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KLIMA/767: Verschleierung de jure ... (SB)



"Der Europäische Emissionshandel (EU-ETS) ist das zentrale klimapolitische Leitinstrument in Europa, um Treibhausgasemissionen von Energie- und Industrieanlagen sowie des innereuropäischen Luftverkehrs kosteneffizient zu reduzieren."
(Deutsche Emissionshandelsstelle im Umweltbundesamt)

Die Idee wirkt auf den ersten Blick bestechend: Allen am Europäischen Emissionshandelssystem EU-ETS beteiligten Unternehmen (unter anderem aus der Energie-, Zement-, Stahl- und Chemiebranche) werden bestimmte Höchstmengen an Treibhausgasemissionen zuerkannt. Ähnlich wie ein Unternehmen Gebühren für Abwasser entrichtet, soll es Gebühren für Abgase bezahlen und zwar für jene Anteile, mit denen es das Klima anheizt, die Treibhausgase. Die Behörden berechnen und legen fest, wie hoch die CO₂-Emissionen einzelner Unternehmen sind. Daran werden dann die Zertifikate bzw. Emissionsberechtigungen (European Union Allowances, EUA) ausgegeben. Dabei entspricht ein Zertifikat (1 EUA) einer Tonne CO₂-Emissionen.

Erzeugen Unternehmen weniger Treibhausgase, haben sie Zertifikate übrig und können sie am Markt veräußern, erzeugen sie mehr Emissionen, müssen sie Zertifikate dazukaufen. Das heißt, die Unternehmen werden bestrebt sein, weniger Energie zu verbrauchen und weniger Treibhausgase emittierende Produkte herzustellen. Das kann zum Beispiel der Umstieg von Braunkohlekraftwerken auf Gaskraftwerke oder auf erneuerbare Energiesysteme sein. Um den Druck auf die Unternehmen zu erhöhen, wird die Gesamtmenge an ausgegebenen CO₂-Zertifikaten regelmäßig gekappt, was zur Folge haben sollte, dass sie sich verteuern. Es sollte also aufgrund des ökonomischen Druckmittels immer attraktiver werden, Treibhausemissionen zu reduzieren, weil, so die Idee, es ansonsten die Unternehmen immer teurer käme.

In den ersten beiden Handelsperioden (2005 bis 2012) des EU-ETS erhielten die Unternehmen die CO₂-Zertifikate, die sie am Ende des Jahres abgeben müssen, nahezu vollständig geschenkt. Bis heute ist der Anteil, der kostenpflichtig ersteigert werden muss, schrittweise gestiegen.


Das Kurvendiagramm zeigt, dass der Preis trotz Schwankungen bis 2019 unter 30 Euro pro Tonne Kohlenstoffdioxidemissionen geblieben ist - Graphik: Allavion, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons. Bearbeitung durch Schattenblick

Preisentwicklung der EU-Emissionszertifikate (EUA) im EU-Emissionshandelssystem bis Oktober 2021, auf Grundlage von Daten von https://icapcarbonaction.com.
Graphik: Allavion, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons. Bearbeitung durch Schattenblick

Am 1. Januar 2005 fiel der Startschuss zum EU-ETS. In der Praxis hat sich gezeigt, dass die anfangs zugeteilten Emissionsrechte viel zu hoch angesetzt waren; es gab also viel mehr Emissionsrechte, als gebraucht wurden. Laut dem niederländischen Datenjournalisten Luuk Sengers hatten gar 40 der größten Klimaverschmutzer Europas mehr CO₂-Zertifikate geschenkt bekommen, als sie brauchten. Das bedeutete, dass aus dem ETS kein Lenkungseffekt in Richtung Klimaschutz eintrat. (Was allerdings Energiekonzerne nicht davon abgehalten hatte, ihre fiktiven Mehrkosten auf den Strompreis aufzuschlagen.) Und das niederländische Institut CE Delft hat berechnet, dass die ersten zwölf Jahre des Emissionshandels der europäischen Industrie Extragewinne in Höhe von sagenhaften 50 Milliarden Euro einbrachte. Offensichtlich hatte der Emissionshandel nicht das Erdklima, sondern das Geschäftsklima geschützt.

Zwischenzeitlich war der Preis pro Tonne CO₂-Emissionen auf unter fünf, phasenweise sogar auf unter drei Euro abgesackt. Ein nennenswerter Klimaschutzeffekt ergibt sich jedoch erst bei ungefähr 50 Euro pro Tonne CO₂-Emissionen. Bis dahin wird vor allem heiße Luft produziert. Mit den milliardenschweren Extragewinnen konnten die größten Klimaverschmutzer Europas sogar nach Gutdünken wirtschaften, also genau das fortsetzen, weswegen ihnen eigentlich Schranken auferlegt werden sollten.

Annähernd die Hälfte des beim Verbrennen fossiler Energieträger generierten Kohlenstoffdioxids verbleibt dort viele Jahrhunderte und entfaltet während dieser Zeit seine Treibhausgaswirkung, indem es die langwellige Wärmerückstrahlung der Erdoberfläche daran hindert, ins Weltall zu entweichen. Insbesondere von den Industriegesellschaften wurde und wird die Erdatmosphäre als kostenloses Endlager für Treibhausgasemissionen genutzt. Die Länder des Globalen Südens sind daran kaum beteiligt. Erst in den letzten Jahren stoßen einige Schwellenländer in die Gruppe der stärksten Verschmutzer vor, allen voran China. Allerdings gilt das noch nicht für die Pro-Kopf-Emissionen. Das EU-Europa trägt somit eine große historische Mitverantwortung für die Misere.

Die gesellschaftlichen Folgen, also die materiellen Verluste an Mensch und Material, der Klimaentwicklung sind immens. Im vorherrschenden marktwirtschaftlichen System, in dem kaum etwas kostenlos zu haben ist, war ausgerechnet die Abgasentsorgung lange Zeit umsonst. Würde man die auf die Gesellschaft abgewälzten Kosten der Schadensbeseitigung einbeziehen, müsste nach einer Untersuchung des Umweltbundesamts der Preis der Verschmutzungsrechte auf 195 Euro pro Tonne CO₂-Emissionen steigen.

Ein Zwischenresümee: Von 2005 bis 2016 wurde mit dem wichtigsten europäischen Klimaschutzprojekt das Gegenteil dessen erreicht, weswegen es angeblich eingerichtet worden war. Die Unternehmen sahen sich nicht genötigt, ihre CO₂-Emissionen zu verringern, weil die dazu erforderlichen Maßnahmen teurer geworden wären, als weiter wie bisher Treibhausgase zu emittieren und dafür Zertifikate zu erwerben.


Spitze eines Flugzeugflügels oberhalb einer geschlossenen Wolkendecke, aus der vereinzelt blumenkohlartige Wolken herausragen - Foto: Arne Hückelheim, CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0), via Wikimedia Commons

Klimaschutz? Vor allem heiße Luft ...
Die Dampfwolken der RWE-Kraftwerke Frimmersdorf (links, inzwischen stillgelegt), Neurath (mitte) und Niederaußem (rechts) durchstoßen die Wolkenschicht.
Die Dampfwolken bestehen hauptsächlich aus kondensiertem Wasserdampf. Das unsichtbare Treibhausgas CO₂ wird auf anderen Wegen emittiert. Die Aufnahme entstand kurz nach dem Start vom Flughafen Köln-Bonn.
Foto: Arne Hückelheim, CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0), via Wikimedia Commons

Seit 2017 steigt der Preis pro Tonne CO₂-Emissionen unter starken Schwankungen, jedoch insgesamt deutlich an. Anfang 2021, mit Beginn der vierten Handelsperiode des EU-ETS, wurden die Bedingungen des Emissionshandels verändert. In diesem Jahr ist der Preis so schnell und so stark gestiegen (Stand 25. November: 75 Euro/Tonne CO₂), dass von dem Wirtschaftsnachrichtendienst "Bloomberg" bereits im Februar die "Befürchtung" ventiliert worden war, die EU-Kommission werde das (vermeintliche freie) Marktgeschehen beeinflussen und eine Obergrenze für den CO₂-Emissionspreis festlegen. Dazu besitzt diese seit 2009 mit der Einführung des Artikels 29a zu "Maßnahmen im Fall übermäßiger Preisschwankungen" in der ETS-Richtlinie die rechtliche Handhabe. Die EU-Kommission hat sich jedoch zurückgehalten.

Die aktuelle Preisentwicklung bedeutet jedoch immer noch nicht, dass ab jetzt das Europäische Emissionshandelssystem die ihm zugesprochene volle Schlagkraft entfaltet. Das hat mit dem sogenannten Hedging zu tun. Das Wort kommt aus dem Englischen und bedeutet "einhegen". Aus unternehmerischer Sicht stellt ein steigender Emissionshandelspreis ein Risiko dar, dem es zu begegnen, das es einzuhegen gilt.

Bereits während der dritten Handelsperiode (2013 - 2020) des EU-ETS hatte Europas größter Treibhausgasemittent, der Energiekonzern RWE, seine Aktionärinnen und Aktionäre beruhigt und erklärt, dass er sich mit Emissionszertifikaten bis zum Jahr 2022 eingedeckt und somit das Risiko eines steigenden Zertifikatepreises eingehegt habe. So hielt Tom Glover von RWE Supply & Trading am 17. Juli 2018 bei einem Investoren-Lunch in London einen Vortrag mit dem Titel: "Implicit Fuel Hedge. Understanding the value of RWE's hedging approach", in dem er die Sicherungsstrategien von RWE vorstellte und erklärte, dass CO₂-getriebene Strompreisänderungen keinen Einfluss auf die Rendite von RWE hätten.

Einen Monat darauf hat laut der Nachrichtenagentur Bloomberg (14.08.2018) RWE-Finanzchef Markus Krebber im Gespräch mit Investoren und Analysten gesagt, dass sich das Unternehmen über 2022 hinaus abgesichert habe. Einzelheiten habe Krebber aber "in Anbetracht der empfindlichen Natur dieser Information" nicht nennen wollen.

Als der Schattenblick bei einer Podiumsdiskussion der Veranstaltung "Jedes Zehntelgrad zählt!" (23.10.2018), die von der Klima-Allianz Deutschland und VENRO organisiert worden war, Dr. Artur Runge-Metzger, Abteilungsleiter in der Generaldirektion Klimapolitik der Europäischen Kommission, auf das Vorgehen von RWE ansprach, erwiderte dieser, dass das nun mal die freie Marktwirtschaft sei. Immerhin habe RWE Geld auf die Seite legen müssen, was in der Zwischenzeit nicht für etwas anderes verwendet werden konnte. Man könne dem Unternehmen nicht verbieten, so zu handeln, und ihm die Zertifikate wegnehmen.

Eine Vertiefung dieses Themas blieb aus, obschon die EU-Kommission das Hedging ihrerseits hätte einhegen können, indem sie beispielsweise beschlossen hätte, dass die Zertifikate mit jeder Handelsperiode ihren Wert verlieren und neu gekauft werden müssen.

Inzwischen macht RWE um "die empfindliche Natur dieser Information" kein großes Geheimnis mehr. Der Energiekonzern hat die Zeiten, in denen die Verschmutzungsrechte preiswert waren, genutzt und sich so reichlich eingedeckt, dass es seine absehbaren CO₂-Emissionen bis 2030 vollständig abdecken kann. Das "Risiko", Klimaschutz zu betreiben, wurde erfolgreich eingehegt. Das wirtschaftsnahe "Handelsblatt" (19.09.2021) ist voll des Lobes für das geschickte Taktieren der Trading-Abteilung von RWE. Sie habe gut "gezockt", heißt es, von einer "Glanzleistung" ist die Rede.

Das Unternehmen musste zwar für den Erwerb der Verschmutzungsrechte Geld zur Seite legen, wie Runge-Metzger feststellte, aber da deren Wert inzwischen extrem gestiegen ist und möglicherweise noch weiter steigen wird, hat sich die Investition gelohnt. So hätte ein 2016 für fünf Euro erworbenes Zertifikat binnen fünf Jahren einen 15-fachen Wertzuwachs erfahren. Welches andere Wertpapier wirft eine so hohe Rendite ab?

In seinem "Interim report on the first half of 2021" schreibt RWE, dass zwar der Wert seiner Braunkohlekraftwerke und Tagebaue in den letzten Jahren gesunken ist, aber dass sich aus buchhalterischer Sicht die Auswirkungen dieser Wertminderung durch seine langfristigen CO₂-Absicherungsgeschäfte im Wesentlichen ausgeglichen haben.

"Hedging" ist kein Alleinstellungsmerkmal von RWE. Auch die Salzgitter AG hat sich bis 2030 vollständig abgesichert, meldete das "Handelsblatt" (04.10.2021). Andere am EU-ETS beteiligte Unternehmen haben ebenfalls Hedging betrieben und sich zumindest für die nächsten Jahre freigehalten.

Wie "Spiegel online" (29.03.2021) berichtete, sorgen inzwischen Hedge Fonds, die selbst gar nicht dem EU-ETS unterworfen sind, mit dem Erwerb von Emissionszertifikaten für eine erhöhte Nachfrage und somit für steigende Preise. Das wiederum nötige die am Emissionshandelssystem beteiligten Unternehmen, Energie zu sparen oder von Kohlekraftwerken auf weniger emissionsstarke Gaskraftwerke umzustellen, behauptet das Magazin.

Diese Einschätzung ist angesichts der Möglichkeit eines Unternehmens, sich gegen solche Risiken abzusichern, recht wohlwollend formuliert. Denn sobald Börsenspekulanten Witterung aufgenommen haben, wird nicht nur der Erwerb, sondern auch das Abstoßen von CO₂-Zertifikaten zum Geschäftsmodell. Beispielsweise können auf steigende oder fallende Preise, mal mit, mal ohne festgelegtes Enddatum, Wetten abgeschlossen werden. "Strategische Spekulation" nennen Börsianer solche Geschäftspraktiken. Und wenn nach solch einem womöglich gezielten Absturz die Preise wieder hochschnellen, dann würde auch daran verdient.

Mit der Plattform SparkChange wurde 2018 ein registrierten Investoren vorbehaltener Onlinehandelsplatz für Kohlenstoff-Zertifikate eingerichtet. Das in London, Seattle und Boston ansässige Unternehmen wirbt damit, dass der Preis für CO₂-Zertifikate steigen und voraussichtlich eine Rendite von 4,3 Prozent über die nächsten vier Jahre abwerfen wird. Gleichzeitig werde echter, physischer Klimaschutz betrieben. Eine Behauptung, die im Widerspruch dazu steht, dass RWE und andere Unternehmen, die ja die eigentlichen Akteure sind, die reale Treibhausgasemissionen erzeugen, ihre Risiken aus dem steigenden CO₂-Zertifikatepreis bis 2030 vollständig oder zumindest partiell abgesichert haben.

Die CO₂-Zertifikate selber bleiben bloße Handelsobjekte für derlei Spekulationen. Das hat nichts mit den vorgeblichen Aufgaben des EU-ETS, dem Kampf gegen die besorgniserregende globale Erwärmung, zu tun. Der Eintritt von mindestens 230 Finanzmarktakteuren (Michael Pahle, "Tagesspiegel Background", 23. März 2021) in den CO₂-Zertifikatehandel ist nicht Ausdruck der Wertschätzung von Klimaschutz, sondern der Wertschätzung von Profiten mit dem Klimaschutz. Wobei der PIK-Forscher Pahle in der Spekulation sogar Vorteile sieht. Sie könne "die Effizienz des Marktes durch mehr Liquidität, bessere Preisfindung und die Möglichkeit zum Risikotransfer erhöhen", schreibt er. Nur die "überschüssige Spekulation" solle gezielt eingedämmt werden. An den Kriterien zur Festlegung der Grenze, ab wann eine Spekulation "überschüssig" ist, arbeiten er und andere im Rahmen des Kopernikus-Projekts Ariadne des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) in Berlin.


Ein Mann fegt den Boden, auf dem zahlreiche Zeitungen und Papier ungeordnet herumliegen - Foto: Nationaal Archief, No restrictions, via Wikimedia Commons

Die Sache mit den Wertpapieren war dann wohl doch nicht so gut gelaufen wie gedacht. Aber der Klimaschutz, der ist bei den Börsianern in guten Händen. Ganz bestimmt.
Unwertbeseitigung nach dem Börsencrash an der New Yorker Wall Street 1929
Foto: Nationaal Archief, No restrictions, via Wikimedia Commons

Fazit: Ein aus dem Europäischen Emissionshandelssystem erwachsener Druck auf die Wirtschaft in Richtung Klimaschutz fand in den ersten zwölf Jahren wegen der zuviel ausgegebenen CO₂-Zertifikate nicht statt und wurde seitdem von einer Reihe daran beteiligter Unternehmen mittels Hedging abgefangen. Solange der Klimaschutz der Wirtschaft überlassen bleibt, ist es aus betriebswirtschaftlicher Sicht rational, das Risiko nicht in der globalen Erwärmung zu sehen, sondern lediglich darin, für ihren Anteil an dieser Schadensentwicklung zur Verantwortung gezogen zu werden.


1. Dezember 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 170 vom 4. Dezember 2021


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