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KLIMA/560: Neuberechnung - Untergang der Welt, wie wir sie kennen (SB)


Forscher rechnen mit Anstieg des Meeresspiegels um drei Meter im Laufe dieses Jahrhunderts


Die Hansestadt Hamburg sollte sich besser auf den Klimawandel vorbereiten, als davon zu träumen, 2024 die Olympischen Spiele ausrichten zu dürfen. Falls die jüngsten Berechnungen einer Gruppe internationaler Wissenschaftler zutreffen, dann wird der globale Meeresspiegel in den nächsten Jahrzehnten sehr viel schneller steigen als angenommen und milliardenschwere Anpassungsmaßnahmen erfordern. James Hansen, einst führender Klimawissenschaftler der US-Raumfahrtbehörde NASA, und 16 Co-Autoren kommen nach eingehendem Studium der Fachliteratur und eigenen Berechnungen zu dem Schluß, daß die Gletscher von Grönland und der Antarktis zehnmal so schnell schmelzen wie gedacht und daß das Meer bis Ende des Jahrhunderts um mehrere Meter steigen wird. [1]

Man könnte meinen, daß hier im Vorfeld der großen UN-Klimakonferenz im Dezember in Paris mal wieder Alarmismus betrieben wird, um die Politiker dazu zu bewegen, die bisher ziemlich harzig verlaufenden Verhandlungen in konkrete, weitreichende Klimaschutzresultate münden zu lassen. Zudem muß hinsichtlich der Studie erwähnt werden, daß sie nicht peer-reviewed, also von unabhängigen Wissenschaftlern begutachtet wurde. (Selbst wenn sie es wäre, bedeutete das nicht, sie kritiklos zu übernehmen.) Allerdings ist Hansen kein Unbekannter, und auch seine Mitstreiter sind Experten auf Gebieten wie der Eisforschung. 1988 hatte er vor dem US-Senat gesprochen und klargestellt, daß die globale Erwärmung stattfindet, daß sie menschengemacht ist und mit menschheitsgeschichtlich noch nie dagewesenen Katastrophen einhergehen wird.

2013 verließ Hansen die NASA, weil er "als Regierungsangestellter nicht gegen die Regierung aussagen kann". [2] Seine Behauptungen zur Klimabeeinflussung durch anthropogene Treibhausgasemissionen gelten inzwischen als gesichert. Hansen, der heute als außerordentlicher Professor am Earth Institute der Columbia University tätig ist, unterstützt zwar den Kampf von sogenannten Klimaaktivisten gegen Kohlekraftwerke, weil sie besonders viele Treibhausgase emittieren, aber er spricht sich ebenfalls vehement für den Einsatz der Atomenergie aus, weil diese angeblich klimafreundlich ist.

Auch andere Forscher haben schon Berechnungen zum Meeresspiegelanstieg durchgeführt. So kommt der Weltklimarat (IPCC) in seinem im vergangenen Jahr veröffentlichten Bericht zu dem Schluß, daß das Meer bis Ende des Jahrhunderts um rund einen Meter steigen könnte. Ein wichtiger Faktor, weswegen die aktuellen Berechnungen der Forschergruppe um Hansen einen so viel stärkeren Meeresspiegelanstieg ergeben, ist die Spekulation über eine Rückkopplungsschleife, bei der das kalte Schmelzwasser der Gletscher die Zirkulation von Meeresströmungen zum Erliegen bringt und dadurch das wärmere und salzigere Meerwasser unter das Schelfeis drückt. Dadurch würde der Schmelzprozeß beschleunigt, das heißt, es würde immer mehr Schmelzwasser ins Meer fließen und diesen Vorgang sogar noch verstärken. Wann dieser Rückkopplungsmechanismus voraussichtlich einsetzt, vermochten die Forscher nicht zu sagen, sie rechnen jedoch damit, daß es noch in diesem Jahrhundert passieren wird.

Das von der European Geosciences Union (EGU) herausgegebene Journal "Atmospheric Chemistry and Physics" hat die Besonderheit, daß es die Studien nicht dem üblichen formalen Peer-review-Prozeß unterzieht. Bislang existiert somit nur ein 66 Seiten umfassender Entwurf, zu dem verschiedene Forscher rund acht Wochen lang online Diskussionsbeiträge abgegeben haben. Dieses "Interactive Public Peer Review"-Verfahren [3] verkürzt den Zeitraum zwischen Erstellen und Veröffentlichen einer Studie. Die Forscher haben sich bewußt für dieses Vorgehen entschieden, damit ihre Ergebnisse noch vor dem UN-Klimagipfel in Paris veröffentlicht werden.

Die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit ist keine sichere "Leitplanke", sondern "hochgradig gefährlich", schreiben die Forscher. Sie beziehen sich unter anderem auf paläoklimatische Forschungsergebnisse zur Eem-Warmzeit vor rund 120.000 Jahren, als der Meeresspiegel um fünf bis neun Meter höher lag, die Erde aber nur ein Grad wärmer war als heute! Die als Verhandlungsvorbereitung für den Pariser Gipfel bislang von den Regierungen vorgelegten Maßnahmen, mit denen sie gedenken, die globale Erwärmung zu bremsen, werden das "2-Grad-Ziel" überschreiten.

Welche Konsequenzen könnte die Studie haben? Theoretisch ist es natürlich denkbar, daß die in Paris versammelten politischen Entscheidungsträger ihre bisher bei den Verhandlungen dominierenden Vorteilserwägungen fallen lassen, sich von der Wachstumsidee als ideologischem Hintergrund des Klimawandels befreien und einen Klimavertrag verabschieden, bei dem sogar das unter anderem von den flachen Inselstaaten geforderte 1,5-Grad-Ziel umgesetzt wird. Danach sieht es jedoch ganz und gar nicht aus. Die gegenwärtigen anthropogenen CO2-Emissionen lassen einen Temperaturanstieg um vier Grad bis Ende des Jahrhunderts erwarten.

Sollte sich abzeichnen, daß das von der Forschergruppe angenommene Rückkopplungsszenario mit den geschilderten Auswirkungen eintritt, erginge höchstwahrscheinlich seitens der Gesellschaft die Frage an die Wissenschaft, ob nicht - selbstverständlich unter Wahrung der vorherrschenden Wachstums- und Profitinteressen - schnellere und wirksamere Maßnahmen ergriffen werden könnten, der Erwärmung Einhalt zu gebieten. Und die Antwort könnte lauten: Ja, sie gibt es, aber sie sind mit unkalkulierbaren Nebenwirkungen verbunden.

Die Rede ist vom Geoengineering, auch Climate Engineering genannt. Theoretisch könnte damit innerhalb weniger Jahre signifikant auf das Erdklima Einfluß genommen werden. Zwar heißt es in der kürzlich in Berlin vorgestellten Studie EuTRACE (European Transdisciplinary Assessment of Climate Engineering, z. Dt.: europäische transdisziplinäre Bewertung von Climate Engineering), daß es bislang unklar ist, ob eine der vorgeschlagenen Techniken des Climate Engineerings überhaupt so weit entwickelbar ist, daß daraus ein wirksames Instrument der Klimabeeinflussung entsteht, aber die Studienautorinnen und -autoren unter anderem vom IASS (Institute for Advanced Sustainability Studies) in Potsdam empfehlen, das Potential der Climate-Engineering-Technik weiter zu erforschen, ohne daß deswegen die aus ihrer Sicht dringend gebotenen Maßnahmen zur Verminderung von CO2-Emissionen vernachlässigt werden dürften. [4] Offenbar will man für den Fall, daß "Plan B" notwendig wird, gerüstet sein.

Ein prinzipielles Problem bei Versuchen der gezielten Klimabeeinflussung besteht darin, daß unerwünschte Effekte eintreten können, die sich erst nach einigen Jahren abzeichnen, aber dann unumkehrbar sind. Ähnlich wie bei dem sich selbst verstärkenden Rückkopplungsmechanismus von Schmelzwasser und Gletscherschmelze könnte der Mensch durch seine Manipulationsversuche Kräfte freisetzen, die er so wenig zu kontrollieren vermag wie Goethes Zauberlehrling den Besen.

Der Anstieg des Meeresspiegels aufgrund vermehrter Treibhausgasemissionen seit Beginn der Industrialisierung ist bereits eine Folge dessen, daß der Mensch Geister rief, die er nun nicht mehr loswird. Bei einem Anstieg des Meeresspiegels um 30 Zentimeter werden die Küsten im globalen Durchschnitt um mindestens 30 Meter landeinwärts überspült. Steigt das Meer um drei Meter, müssen Städte wie Hamburg, Bremen, New York, Amsterdam, Schanghai, Hongkong, Jakarta, Dhaka und viele mehr sehr weit ins Landesinnere verlegt werden. Das ist nur eine der zahlreichen katastrophalen Folgen des Klimawandels, doch schon allein das birgt ein Konfliktpotential, gegenüber dem die heutigen bewaffneten Auseinandersetzungen und Fluchtbewegungen zusammengenommen so harmlos sind wie der Brand einer Kerze gegenüber dem nuklearen Feuer.


Fußnoten:

[1] http://www.atmos-chem-phys-discuss.net/15/20059/2015/acpd-15-20059-2015.pdf

[2] http://www.slate.com/blogs/the_slatest/2015/07/20/sea_level_study_james_hansen_issues_dire_climate_warning.html

[3] http://www.atmospheric-chemistry-and-physics.net/peer_review/interactive_review_process.html

[4] http://www.iass-potsdam.de/sites/default/files/files/rz_150715_eutrace_digital_0.pdf

23. Juli 2015


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