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KLIMA/762: USA - alter Wein ... (SB)



Wer würde schon freiwillig in ein Flugzeug steigen, das mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent abstürzt? Man würde wohl alles tun, um einen solchen Flug zu vermeiden. Doch kein geringeres existentielles Risiko eines beträchtlichen Teils der Menschheit gehen zur Zeit die meisten Regierungen ein, indem sie nicht alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um den Klimawandel zu stoppen. Die globale Erwärmung - eine zentrale Kenngröße für klimatische Veränderungen - bewegt sich auf einen Temperaturanstieg von drei bis vier Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu. Vor rund 200 Jahren hatte die Menschheit viel weniger klimarelevante Gase wie Kohlenstoffdioxid, Methan und Lachgas produziert als heute.

Der Zusammenhang zwischen den menschenverursachten Emissionen und der globalen Erwärmung wurde in den Vereinigten Staaten während der Präsidentschaft Donald Trumps in den letzten vier Jahren nicht anerkannt. Die gesetzgeberischen Maßnahmen folgten dieser Einstellung mit unerschütterlicher Konsequenz. Wie mit einer Planierraupe waren Trump und alle, die er um sich geschart hatte, durch sämtliche Klima- und Umweltschutzbestimmungen gefahren und hatten sie bis auf einen kargen Rest zerstört.

Auch wenn der vor kurzem vereidigte US-Präsident Joe Biden vom ersten Tag seiner Amtszeit an einiges davon wieder aufgerichtet und Klimaschutz zu einem seiner wichtigsten Anliegen erklärt hat, wird er den Teufel tun und den gesellschaftlichen Grundwiderspruch aufs Tablett heben, indem er die Eigentumsfrage aufwirft. Dafür ist er nicht angetreten, dafür steht die Demokratische Partei explizit nicht. Joe Biden war von seiner Partei nicht zuletzt deshalb als Präsidentschaftskandidat ins Rennen geschickt worden, weil er genau nicht den Entwurf des Green New Deal aus der Feder unter anderem seiner Parteikollegin Alexandria Ocasio-Cortez gutgeheißen hat. Darin wurde zwar die Eigentumsfrage ebenfalls nicht gestellt - die Produktionsmittel sollten weiterhin in privater Hand bleiben und Lohnarbeit sollte verrichtet werden -, aber er enthielt einen Hauch sozialistischer Vorstellungen. Das aber ist ein rotes Tuch für alle, die mit Zähnen und Klauen ihre Freiheit, zu Lasten anderer leben zu dürfen, verteidigen. Und der US-Kongreß ist ein Club der Millionäre und Milliardäre, die eine Menge zu verteidigen haben ...

Wenn heute vom Green New Deal der US-Regierung die Rede ist, spricht man von einer verwässerten, vor allem in Hinsicht auf den sowieso schon spärlich entwickelten Ansatz einer gesellschaftlichen Umverteilung von oben nach unten entschärften, mithin industriefreundlichen Version. Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris setzen beispielsweise auf den Bau neuer, kleinmaßstäblicher Atomkraftwerke, da diese angeblich keine Treibhausgase emittieren. Bei dieser Behauptung wird, abgesehen von Sicherheitsaspekten, auch der hohe Ressourcenverbrauch in der Vor- und Nachkette der Akws ignoriert.

Ebenfalls nur mit einem energieaufwendigen Abbau von Unmengen an Rohstoffen ist die geplante Umrüstung des Individualverkehrs von benzin- und diesel- auf elektrisch betriebene Autos verbunden. Die benötigen so viel Strom, daß schon allein deswegen mit einer Renaissance der Atomenergie zu rechnen ist. Die US-amerikanische Autoindustrie soll die Nummer eins in der Welt werden. "Buy American" (Kauft amerikanisch) wird den Menschen per Anordnung des Präsidenten (Executive Order) Biden auferlegt. Eine Million Arbeitsplätze sollen in der Autoindustrie geschaffen und 650.000 Regierungsautos durch heimische Elektroautos ersetzt werden.

Mehr als 100 umweltrelevante Maßnahmen hat der am 20. Januar vereidigte Biden binnen weniger Tage ergriffen, um die destruktive Umweltpolitik seines Vorgängers rückgängig zu machen, darunter dessen Ausstieg aus dem Klimaschutzübereinkommen von Paris. Der Weiterbau der umstrittenen Pipeline Keystone XL wurde ebenso gestoppt wie die Erlaubnis zur Förderung von Erdöl in der Arktis. Außerdem soll die behördenübergreifende Arbeitsgruppe zur Frage der sozialen Kosten von Treibhausgasen wieder eingesetzt werden. Als Kostenfaktoren sollen dann auch Klimarisiken, Umweltgerechtigkeit und generationenübergreifende Gleichheit berücksichtigt werden.

Bis zum Jahr 2050 wollen die USA "kohlenstoffneutral" werden, also rechnerisch nicht mehr Treibhausgase emittieren, also aufgefangen bzw. gebunden (beispielsweise durch Aufforstung) werden. Insofern kann man es niemandem verdenken, wenn sie oder er froh über den Machtwechsel im Weißen Haus ist. Aber wie der Begriff "Machtwechsel" schon sagt: Es wird ein Wechsel der (gesellschaftlichen) Macht angestrebt, nicht deren Abschaffung.

Nehmen wir einmal das 2016 in Kraft getretene Klimaschutzabkommen von Paris. Was als historische Errungenschaft der Menschheit abgefeiert wurde, erweist sich als Potemkinsches Dorf. Hinter dessen Fassade bestehen die elenden Verhältnisse fort. Die Klimawissenschaft sagt eindeutig, daß bei der in der französischen Hauptstadt vereinbarten Höchstgrenze der globalen Erwärmung von zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit viel mehr Menschen an den Folgen sterben und die Schäden viel schwerwiegender sein werden als beim Einhalten der 1,5-Grad-Grenze. Zudem besteht die Gefahr, daß bei zwei Grad Celsius Erwärmung Kippunkte in einem oder mehreren Natursystemen überschritten werden und der Klimawandel dann gar nicht mehr aufgehalten werden kann. Inzwischen wurden bereits 1,2 Grad Erwärmung in Anspruch genommen, eine Entwicklung, die lediglich in Folge der Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie gebremst wurde. Doch alle Welt will wieder zurück zu den früheren Verhältnissen - Klimaschutz bleibt somit ein Lippenbekenntnis.

Jedes Zehntel Grad Erwärmung "zählt", das heißt, deren Folgen werden schwerwiegender sein. Doch allein nur die Summe der nationalen Zusagen der Unterzeichnerstaaten des Pariser Abkommens, was sie an Treibhausgasemissionen einsparen wollen, würde eine Welt entstehen lassen, die mehr als 3,0 Grad Celsius wärmer ist. Eine existentielle Bedrohung für Millionen Menschen! Wenn man jetzt bedenkt, daß viele Staaten noch nicht einmal ihre Zusagen einhalten und die US-Regierung als eine der Hauptverantwortlichen für den Klimawandel die letzten vier Jahre das Gegenteil von Klimaschutz betrieben hat, wird deutlich, daß die Klimaschutzpolitik Joe Bidens unzureichend ist. Sie hebt offensichtlich nicht auf den Schutz der einzelnen ab, sondern ist auf die Bewahrung der vorherrschenden Verteilungsordnung ausgerichtet. Einige Menschen werden mehr, andere weniger unter dem Klimawandel leiden. Eine kleine Gruppe profitiert sogar davon. Auch in Zeiten der allgemeinen Not bleiben deren Privilegien unangetastet.

Ein Multimilliardär wie Jeff Bezos und beispielsweise ein verarmter indischer Straßenhändler aus der Kaste der Dalits haben vielleicht die gleichen biologischen Merkmale, die sie als Menschen ausweisen. Angesichts der verheerenden Klimawandelfolgen indes beide in die Kategorie "Menschheit" zuzuordnen, hieße, die gravierenden sozialen und gesellschaftlichen Unterschiede der Menschen zu ignorieren und so zu tun, als seien sie bedeutungslos für die Benachteiligten und Verworfenen dieser Welt. Bezos zählt zu einer Gruppe von Menschen, die im Durchschnitt ein mindestens zehn Jahre längeres Leben zur Verfügung haben als die verarmten Menschen, die der Wucht der bereits angelaufenen und, um ein Vielfaches gesteigert, bevorstehenden Auswirkungen eines aufgeheizten Planeten überantwortet werden sollen. Um eine Anleihe aus der Welt der Comicstereotypen zu nehmen: Der reichste Mann der Welt schwimmt in seinen angesammelten Golddukaten, wohingegen jenem Dalit das Wasser bis zum Hals steht.

Diese Diskrepanz aufrechtzuerhalten und zu befestigen ist die Realität und Perspektive der Klimapolitik der Vereinigten Staaten von Amerika unter deren 46. Präsidenten Joe Biden.

1. Februar 2021


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