Einfluß ergeben.

Mit dem Begriff "kohlenstoffneutral" werden Klimaschutzmaßnahmen, die ursprünglich zwischen Staaten vereinbart wurden, individualistisch abgehandelt. Zum Beispiel fahren die Menschen mit dem Rad statt mit dem Auto zum Supermarkt oder kaufen vermehrt einfache Nachfüllbeutel anstatt aufwendig herzustellende Hochglanzverpackungen; sie trennen ihren Müll oder schalten ihr Stand-by-Systeme im Haushalt aus, und vieles mehr. Dies ist nur die eine Seite auf dem Weg zur vermeintlichen Kohlenstoffneutralität. Bei all diesen Maßnahmen geht es darum, die Menge an produziertem Kohlenstoff zu reduzieren.

Ergänzend dazu kommen in jüngerer Zeit Projekte auf den Markt, in denen Einzelpersonen, bildlich gesprochen, "grüne Ablaßbriefe" erwerben. In der "Krombacher-Variante" wurde mit jedem Kasten Bier ein Stück Regenwald erworben und so vor dem Abholzen bewahrt. Andere Organisationen verkaufen den Regenwald, auch ohne daß jemand eigenes Bier dazu kaufen muß. Und auf der UN-Klimaschutzkonferenz im November in Nairobi stellte die Friedensnobelpreisträgerin 2004, Wangari Maathai, ihren Plan vor, wonach weltweit eine Milliarde Bäume gepflanzt werden sollten. Dadurch könnten der Atmosphäre rund 250 Millionen Tonnen Kohlendioxid entzogen werden, erklärte die kenianische Politikerin, die einen naturwissenschaftlichen Hintergrund hat.

In den Vereinigten Staaten von Amerika greift, an der industriefreundlichen republikanischen Regierung vorbei, eine Initiative Raum, bei der unter dem Motto der Kohlenstoffneutralität Schulklassen ihre Unterrichtsräume, Firmen ihre Produktionsstätten und Vereine ihre Treffpunkte nach Klimaschutzaspekten umgestalten. Der Kinofilm "The Unconvenient Truth" (Die unangenehme Wahrheit) des früheren US-amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore hat diese Entwicklung sicherlich beschleunigt.

Es ist unstrittig, daß viele Menschen mit viel Engagement versuchen, "etwas zu tun", und unter großem persönlichen Einsatz initiativ werden, damit sie und andere weniger Energie verbrauchen. Darum ist es um so bedauerlicher, daß die Regierungen den Klimaschutz für politische Zwecke instrumentalisieren und zu einem Werkzeug der Bezichtigung machen.

Ein Beispiel: Über Sinn und Zweck des individuellen Fahrzeugverkehrs kann man geteilter Meinung sein, doch wenn die Gesellschaft von dem Einzelnen schon ein so hohes Maß an Mobilität abverlangt, wie sie es heutzutage tut, dann gehört dazu eben auch die Verfügbarkeit eines Autos. Wer acht bis zehn Stunden arbeitet, will nicht noch täglich zwei, drei Stunden Anfahrtsweg haben. Doch in der hiesigen Gesellschaft nimmt die Zahl der Menschen ab, denen ein Auto zur Verfügung steht. Diese Entwicklung wurde in den letzten Jahren vor allem über die Benzinpreise gefördert, die sich die finanziell weniger gutgestellten Bevölkerungsschichten kaum noch oder gar nicht mehr leisten können - abgesehen von dem fahrbaren Untersatz an sich, dessen Anschaffungs- und sonstigen Unterhaltskosten das Budget des Hartz-IV-Empfängers und des noch nicht ganz so armen Prekariats übersteigen.

Der Staat hält selbstverständlich an noch viel mehr Stellen die Hand auf als nur beim Treibstoff. In allen Produkten, die unter Energieverbrauch hergestellt werden, sind die Kosten der Ökosteuer enthalten. Das bedeutet, daß die ärmeren Bevölkerungsschichten bei allen Tauschvorgängen, an denen Währung beteiligt ist, diskriminiert werden. Das ist gleichbedeutend damit, daß sie für etwas bestraft werden, für das sie bei ihrer Lebensführung mit dem vergleichsweise geringeren Verbrauch eigentlich weniger verantwortlich sind.

Die Ökosteuer dient hier nur als eines von vielen Beispielen sozialer Folgen des Umweltschutzes. Eine fundamentale und sehr viel weitreichendere Funktion der Individualisierung des Klimaschutzes besteht in der Ablenkung systemimmanenter Widersprüche. Es ist ausgeschlossen, daß das Einzelwesen einen Spagat zwischen angestrebter Kohlenstoffneutralität und gesellschaftlicher Leistungsanforderung schafft. Der Mensch existiert und setzt zwangsläufig Kohlendioxid frei - und der vergesellschaftete Mensch noch viel mehr.

Um davon wegzukommen, müßte die Systemfrage gestellt werden. Kann die moderne Warengesellschaft überhaupt kohlenstoffneutral werden? Oder müßten nicht die Produktionsverhältnisse so grundlegend verändert werden, daß weder Autos noch Straßen noch Flugzeuge, weder Supermärkte noch Atommeiler noch Rüstungsgüter, weder Handys noch Sendetürme noch Satelliten gebaut und gebraucht werden?

Selbstverständlich ist das völlig utopisch, und bis auf wenige Menschen, die, ähnlich wie der Unabomber und Mathematikprofessor Ted Kaczinsky, der sich in die Berge von Montana zurückgezogen hat, um der Glitzer-Glamour-Schein-und-Heiligkeitswelt zu entfliehen, einen primitiven, wenn nicht gar Primaten-Lebensstil zu pflegen, dürfte solch eine Vorstellung nichts als Ablehnung hervorrufen. Dennoch ist die Frage nach dem System, das der Gesellschaft zugrundeliegt, zulässig, da dem Individuum Anpassungsleistungen abgenötigt werden, deren Voraussetzungen gar nicht erst zur Disposition stehen. Der vereinzelte oder der vergesellschaftete Mensch - seltsamerweise ist damit das gleiche gemeint - hat sich weit davon entfernt, überhaupt die Bedingungen zu erkennen, die ihn zu dem Eindruck verleiten, er könne kohlenstoffneutral existieren.

12. Dezember 2006