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KLIMA/322: Das Meer steigt schneller als befürchtet (SB)


Neubewertung der Gletscherschmelze

Wissenschaftlerin verdreifacht den bislang prognostizierten Wert des Meeresspiegelanstiegs in diesem Jahrhundert


In den letzten Jahren ist es zu einer Reihe von Korrekturen wissenschaftlicher Prognosen im Zusammenhang mit dem Klimawandel gekommen, und zwar in der Regel in Richtung einer Verstärkung der negativen Folgen. Mal hieß es, daß die Meereisfläche in der Arktis stärker schrumpft als angenommen, mal wurde gemeldet, daß eine überraschende Beschleunigung der Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre registriert wurde, mal erklärten Wissenschaftler, daß der Schwellenwert, ab dem die Durchschnittstemperatur der Erde zu einem unaufhaltsamen Abschmelzen der Schnee- und Eisflächen führt, deutlich nähergerückt ist, mal wird festgestellt, daß die CO2-Aufnahmekapazität der Ozeane überschätzt wurde. Die jüngste Meldung aus dieser Reihe: Der Meeresspiegel steigt nicht um 18 bis 59 Zentimeter im Verlaufe dieses Jahrhunderts, wie vom UN-Klimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) angenommen, sondern um 80 bis 150 Zentimeter.

Zu dieser Einschätzung gelangte die in Großbritannien arbeitende Hydrologin Svetlana Jevrejeva. Sie hat sich seit vielen Jahren mit der Bestimmung des historischen Meeresspiegels befaßt und warnte auf der Jahrestagung der Europäischen Geowissenschaftlichen Union in dieser Woche in Wien, daß ihre Ergebnisse beispielsweise für Bangladesh bedeuteten, daß dort bis zum Jahr 2100 rund 90 Prozent des dicht besiedelten Lands überflutet sein werden.

Jevrejeva hat in ihrer Prognose die jüngsten Berichte über eine beschleunigte Gletscherschmelze in Grönland und der Antarktis berücksichtigt. Im vergangenen Jahr hatten Forscher eine Studie vorgestellt, derzufolge sich die Fließgeschwindigkeit der grönländischen Gletscher vermutlich deshalb erhöht, weil sie über einen aufgeweichten, matschigen Untergrund gleiten. Von der Gletscheroberseite würden größere Mengen Schmelzwasser durch Risse und Spalten bis zur Gletscherbasis vordringen und sie anlösen, hieß es.

Zudem haben Forscher in den letzten Jahren eine Zunahme seismischer Ereignisse im Eispanzer Grönlands registriert, was auf eine höhere Dynamik in seinem Innern schließen läßt. Irgend etwas geschieht dort unten. Sollte der teils mehrere Kilometer mächtige Eispanzer in Zukunft einen signifikanten Masseverlust verzeichnen, wäre mit einer tektonischen Hebung der gesamten Insel und im gleichen Zuge einem beschleunigten Gletscherverlust zu rechnen.

Der Meeresspiegel steigt nicht nur wegen der Zunahme an Schmelzwasser, sondern auch wegen der physikalischen Ausdehnung des Wasserkörpers im Zuge der globalen Erwärmung. Beide Faktoren zusammengenommen haben Jevrejeva zu ihrer neuen Einschätzung des bevorstehenden Meeresspiegelanstiegs geführt.

Sollte das Eis Grönlands schmelzen, stiege der Meeresspiegel weltweit voraussichtlich um sieben Meter. Bei einem kompletten Verlust des westantarktischen Eisschilds, an dem sich die Gletscher ebenfalls beschleunigt ins Meer ergießen, kämen voraussichtlich fünf Meter hinzu. Nun sind solche Rechnungen zwar recht plakativ, aber sie täuschen darüber hinweg, daß die Vorgänge zeitlich parallel verlaufen. Wenn sich das Eis Grönlands auflöst, bedeutet das, daß noch viele andere Eismassen auf der ganzen Welt verschwinden - sofern noch nicht geschehen. Die Hochgebirgsgletscher werden voraussichtlich lange vor dem grönländischen Eis geschmolzen sein.

Wissenschaftler haben schon im vergangenen Jahr berichtet, daß an der Schwelle zum 22. Jahrhundert zwei Drittel der Weltmetropolen vom Meeresspiegelanstieg direkt betroffen sind und daß in den gefährdeten Küstenregionen heute 634 Millionen Menschen leben. Es wird also eine Massenmigration einsetzen. Aber nicht erst gegen Ende des Jahrhunderts, sondern früher. Sogar sehr viel früher, denn die Hochgebirgsgletscher stellen für viele Millionen Menschen, vor allem in Asien und Südamerika, die wichtigste Trinkwasserquelle während der Trockenzeit dar. Gletscher bilden einen natürlichen Wasserspeicher. Ohne sie würde der Regen sofort von den Bergen abfließen, in Trockenzeiten gäbe es nichts zu trinken.

Somit bleibt festzustellen, daß die Meldung eines beschleunigten Anstiegs des Meeresspiegels, so dramatisch die Folgen auch sein werden, lediglich einen Ausschnitt der Gesamtentwicklung der klimatischen und geomorphologischen Prozesse darstellt. Es ist schwer vorstellbar, daß die Menschheit in der Lage sein wird, dieser Entwicklung ohne einen massiven Verlust an Menschenleben zu begegnen.

16. April 2008