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KLIMA/751: Grönland - trocken, warm und wolkenarm ... (SB)



Im vergangenen Jahr haben die grönländischen Gletscher 600 Milliarden Tonnen Masse verloren. Und zwar netto, das heißt, der jährliche Zugewinn an Eis durch Niederschläge ist in dieser Zahl bereits berücksichtigt. Das in Folge des Massenverlusts entstandene Schmelzwasser hat den globalen Meeresspiegel um 1,5 Millimeter angehoben.

Der Eisschild, der 2,6 Millionen Kubikkilometer Wasser enthält, weist in zentralen Gebieten eine Mächtigkeit von mehr als drei Kilometern auf. In den Sommermonaten bilden sich auf dem Eis manchmal riesige Schmelzwasserseen, die ins Meer abfließen. Vorwiegend im Winter dagegen sorgt der Schneefall für einen Zugewinn an Masse. Normalerweise. 2019 hat es jedoch kaum geschneit, wie eine Forschergruppe um Marco Tedesco vom Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia Universität im Journal "The Cryosphere" der European Geosciences Union berichtet. [1]

Verglichen mit dem Durchschnitt der Jahre 1980 bis 1999 fielen 100 Milliarden Tonnen weniger Schnee. Auslöser war eine Großwetterlage, die durch eine sogenannte Blockade erzeugt wurde. In so einem Fall wird der Jetstream, jene mächtige und kräftige Windströmung in rund 1500 Meter Höhe, die sich um die Erde schlängelt und für einen Wechsel zwischen Hoch- und Tiefdruckgebieten sorgt, blockiert. Unter Hochdruckeinfluß erlebte Südgrönland über längere Zeit einen nahezu wolkenfreien Himmel. Dadurch nahm die Sonneneinstrahlung zu, was die Gletscher stärker schmelzen ließ, und zugleich blieben die feuchten Luftmassen aus. Solche atmosphärischen Bedingungen treten seit einigen Jahrzehnten immer öfter auf, sagte Tedesco.

Den größeren Rahmen zu den vermehrten Blockaden des Jetstreams bildet die globale Erwärmung. In den letzten drei Jahrzehnten ist die Meereisfläche in der Arktis um rund ein Drittel geschrumpft. Der Verlust an Meereis bedeutet, daß die Albedo (Rückstrahlung) der Arktis insgesamt abgenommen hat. Denn die vom Meereis befreiten dunkleren Flächen des Nordpolarmeeres haben mehr Wärme absorbiert, da weniger Sonnenlicht reflektiert wurde.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich die Arktis um zwei Grad Celsius erwärmt. Also hat das Temperaturgefälle zwischen den nördlichen und den mittleren Breiten abgenommen. Der Jetstream bildete stärkere Bögen aus, die öfter stabil blieben, weil die Dynamik des Warm-Kalt-Gegensatzes abgenommen hat.

Der Weltklimarat (IPCC) hat in seinen Simulationen bislang den Einfluß solcher Hochdrucksysteme auf das Verhalten des grönländischen Eisschilds durch den Klimawandel noch nicht aufgenommen. Gegenüber AFP sagte Co-Autor Xavier Fettweis vom Klimatologischen Labor im belgischen Liege, daß man wahrscheinlich die zukünftige Gletscherschmelze um den Faktor zwei unterschätzt hat. [2]

Im Verlauf der globalen Erwärmung nehmen solche stabilen Hochdruckwetterlagen nicht nur vor Grönland zu. Noch gut in Erinnerung ist der extrem trockene und heiße Sommer 2018 in Europa, der der Landwirtschaft schwer zugesetzt hat. Auch die Dürre ging auf solch eine Großwetterlage zurück.

2019 verzeichnete Grönland einen noch höheren Gletscherabtrag als das bisherige Rekordjahr 2012, obwohl im vergangenen Jahr die durchschnittliche Lufttemperatur wesentlich niedriger lag. Sollte einmal beides zusammenkommen, hohe Temperaturen und eine stabile Hochdrucklage, würde Grönland näher an einen Schwellenwert heranrücken, der Kippunkt genannt wird. Schrumpft der Eisschild aufgrund der globalen Erwärmung, gerät dessen Oberfläche zunehmend in wärmere Luftströmungen und schmilzt um so schneller ab. Der Prozeß würde voraussichtlich Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende anhalten. Bei einem kompletten Eisverlust stiege der Meeresspiegel weltweit um sieben Meter an.

Die wissenschaftlichen Publikationen zum Kippunkt des grönländischen Eispanzers liefern zwar kein geschlossenes Bild, doch weitgehend einig ist man sich darin, daß die Schwelle, an der das Eis unaufhaltsam zu schmelzen beginnt, bei einer globalen Erwärmung von 2 Grad Celsius gegenüber vorindustrieller Zeit erreicht sein wird, vielleicht etwas eher, vielleicht etwas später. In der Zeit vor Beginn der Pandemie von Sars-CoV-2 lief der Trend der menschengemachten Treibhausgasemissionen jedoch auf eine Welt hinaus, die 3,5 bis 4 Grad C wärmer werden würde.

Vor zwei Jahren berichtete eine Forschergruppe um Hauptautor Michael Bevis von der School of Earth Sciences der Ohio State University im Journal PNAS, daß während des zurückliegenden Jahrzehnts der jährliche Eisverlust bis zu viermal so hoch war wie 2003. [3] Als Spitzenwert an Massenverlust gaben die Forscher 400 Milliarden Tonnen an. Darauf gestützt vermuteten sie, daß der Kippunkt vielleicht schon früher als bei einer globalen Erwärmung um 2 Grad C eintreten könnte. Sie ahnten nicht, daß der Eisschild im Jahr darauf sogar um 600 Mrd. Tonnen schrumpfen würde. Obgleich es sich um eine vergleichsweise junge Studie handelt, die Daten aus diesem Jahrhundert ausgewertet hat, dauerte es demnach nur ein Jahr, bis sie schon von der nächsten Meldung übertroffen wurde. Ob daraus ein Trend wird, kann nur die Zukunft zeigen, aber es wäre sicherlich besser, sich darauf einzustellen oder eben die Klimaentwicklung entschlossen zum Halten bringen.

Den Klimawandel zu leugnen und ihn als Erfindung der Chinesen zu bezeichnen, obschon die Erdsysteme, wie das Beispiel Grönland zeigt, bereits auf Alarmstufe rot geschaltet haben, ist nicht weniger unvernünftig, als wollte man versuchen, das eigene Totalversagen bei der Bekämpfung der Coronaviruspandemie auf China abzuwälzen.


Fußnoten:

[1] https://www.the-cryosphere.net/14/1209/2020/tc-14-1209-2020.pdf

[2] https://phys.org/news/2020-04-alarms-greenland-ice-loss-sea.html

[3] https://www.pnas.org/content/116/6/1934

24. April 2020


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