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KLIMA/598: Flaschenluft für feinstaubgeplagte Städter (SB)


Urbane Atemnot - ein Geschäftsmodell mit Zukunft


Luft zum Atmen ist eine Ware. Sie ist handelbar und wird auch in Flaschen auf dem Markt angeboten. So wie die Verseuchung von Flüssen und Seen mit industriellen Schadstoffen den Verkauf von Mineralwasser immer attraktiver gemacht hat, hat auch die zunehmende Luftverschmutzung in vielen Städten eine Nachfrage nach Luft in Flaschen geschaffen. Wie die "New York Times" berichtete, gibt es inzwischen schon Unternehmen in Ländern wie Kanada, Australien und dem Vereinigten Königreich, die abgefüllte "frische Luft" verkaufen. [1]


Dicke schwarze Rauchwolke verläßt Auspuff eines fahrenden Lkw - Foto: Zakysant, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en] via Wikimedia Commons

Diesel-Lkw auf südafrikanischer Autobahn, 27. Januar 2005
Foto: Zakysant, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en] via Wikimedia Commons

Wo früher künstlicher Tannennadelduft aus der Sprühflasche, dem man seine Chemieküchenherkunft "angerochen" hat, genügte, um unliebsame organische Gerüche im WC (oder manchmal auch Wohnzimmer) zu "beseitigen", das heißt zu überstinken, wird die Luft aus Flaschen direkt mittels eines Atemaufsatzes in den Mund gepustet, so daß nicht so viel des kostbaren Gases aus der "unberührten Natur" verloren geht.

Das australische Unternehmen green and clean beispielsweise bietet ein Six-pack mit sechs Flaschen "reine tasmanische Luft", "Luft vom Goldstrand" oder auch von den mit Eukalyptusbäumen bedeckten "Blue Mountains" inklusive Atemaufsatz für 46,15 austr. Dollar, umgerechnet 31,95 Euro, an. Und das ist fast geschenkt gegenüber einem Weckglas voll Luft der Note "Wales", das das Unternehmen Aethaer für 80 brit. Pfund (umgerechnet 90 Euro) verkauft.

Letzteres wird zwar eher als Gag oder Geschenk präsentiert, das man mitbringt, wenn man beispielsweise zu einer Party ins Londoner Szeneviertel Notting Hill eingeladen wird und der oder die Gastgeber schon alles haben (beispielsweise die Duftnoten "Wiltshire", "Somerset", "Dorset" ...), aber es deutet dennoch auf einen Trend: Der Mangel an Luft wächst. Nur wo Menschen Mangel erleiden, lassen sich Geschäfte machen. Für jedermann jeder Zeit frei verfügbare Dinge dagegen entziehen sich sowohl dem geldwerten Handel als auch anderen Tauschformen. Daher gebietet es die konkurrenzbestimmte ökonomische Ratio, Mangel herbeizuführen und ihn auf gar keinen Fall zu beseitigen. So etwas würde nur das Geschäft verderben.

Also wird die sprichwörtliche Atemnot vieler Menschen mehr und mehr zur Profitmaschine. Die Aussichten auf zukünftige Gewinne könnten nicht besser sein. So warnte die Weltgesundheitsorganisation WHO, im Jahr 2012 sei jeder achte Mensch - insgesamt 7 Mio. Einwohner - an den Folgen von Luftverschmutzung gestorben. [2] Erst vor wenigen Tagen hat Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, berichtet, daß jedes Jahr weltweit fast 600.000 Kinder unter fünf Jahren aufgrund schlechter Luft sterben. [3]

In Ländern wie China, Indien und Indonesien mit ihrer wachsenden urbanen Bevölkerung, die ihren Strom-, Wärme- und Transportbedarf nach wie vor mittels fossiler Energieträger deckt, herrscht schon heute teils extreme Atemnot. Menschen mit Atemschutzmasken in unterschiedlichsten Ausführungen bestimmen vielerorts das Stadtbild, und in den Großstädten geht öfters die Sonne an einem Horizont unter, der vom dichten Smog gebildet wird, nicht aber wie normalerweise durch die Erdkrümmung.

In solchen Gebieten ist Luft aus Flaschen ein Versprechen auf Entkommen. Für die, die es sich leisten können. "Durch die Luft fühlen sich meine Lungen rein an", zitiert die New York Times den 37jährigen Pan Li, der für ein Start-up-Technologieunternehmen in Peking arbeitet und sich rund sechs Flaschen reine Luft im Monat "reinzischt". Vielleicht sei das ja nur Einbildung, aber er wolle alles ausprobieren.

Vielleicht ist die Luft aus der Flasche nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Doch andere Menschen können sich nicht einmal so einen Tropfen leisten. Beispielsweise die meisten Menschen in Afrika nicht. Eine neue Studie der OECD [4] kommt zu dem Ergebnis, daß in Afrika jedes Jahr mehr Menschen durch schmutzige Luft außerhalb geschlossener Räume (712.000) sterben als durch schmutziges Wasser (542.000), mangelnde sanitäre Einrichtungen (391.000) oder Mangelernährung (275.000). Demnach hat im Zeitraum von 1990 bis 2013 die Luftverschmutzung außerhalb geschlossener Räume kontinentweit um 36 Prozent zugenommen. Als besonders stark belastet gelten die Länder Ägypten, Südafrika, Äthiopien und Nigeria. Quellen des Feinstaubs sind unter anderem die vielen, zumeist alten Autos, bei denen nicht selten der Katalysator abgebaut wurde, und andere motorisierte Fahrzeuge, offenes Feuer der Haushalte, das Verbrennen von Müll sowie Raffinerien und andere Fabriken, heißt es.

Nicht erwähnt wird in der Studie, daß Rohstoffhändler beispielsweise aus dem OECD-Land Schweiz stark schwefelhaltiges Benzin und ebenso schmutzigen Diesel, der in Europa niemals die Zulassung erhielte, nach Afrika liefern. Das wies die Nichtregierungsorganisation (NGO) Public Eye (ehemals: Erklärung von Bern) in einer umfangreichen Studie nach, die im September veröffentlicht wurde. [5]

Hauptverantwortlich für den schmutzigen Dieselexport sind, so die Public-Eye-Untersuchung, abgesehen von einigen kleineren Firmen die Unternehmen Vitol und Trafigura. Letzteres hatte 2006 illegal Hunderte Tonnen Giftschlamm im Hafen von Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste, verteilt. Zehn Menschen starben, Zehntausende mußten wegen Vergiftungserscheinungen im Krankenhaus behandelt werden. Der Übergang zwischen krimineller Energie und kapitalistischen Wirtschaftens ist fließend.

Die reine Luft aus der Flasche symbolisiert den unvereinbaren Widerspruch zwischen den wenigen Menschen, die sich gute Luft leisten können, und den vielen, die der Luftverschmutzung ausgesetzt sind. Internationale Abkommen wie das Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht, das Kyoto-Protokoll, das Klimaabkommen von Paris, das Genfer Luftreinhalteabkommen, etc., in denen wahlweise von "die Menschheit", "wir", "globales Problem" oder "die Erde" die Rede ist, versuchen mit solchen Begriffen diesen Widerspruch zu verdecken.


Zwei Fotos nebeneinander aus dem gleichen Winkel aufgenommen, vermutlich von einem Balkon aus auf die Stadt - Foto: Bobak, freigegeben als CC-BY-SA-2.5 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/deed.en] via Wikimedia Commons

Peking im August 2005: Linkes Foto: Klare Luft nach zwei Tagen Regen. Rechtes Foto: Eigentlich ein sonniger Tag, aber aufgrund des Smogs sieht man die Sonne nicht.
Foto: Bobak, freigegeben als CC-BY-SA-2.5 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/deed.en] via Wikimedia Commons


Fußnoten:


[1] "Selling Air (a.k.a. the Idea They Thought of Next)", JAVIER C. HERNANDEZ und EMILY FENG, 1. November 2016, New York Times.

[2] http://www.who.int/mediacentre/news/releases/2014/air-pollution/en/

[3] http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2016-10/umweltverschmutzung-luft-kinder-smog-folgen

[4] OECD - Organisation for Economic Co-operation and Development, z. Dt.: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung tinyurl.com/jj3dxx5

[5] https://www.publiceye.ch/fileadmin/files/documents/Rohstoffe/DirtyDiesel/PublicEye2016_DirtyDiesel_A-Public-Eye-Investigation.pdf


4. November 2016


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