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KLIMA/770: Landschaftsrestverwertung oder das Kippen der letzten Vorwände für ihren Erhalt ... (SB)



Naturschutz kann tödlich sein. Im November und Dezember vergangenen Jahres haben Parkwächter und Soldaten im ostkongolesischen Kahuzi-Biega-Nationalpark sieben Dörfer der Volksgruppe der Batwa restlos niedergebrannt. Die Angriffswelle zog sich über mehrere Tage hin und wurde mit äußerster Brutalität durchgeführt. Zwei Kinder wurden in einer Hütte eingeschlossen und bei lebendigem Leib verbrannt. Mindestens drei Dorfbewohner wurden erschossen. Anschließend hat man ihre Leichen verstümmelt, um, auf diese Weise grausam zugerichtet, den anderen Dorfbewohnerinnen und -bewohnern eine Warnung zukommen zu lassen. Bis zu 20 Frauen wurden massenvergewaltigt.

Das fand der investigative Journalist Robert Flummerfelt bei seinen Vor-Ort-Ermittlungen in der Demokratischen Republik Kongo für die Organisation Minority Rights Group International heraus. Noch während seiner Untersuchungen und Interviews mit den geflohenen und bis auf die Knochen verängstigten Batwa hatten Parkwächter und Soldaten eine neue Welle der Gewalt mit weiteren schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen verübt, berichtete Flummerfelt in dem im April 2022 veröffentlichten Report "To Purge the Forest by Force: Organized violence against Batwa in Kahuzi-Biega National Park" (z. Dt.: Den Wald gewaltsam reinigen: Organisierte Gewalt gegen Batwa im Kahuzi-Biega-Nationalpark).

Die deutsche Regierung ist seit 1986 wichtigste Geldgeberin dieses Parks und hat ihre Unterstützung auch dann nicht eingestellt, als sie von den wiederholten Übergriffen auf die Batwa erfahren hatte, berichtet die Menschenrechtsorganisation Survival International. 2017 habe sogar eine Batwa-Familie, deren 17-jähriger Sohn von Parkwächtern umgebracht worden war, offizielle Beschwerden an die beiden deutschen Entwicklungshilfeorganisationen GIZ und KfW gerichtet. Indes, die erhoffte Resonanz blieb aus.

Die Diskriminierung der Batwa oder Twa, wie sie auch genannt werden, durch andere Volksgruppen reicht weit zurück, hat jedoch seit 1970 mit der Gründung jenes Nationalparks eine neue Begründung erfahren: Die "Natur" müsse geschützt werden, hieß es fortan, und dazu müssten die Menschen, die seit unzähligen Generationen in und von dieser "Natur" ihre Existenz sicherten, das Gebiet verlassen. Rund 6.000 Batwa, die traditionell von der Jagd und vom Sammeln lebten und somit wesentlich für den Erhalt der Artenvielfalt sorgten - bei gleichzeitig geringstem Eingriff in die natürliche Landschaft -, wurden vertrieben. Viele starben, die Zahl der Batwa wurde hier und in anderen Regionen des afrikanischen Kontinents teils mehr als halbiert.


Bokova und Kobler, in Polstersesseln sitzend, im gemeinsamen Gespräch - Foto: MONUSCO Photos, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/] via Flickr

Paris, 4. März 2015 - Die UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokova empfängt den Leiter der UN-Friedensmission im Ostkongo (MONUSCO), Martin Kobler, um über die Bewahrung von fünf Welterbestätten in der Demokratischen Republik Kongo zu sprechen. Dazu gehören die Nationalparks Kahuzi Biega, Virunga, Garamba und Solange sowie das Okapi Wildlife Reserve. Ob auch über die Vertreibungen und Misshandlungen der Batwa gesprochen wurde, entzieht sich unserer Kenntnis - falls ja, kann die Besprechung nicht besonders wirksam gewesen sein, denn die Batwa erleben immer wieder schwerste Übergriffe.
Foto: MONUSCO Photos, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/] via Flickr

Die Demokratische Republik Kongo bildet hinsichtlich Vertreibungen und Misshandlungen von Minderheiten aus Naturschutzgründen keine Ausnahme. Bereits für die weltweit ersten Nationalparks, den Yosemite-Nationalpark (1864) und den Yellowstone-Nationalpark (1872) in Nordamerika sowie den Royal-Nationalpark (1879) in Australien und viele andere, die noch folgen sollten, wurde die ursprüngliche Bevölkerung umgebracht, vertrieben oder an der Ausübung ihrer bis dahin bevorzugten Lebensweise gehindert. Die Verursacher der Not waren und sind stets bemüht, sich ihre Repressionen schönzureden. Gerne werden dafür höhere Instanzen bemüht. Beispielsweise hatten die nordamerikanischen Ureinwohner rund 6.000 Jahre lang im Yosemite-Nationalpark gelebt. Doch nach Ansicht des Naturwissenschaftlers und Umweltschützers John Muir, der als Urheber der Nationalparkbewegung gilt, hatten die Indigenen das Land "entweiht". Heute würde man wohl sagen, dass sie nicht "klimaschutzgerecht" leben.

In der Regel besitzt keine der Lebensgemeinschaften in den Regionen, in denen Nationalparks entstanden sind, einen Eigentumstitel auf das Land - jedenfalls nicht im Sinne der westlichen Rechtsauffassung, die zur vermeintlichen Legitimation kolonialer Raubzüge anderen Menschen aufgedrückt und deren Gültigkeit per Gewalt durchgesetzt wurde.

Auch wenn es im obigen Beispiel vordergründig um einen innerkongolesischen Konflikt geht, sind daran eben auch Industriestaaten wie Deutschland und die USA wesentlich beteiligt. Die Bundesrepublik ist nicht nur eine wichtige Geldgeberin für den Kahuzi-Biega-Nationalpark, sondern weltweit für viele Maßnahmen des Naturschutzes und der Bewahrung der Biodiversität. Den Maßstäben und Absichtserklärungen der Bundesregierung zufolge dürfte es solche schweren Übergriffe auf indigene Gemeinschaften, wie sie hier am Beispiel der Batwa geschildert werden, eigentlich gar nicht geben, aber offensichtlich ist Papier geduldig.

Ebenso widersprüchlich zeigt sich die Europäische Union. Survival International berichtete, dass die Europäische Kommission in ihrer Biodiversitätsstrategie zwar von der "Stärkung der Verbindungen zwischen dem Schutz der biologischen Vielfalt und den Menschenrechten und der Rolle der indigenen Völker und lokalen Gemeinschaften" spricht. Ungeachtet dessen würden aber von de EU Naturschutzprojekte in Afrika finanziert, die eben diese Gruppen ausschließen.

Nationalparks stehen der industriellen Naturverwertung beispielsweise in Form von Bergbau nicht antagonistisch gegenüber; sie stellen nicht das Gegenmodell dar, sondern ihre Einrichtung entspringt dem gleichen Denken. Deshalb entspricht es zwei Seiten derselben Medaille, dass Indigene nicht nur beispielsweise wegen des Abbaus von Erzen für die Hightech-Wirtschaft, des Anlegens von Stauseen zur Stromgewinnung oder Waldrodungen zum Zweck des Sojaanbaus und der Viehzucht vertrieben werden, sondern auch für Nationalparks.

In solchen "naturbelassenen" Gebieten pflegt dann die wohlhabendere Klientel der globalisierten Welt, deren gehobener Lebensstil ohne den Raubbau andernorts gar nicht vorstellbar wäre, Giraffen beim Blätterkauen, Tiger beim Zerlegen ihrer Beute oder die Restpopulationen von Gorillas bei ihren täglichen Verrichtungen zu beobachten und im Anschluss an die Safari als medial gespeicherte, sozial-kommunikativ verwertbare Erinnerungsbeute mit nach Hause zu nehmen.


Silberrücken-Gorilla mit einem Jungtier im Blätterdickicht - Foto: Kbnp, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Gorillas im Kahuzi-Biega-Nationalpark. Wer sie beobachten will, muss reichlich Geld haben. Allein schon der Gorilla-Ausflug kostet 400 US-Dollar. Die Tourismus-Ökonomie soll ohne die Batwa stattfinden.
Foto: Kbnp, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Indigene Gemeinschaften werden nicht allein aus Anlass der Gründung oder der Bewahrung des "ungestörten" Betriebs von Nationalparks vertrieben. Mit der Berechnung des sogenannten Naturkapitals werden neue Verfügungskonstrukte aufgebracht, werden natürliche Ressourcen auf umfängliche Weise in Wert gesetzt. Mit der Begründung, dass Klima und Artenvielfalt geschützt werden müssen, wird der Raub, der letztlich bereits in der interessengeleiteten Zuweisung "Natur" in Abgrenzung von Kultur und somit den Menschen enthalten ist, tiefer als bisher in die Landschaften hineingetragen.

Wurden in der Klimaschutzpolitik die biologischen Sourcen und deren Austauschverhältnisse und Wechselwirkungen einst als Ökosysteme, die den Menschen einen Dienst leisten, kurz: Ökosystemdienstleistungen, bezeichnet, heißt es in Fortsetzung der auf dieser Basis entwickelten Waldschutzkonzepte REDD und REDD+ heute "Nature Based Solutions" (NBS), zu deutsch "naturbasierte Lösungen". Ursprünglich war diese vielversprechende Bezeichnung als Kritik an der Klimaschutzpolitik aufgebracht worden, da sich diese auf die Verringerung von kohlenstoffhaltigen Treibhausgasemissionen fixiert hatte. Dabei waren jedoch Krisenfolgen wie beispielsweise Artenschwund, Verkarstung der Böden und großflächige Waldverluste unberücksichtigt geblieben. Also wurde Natur nochmals "kapitalistisch umdefiniert", so Barbara Unmüßig, Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung (23.09.2019).

Die schwammige Definition von naturbasierten Lösungen bedeutet, dass sie durch absichtlichen oder unabsichtlichen Missbrauch gefährdet sind, sagte Teresa Anderson, für Klimapolitik zuständige Koordinatorin der Nichtregierungsorganisation ActionAid International, gegenüber der Internetseite Carbon Brief (01.12.2021). Das habe dazu geführt, dass die Auffassung von naturbasierten Lösungen von Akteuren mit geringem Interesse an strukturellen Veränderungen mitgestaltet wird: "Als der Begriff zum ersten Mal auftauchte, hatten einige von uns echt große Hoffnungen, dass sich naturbasierte Lösungen als ein wirklich nützlicher Begriff erweisen würden, um die biologische Vielfalt als Schlüsselstrategie für den Klimaschutz zu bewahren." Aber heutzutage könne "jeder Müll" als naturbasiert bezeichnet werden. Der Begriff könne beliebig für Baumplantagen, industrielle Landwirtschaft, Landraub, Kohlenstoffzertifikate und Zertifikate für die biologische Vielfalt verwendet werden.

Die Internationale Union für die Erhaltung der Natur (engl. International Union for Conservation of Nature, IUCN), der sich 197 Regierungs- und mehr als 1200 Nichtregierungsorganisationen angeschlossen haben und die in der Öffentlichkeit vor allem für das Erstellen der Roten Liste des Artensterbens bekannt ist, hat einen "Globalen Standard für naturbasierte Lösungen" erarbeitet. Die IUCN definiert naturbasierte Lösungen als "Maßnahmen zum Schutz, zur nachhaltigen Bewirtschaftung und zur Wiederherstellung natürlicher oder veränderter Ökosysteme, mit denen gesellschaftliche Herausforderungen wirksam und anpassungsfähig angegangen werden können und die gleichzeitig dem menschlichen Wohlbefinden und der biologischen Vielfalt zugutekommen".

Die Definition wurde häufiger nachgebessert und bestand 2020 aus acht Kriterien (u. a. "Nettogewinn an Biodiversität", "inklusive Regierungsführung" und "ökonomische Machbarkeit"), die wiederum nach 28 Indikatoren spezifiziert wurden. Dabei soll alles mit allem verschränkt sein. Gegenüber dem ursprünglichen Definitionsversuch für naturbasierte Lösungen bemüht sich die IUCN heute um größere Detailgenauigkeit, kann aber dennoch nicht verhindern, dass ein Wildwuchs der Beliebigkeit entstanden ist. Naturbasierte Lösungen sind kein rechtlich geschützter Begriff. Deshalb stehen womöglich unterstützenswerte Projekte beispielsweise aus der Agroforstwirtschaft neben dem Monokulturplantagenanbau oder Projekte, in denen das Interesse lokaler Gemeinschaften rückhaltlos anerkannt werden, neben Projekten, die diese mit Füßen treten.


Abriss der jüngeren Entwicklung des Konzepts der naturbasierten Lösungen

2008: Seit dem Weltbank-Report "Biodiversity, Climate Change, and Adaptation - Nature-Based Solutions from the World Bank Portfolio" wird der Begriff "naturbasierte Lösungen" in der Umwelt- und Klimaschutzbewegung sowie in der Politik breiter bekanntgemacht.

2009: Auf der UN-Klimaschutzkonferenz COP 15 in Kopenhagen stellt die IUCN ein Positionspapier vor, in dem "naturbasierte Lösungen" für den internationalen Klimaschutz ab dem Jahr 2012 gefordert werden.

2015: Auf der COP 21, die das Pariser Übereinkommen zum Klimaschutz verabschiedet hat, wurde der Begriff "Nature Based Solutions" noch vergleichsweise wenig verwendet. Er war auch nicht Gegenstand der Verhandlungen. Auf der COP 26 sechs Jahre später in Glasgow dagegen waren "naturbasierten Lösungen" zu einem der Stützpfeiler des globalen Klimaschutzes geworden.

2016: Die IUCN legt Standards für naturbasierte Lösungen fest, die einige Jahre später noch modifiziert und "Global Standard for NBS" genannt werden.

2016: US-Naturschutzorganisationen wie The Nature Conservancy (TNC) greifen das Thema auf und werben für naturbasierte Lösungen.

2017: Griscom et al. veröffentlichen im Fachjournal PNAS einen Artikel, in dem sie Berechnungen zur Kohlenstoffbindung durch Aufforstungen durchführen. Der Artikel wird breit rezipiert und steht stellvertretend für eine inzwischen unüberschaubare Fülle an thematisch ähnlichen Fachartikeln.

2019: Angeführt von China und Neuseeland wird auf dem UN Climate Action Summit in New York City die "Nature Based Solution Coalition" gründet, der sich mehrere Dutzend Länder anschließen.

2021: Die Vereinten Nationen rufen die "Dekade zur Wiederherstellung von Ökosystemen" aus. Hierbei sollen naturbasierte Lösungen im Zentrum stehen, so dass degradierte Landschaften zu Ernährungssicherheit, sauberem Wasser, Artenvielfalt und Bindung von Kohlenstoff beitragen.

2021: In den 122 Nachbesserungen der Nationalen Klimabeiträge (engl. National Determined Contributions, NDC) des Pariser Übereinkommens haben sich bereits 50 Staaten und somit 41 Prozent für naturbasierte Lösungen als Antwort auf den Klimawandel ausgesprochen.

2022, April: Die Arbeitsgruppe III des Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) veröffentlicht ihren fast 3000 Seiten starken Sachstandsbericht zu Klimaanpassungsmaßnahmen. Darin erhalten naturbasierte Lösungen einen zentralen Stellenwert. Dieser IPCC-Bericht gilt als Referenz und dürfte die Klimapolitik der nächsten Jahre maßgeblich beeinflussen.


Naturschutz ohne Indigene

In einem vom Umweltbundesamt in Auftrag gegebenen, 81-seitigen Gutachten des Öko-Institut e. V. Berlin vom Januar 2022 mit dem Titel "Nature-based solutions and global climate protection" (z. Dt.: Naturbasierte Lösungen und globaler Klimaschutz) wird zwar kritisch angemerkt, dass die Rechte der Indigenen im internationalen Klimaverhandlungsprozess nur vage berücksichtigt worden sind. Aber ansonsten beschränkt sich Kritik an naturbasierten Lösungen hauptsächlich auf Aussagen wie, dass die Erwartungen in sie nicht überschätzt werden sollten.

Das ist eine typische Einstellung, wie sie in der Fachliteratur häufiger anzutreffen ist: Vertreibungen von Indigenen und deren Misshandlung sind den Regierungen bzw. ihren Institutionen bekannt und werden heutzutage theoretisch weniger ignoriert als in der Vergangenheit. Aber in der Praxis sieht das schon ganz anders aus. Nach wie vor genießen ökonomische Interessen Priorität. Für das Vorgehen von Unternehmen, die naturbasierte Lösungen in ihre Klimaschutzpläne aufnehmen und zugleich ihre Produktion von klimaschädlichen Waren weiter steigern, hat sich ein passendes Wort etabliert: Greenwashing. Die Regierungen liefern für diesen Waschvorgang den Ordnungsrahmen.

Begünstigt wird diese Einstellung von einem Weltbild, in dem Natur und Mensch gegenübergestellt werden. In der christlich-religiösen Variante wird der Mensch aufgefordert, sich die Erde (Natur) untertan zu machen; in der wissenschaftlichen Variante wird technologischer Fortschritt mit Wachstum und Naturverwertung verknüpft. In beiden Fällen definiert sich der Mensch aus dem heraus, was er als "Natur" interpretiert. Die Indigenen werden nicht gefragt, ob sie ebenfalls glauben, dass sie außerhalb oder gar über der Natur stehen. Sie sollen die Konsequenzen des ihnen aufgenötigten Weltbilds tragen und aus ihren angestammten Lebensräumen verschwinden. Für den Erhalt der "Natur".

Anlässlich des Internationalen Tags der Landlosen am 17. April üben zahlreiche Landwirtschafts- und Landlosenorganisationen scharfe Kritik am Konzept der "Nature Based Solutions". Sie begründen dies mit bis heute anhaltenden negativen Erfahrungen mit Nationalparks sowie anderen Klima- und Naturschutzkonzepten. Naturbasierte Lösungen stellten einen neuerlichen Vorstoß von Konzernen, Regierungen sowohl der reichen Länder als auch der armen Länder, die dem ausländischen und privaten Kapital unterworfen sind, dar, heißt es in einem Aufruf. Unter dem Vorwand, den Klimawandel eindämmen und nachhaltige Ernährungssysteme schaffen zu wollen, solle die Verantwortung der Konzerne und der reichen Länder für die Zerstörung der Umwelt und die Verschärfung der Klimakrise verschleiert werden. Im Ergebnis handele es sich bei naturbasierten Lösungen um Methoden der Landnahme und des Greenwashings profitorientierter Unternehmen. Die Folgen seien fatal:

"Im Namen des Erhalts von Ökosystemen werden Bauern und indigene Gemeinschaften von ihren Feldern und aus den angestammten Gebieten vertrieben. Konzerne finanzieren große Naturschutzgruppen, um Wälder einzuschließen und Monokulturen und Baumplantagen auszuweiten. Anstatt die Treibhausgasemissionen aus ihrer umweltschädlichen Geschäftstätigkeit zu reduzieren, nutzen die Konzerne solche Investitionen, um die von ihnen verursachten Klimaschäden vermeintlich auszugleichen."

Auch der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Umwelt, David R. Boyd, hatte in einem Positionspapier vom August 2021 gefordert, das Naturschutzkonzept radikal zu reformieren. In seiner bisherigen Form sei es fehlgeschlagen. Bei der Bewahrung der Biodiversität dürfe nicht mehr die Natur im Mittelpunkt der Bemühungen stehen, an ihre Stelle sollten indigene Völker und Menschenrechte treten. Sie müssten primär geschützt werden, daran hätten sich die Umweltziele zu orientieren. Nirgendwo in der Welt existierten Gebiete, in denen keine Menschen lebten oder die nicht von ihnen genutzt würden. Die Idee, eine von Menschen unberührte Wildnis wiederherstellen zu wollen, dieser "Festungs-Naturschutz", so Boyd, beruhe auf falschen Vorstellungen.

Die IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, z. Dt.: Zwischenstaatliche Plattform für Biodiversität und Ökosystem-Dienstleistungen) der Vereinten Nationen stellte 2019 in dem mehr als 1000 Seiten umfassenden Sachstandsbericht "The Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services" fest, dass weltweit ein massives Artensterben stattfindet. Wo aber Indigene lebten und die Verantwortung für die Landschaft übernommen hätten, sei der Verlust an Arten am geringsten.

Allerdings haben die Vereinten Nationen ebenfalls berechnet, dass bis zum Jahr 2030 allein mit einem Wechsel der Bewirtschaftsmethoden 30 Prozent der Treibhausgas-Reduzierungsziele erreicht werden können, um die Beschlüsse des Pariser Übereinkommens zu erfüllen. Im Mittelpunkt der diskutierten Maßnahmen stehen naturbasierte Lösungen. Nun zeigen jedoch die zahlreichen Beispiele für Vertreibungen und Misshandlungen aus Gründen des Naturschutzes, dass vom Standpunkt der indigenen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen jegliche Kalkulation mit naturbasierten Lösungen als schwerwiegende Bedrohung anzusehen ist, gewissermaßen als Fortsetzung von Imperialismus und Kolonialismus unter neuem Vorzeichen.

An dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts geändert, obgleich es inzwischen politisch opportun erscheint, Indigene anzuhören oder mit an den Verhandlungstisch zu holen. Ein typisches Beispiel hierfür bietet die "NBS Conference 2022", die vom 5. bis 7. Juli dieses Jahres als Hybridveranstaltung von der Universität Oxford ausschließlich zum Thema naturbasierte Lösungen organisiert wird. Ziel sei es, Möglichkeiten für weitere Forschungsarbeiten aufzuzeigen und Leitlinien für die Gestaltung und Umsetzung von naturbasierten Lösungen zu erstellen, heißt es in der Konferenzankündung. Laut dem bereits veröffentlichten Programm werden die Rechte der Indigenen gleich in mehreren Sessions behandelt.

Das klingt gut. Aber ob und wie die Indigenen, um deren Lebensraum schließlich verhandelt wird - und nicht etwa um den derjenigen, die den Klimawandel maßgeblich verursacht haben -, außerhalb wohlfeiler Konferenzbeschlüsse Einfluss auf die Entscheidungen wirtschaftlich mächtiger Akteure, die ihre eigenen Interessen verfolgen, haben werden, steht auf einem anderen Blatt. Werden die Indigenen in Zukunft ein Veto-Recht gegen jegliche Entscheidungen für naturbasierte Lösungen erhalten, falls sie diese ablehnen? Würde das Recht der indigenen Völker auf freie, vorherige und informierte Zustimmung anstandslos respektiert?

Ob die Indigenen im Amazonas-Regenwald, in den weitläufigen Waldgebieten des indischen Subkontinents oder in der Zomia, den Bergregionen südostasiatischer Staaten, leben, stets ist die ursprüngliche Bevölkerung umfassenden Verfolgungen und gewaltsamen Assimilierungsmaßnahmen ausgesetzt. Und dann gibt es ja noch die vielen nicht-indigenen Landlosen, von denen sich einige schon seit Generationen in entlegenen Regionen angesiedelt haben, aber über keine Besitztitel für ihren Lebensraum verfügen. Brasilien ist ein Beispiel, wie mörderisch mit solchen Menschen, denen kein Eigentumsanspruch zuerkannt wird, umgegangen wird.


Eine sich nach oben verjüngende Säule aus zahlreichen menschlichen Leibern - Foto: Alana Cristina Souza, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Die Säule der Schande - Dieses Mahnmal des dänischen Künstlers Jeans Galschiot, die dem Rathaus von Belém gestiftet wurde, erinnert an das Massaker von Eldorado dos Carajás im brasilianischen Bundesstaat Pará im Amazonasgebiet. Am 17. April 1996 waren 1500 Landlose bei der Protestblockade einer Landstraße von der Militärpolizei in die Zange genommen und beschossen worden. 19 landlose Bauern wurden getötet, neunundsechzig teils schwer verwundet.
Foto: Alana Cristina Souza, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Ob Bewahrung der Böden vor Verlust an Kohlenstoff, Wiedervernässung von Mooren, Reduzierung von Kunstdünger in der Landwirtschaft, naturbasierte Lösungen eröffnen neue Anlageoptionen. Es winkt ein gigantisches Geschäft auf Jahrzehnte hinaus, da die Regierungen mittels milliardenschwerer Klimafonds und anderer Geldtöpfe die Rettung des Planeten propagieren. Faktisch betreiben sie jedoch die Rettung der vorherrschenden, profitgetriebenen Produktionsverhältnisse.

Auch wenn es keinen Flecken auf der Erde gibt, der nicht entweder einer nationalen Jurisdiktion unterstellt ist oder von gut einer Handvoll Nationalstaaten beansprucht und verwaltet wird (Antarktis) oder aber, wie die Hohe See bzw. "das Gebiet", außerhalb nationaler Jurisdiktion als "gemeinsames Erbe der Menschheit" der Verantwortung der Vereinten Nationen unterstellt wurde, können Ozeane, Seen, Flüsse, Wälder, Savannen, Feuchtgebiete, Küstenstreifen, Seegraswiesen und vieles mehr zumindest einem bis dahin noch nicht existierenden Besitzanspruch unterworfen werden. All diese Naturgüter werden zur Ware gemacht. Auch das ist zunächst nicht neu: Braunkohle wird abgebaut und verfeuert, Wälder werden zu Holz verarbeitet und auf den Markt geworfen, Konzerne pumpen Grundwasser hoch, füllen es in Flaschen und verkaufen es, mit einem Etikett versehen, der durstigen Bevölkerung als "stilles Wasser", und was der Beispiele mehr sind.

Die Monetarisierung von Naturgütern und damit die Landnahme setzt sich jedoch sehr viel weiter fort, indem sie tiefer in die Strukturen eindringt. Ein Beispiel: Ein Fluss soll nicht begradigt werden, sondern dem natürlichen Gefälle folgend mäandern, Seitenarme bilden und bei Hochwasser angrenzende Wiesen überfluten dürfen. Ein Konzept dazu lautet: Die Wiederherstellung dieser "Dienstleistung" des Flusses als Hochwasserschutz, für den Erhalt der Biodiversität und mehr Lebensqualität kann in einen monetären Wert umgerechnet werden. Als Zertifikat anerkannt wird dadurch ein neues Handels- bzw. Finanzprodukt geschaffen. So ist der gegenwärtig vergleichsweise hohe Preis für Kohlenstoffzertifikate an der Leipziger Börse European Energy Exchange (EEX) bereits Folge von Spekulationsgeschäften und nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit verstärktem Klimaschutz.

Ein Unternehmen, beispielsweise aus dem Bergbau, soll in Zukunft vermehrt als Ausgleich für seine Zerstörungen andernorts Klimaschutz- oder Biodiversitätskredite entsprechend des eingeschätzten Werts der Schäden kaufen können und sich auf diese Weise als umweltfreundlich gerieren, da es ja die Artenvielfalt oder ökologische Dienstleistung auf einer bemessenen Fläche "kauft". Ein Wald wird nicht mehr, wie noch zu Beginn der internationalen Klimaschutzpolitik, nur als Kohlenstoffspeicher angesehen, sondern als Bestandteil eines natürlichen Gefüges, einer Landschaft, in der permanent Wechselvorgänge zwischen den physikalischen Strukturen, biologischen Formen und gesellschaftlichen Vorgängen stattfinden.

Wie gesagt, mit diesem umfassenden Ansatz der naturbasierten Lösungen wird die Kritik am reinen Klimaschutz, der nur auf die Speicherung von Kohlenstoff abgehoben hatte, berücksichtigt. Denn darin würden Monokulturplantagen mit schnell wachsenden Bäumen, die entsprechend große Mengen Kohlenstoff binden, möglicherweise als genauso wertvoll angesehen wie die gleiche Fläche tropischen Regenwalds, in dem es von zahlreichen Tier- und Pflanzenarten nur so kreucht und fleucht. Doch wie man das Blatt auch dreht und wendet, es bleibt das gleiche. Die dahinterstehenden, auf Wachstum und Profitsteigerung gemünzten Produktionsverhältnisse, die sich in der Monetarisierung und Finanzialisierung der Natur zeigen, bleiben von der Etablierung naturbasierter Lösungen unangetastet. Und damit auch die zugrundelegende gesellschaftliche Eigentumsordnung. Durch diese wird am Ende die Kette an Verantwortlichkeiten für Vertreibungen und Misshandlungen geschützt. Marginalisierte gesellschaftliche Gruppen haben auch im 21. Jahrhundert das Nachsehen.


Janusköpfiger Meeresschutz

Im übrigen sind von dieser Entwicklung nicht allein die Land-, sondern auch die Meeresflächen betroffen. Sollten eines Tages 30 Prozent der Ozeane unter Schutz gestellt werden, wie es zahlreiche Meeresschutzorganisationen und -initiativen fordern, könnte die Folge nicht nur darin bestehen, dass die übrigen 70 Prozent um so intensiver bewirtschaftet, sondern dass auch jene geschützten Bereiche einer Nachhaltigkeitsökonomie unterworfen werden. "Blue Carbon", blauer Kohlenstoff, lautet hierzu das Zauberwort der Klimaschutzpolitik. Da sollen dann beispielsweise Mangrovenwälder und Seegrasfelder unter anderem mit dem Ziel angelegt werden, dass sie Kohlenstoff aus der Atmosphäre binden und so der globalen Erwärmung entgegenwirken.

Nichts gegen Mangrovenwälder und Seegrasfelder. Aber durch diese Art von "Schutz" der Natur, jener vermeintlichen Lösung der Klimakrise, besteht die Gefahr, dass die Kleinfischerei eingeschränkt und traditionelle Nutzungsformen der Küstengewässer durch die lokale Bevölkerung verboten werden. Auch für Meeresschutzprojekte erhalten internationale Konzerne eine Art grüner Ablassbrief, den sie einsetzen können, um ihre klimaverändernde und naturzerstörende Aktivitäten ungehindert fortzusetzen. "Schließlich enden wir in einer Lage, in der die Welt für die Rettung der Meere in die Abhängigkeit von Investmentbankern und Hedgefonds-Managern gerät und in der Blue Economy als Riesenchance gilt, um Investoren dabei zu helfen, Reichtum anzuhäufen", warnt Dr. Andre Standing von der Koalition für faire Fischerei-Abkommen (Coalition for Fair Fisheries Arrangements, CFFA) im Interview mit Cornelia Wilß für die Meeresschutzinitiative Fair Oceans (05.05.2022).

Große Naturschutzorganisationen helfen den Investoren dabei. Beispielsweise durch den Erwerb von Debt-Swaps (Schuldentauschgeschäfte). Einige Naturschutzorganisationen haben eine Entschuldung der ärmeren Länder vorgeschlagen, indem diese die Gelder, mit denen sie ansonsten ihren Schuldendienst beglichen hätten, in Natur- und Klimaschutzprojekte stecken ("Schulden-gegen-Naturschutz-Handel", engl. debt-for-nature-swap). Standing bezeichnet diesen Ansatz als "vielversprechend", aber kritisiert, dass die Debt-Swaps nicht etwa einen Erlass der Schulden bedeuten. Die ursprünglichen Schulden würden von einer dritten Partei aufgekauft, die eine Rückzahlung samt Zinsen eben in Form von Investitionen in Naturschutzprojekte erwartet.

Vor einigen Jahren hat die große US-amerikanische Naturschutzorganisation The Nature Conservancy (TNC) in Kooperation mit der Bank Credit Suisse und den Seychellen einen Debt-for-ocean-Swap in Höhe von rund 21 Mio. Dollar abgeschlossen. TNC ist eine gemeinnützige Organisation mit einem Jahresumsatz von mehr als einer Milliarde US-Dollar und rund 3000 Beschäftigten. Geführt wird die US-Naturschutzorganisation seit vierzehn Jahren von dem früheren Goldman-Sachs-Manager Mark R. Tercek. Einer seiner Vorgänger, Henry M. Paulson, Jr., stammte ebenfalls aus dem Management dieser Investmentbank und war Finanzminister der USA unter George W. Bush Jr. Dieses Personal auf der Führungsebene spiegelt sich wohl nicht zufällig in den Aktivitäten dieser Naturschutzorganisation wider.

Laut Andrew Standing wurde der Schuldenstand der Seychellen mit dem Debt-Swap-Vertrag faktisch nicht verringert, zugleich errang TNC Einfluss auf die Regierung dieses ostafrikanischen Inselstaats. Gleiches gilt für Belize, mit dem TNC ebenfalls einen Debt-Swap abgeschlossen hat, und dürfte auch für weitere Länder (z. B. Kenia und Barbados) zutreffen, mit denen in Zukunft solche und andere Finanzgeschäfte wie zum Beispiel "Blue Bonds" getätigt werden.

Die Seychellen gelten inzwischen als Musterbeispiel für Meeresschutz, haben sie doch 2020 das Ziel, 30 Prozent ihres Meeresgebiets mit einem Schutzstatus zu versehen, erreicht. Dazu hat auch der Schuldenhandel mit TNC beigetragen. Man muss sich allerdings fragen, ob die Vorteile, die Credit Suisse und TNC auf diesem Feld erzielen, aus dem Nichts gewonnen werden. Wenn nämlich nicht, dann muss irgend jemand dafür bezahlen. Beispielsweise mit Einschränkungen der staatlichen Souveränität oder, abgeschoben auf die lokale Bevölkerung, mit der Preisgabe traditioneller Fischereirechte und anderer maritimer Nutzungsformen. So begrüßenswert es auch erscheinen mag, dass um die Seychellen herum ein riesiges Meeresschutzgebiet entstanden ist, wenn dadurch Finanzorganisationen profitieren, deren Geschäftsmodell darin besteht, dass sich andere bei ihnen verschulden, und die Unternehmen finanzieren, die an anderer Stelle Meeresverschmutzung betreiben, ist diese Entwicklung höchst problematisch.

Beispielsweise hat es reichlich Geschmäckle, dass Frankreich als Mitglied des Pariser Clubs, eines Zusammenschlusses von Gläubigerländern, die sich gerne für ihre Politik des "Schuldenerlasses für Meeresschutz" feiern, einst zur Verschuldung der Seychellen beigetragen und dem Land Gelder geliehen hat, damit es den industriellen Fischfang weiter ausbauen konnte. "Faktisch ist das Entwicklungshilfe, von denen französische Fischereiunternehmen profitieren und die zur Schädigung von Meeresökosystemen beitragen", schreibt Standing in einem CFFA-Report vom 15. März 2022. Der Unterhalt des neuen Meeresschutzgebiets der Seychellen erzeuge Kosten in Höhe von 42 Mio. Dollar jährlich. Die Regierung der Seychellen habe das Geld nicht übrig. Wenn aber diese Summe nicht vom Debt-Swap mit The Nature Conservancy aufgebracht werde, wer sonst bezahle dann dafür, fragt Standing.


Tiefgreifende Landnahme

Im Pariser Übereinkommen zum Klimaschutz haben sich die teilnehmenden Staaten verpflichtet, den Ausstoß ihrer Treibhausgase so weit zu verringern, dass die globale Erwärmung nicht um mehr als 2 Grad C, möglichst sogar weniger als 1,5 Grad C gegenüber dem vorindustriellen Niveau steigt. Um die naheliegendste Lösung des Problems drücken sich die Staaten jedoch herum. Sie legen die Axt nicht an die Wurzel an und steigen rasch aus der Verbrennung fossiler Energieträger aus, sondern erfinden verschiedene, meist finanzbasierte Konstrukte, mit denen rein rechnerisch die Klimaziele erreicht werden. Wobei bis heute ungeklärt ist, ob die Rechnung überhaupt aufgeht.

Ungeachtet der Unsicherheiten sprechen sich zahlreiche Regierungen, Unternehmen und einige große Naturschutzorganisationen seit einigen Jahren vermehrt für das Konzept "Netto Null" aus. Sie wollen bis Mitte des Jahrhunderts "Klimaneutralität" anstreben und haben sich das Ziel gesetzt, dass dann "netto" nicht mehr Treibhausgase emittiert als eingespart werden. An dieser Stelle kommen die naturbasierten Lösungen ins Spiel. Nicht der Mensch soll es richten, sondern die Natur.

Wie folgenschwer die Vorstellung sein kann, dass die Natur den Kohlenstoff speichert, der durch die menschenverursachten Treibhausgase emittiert wird, zeigt der Amazonas-Regenwald. Er war lange Zeit als Kohlenstoffspeicher angesehen worden bzw. als Kohlenstoffsenke, um den Jargon des Klimaschutzdiskurses zu bemühen. Inzwischen wurde festgestellt, dass sich das größte zusammenhängende Waldgebiet der Erde in eine Quelle von Kohlenstoff gewandelt hat. Abgesehen davon, dass die gegenwärtige brasilianische Regierung einen intensiven Raubbau betreibt (und einen Feldzug gegen die Indigenen und Landlosen führt), nützte das Ausweisen von Schutzgebieten überhaupt nichts, wenn an ihrer Stelle verstärkt andere Flächen gerodet werden.


Luftbildaufnahme von Industriegelände - Foto: Civa61, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Um sämtliche Industrieanlagen wie diese grün zu waschen, werden drei bis vier Erden gebraucht.
Gela-Industriegebiet, Italien, 20. Oktober 2011
Foto: Civa61, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Zu den vielen Konzernen, die inzwischen naturbasierte Lösungen in ihre Geschäftstätigkeit aufgenommen haben, gehören BP, Chevron, Total, Shell, Eni, BHP, Dow Chemical, Bayer, Boeing, Microsoft, Novartis, Procter and Gamble, Olam, Coca-Cola, Danone, Unilever, Mars und Systemiq, berichtete die Umweltorganisation Friends of the Earth International in dem Positionspapier "Nature Based Solutions: A Wolf in Sheeps Clothing" (Oktober 2021). Auch Vereinigungen wie der World Business Council for Sustainable Development (WBCSD), ein Verband, dem mehr als 200 Unternehmensvorstände der weltweit größten Unternehmen aus der Grünen Ökonomie angeschlossen sind, sind auf diesen Zug aufgesprungen.

Gegenwärtig werden in einer historisch nie erreichten Geschwindigkeit weltweit und zeitgleich Werte geschöpft und Verfügungsrechte über die Natur übertragen, um die desaströsen Folgen aus zwei Jahrhunderten industrieller Entwicklung binnen weniger Jahre zu kompensieren. Stellvertretend hier nur ein Beispiel von vielen: Im vergangenen Jahr hat Shell sein Programm zu "naturbasierten Lösungen" eingesetzt, um Flüssiggas (LNG) klimaneutral erscheinen zu lassen. Der Konzern hatte beim US-amerikanischen Unternehmen Cheniere Energy Flüssiggas gekauft und die damit verbundenen Kohlenstoffemissionen durch "naturbasierte Projekte" ausgeglichen. Et voilà! Eigentlich extrem klimaschädliches Erdgas war plötzlich grün gewaschen.

Der Energiekonzern habe einige der Einwände gegen dieses Vorgehen bei seinem Programm zu "Nature Based Solutions" berücksichtigt, schrieb die industrienahe Internetseite upstream online (30. Juni 2021). Shell habe sich nach den Standards der Climate, Community & Biodiversity Alliance ausgerichtet. Das ist eine Initiative der Naturschutzorganisationen Conservation International, CARE, Rainforest Alliance, Wildlife Conservation Society und - da ist sie wieder - The Nature Conservancy. Diese haben sich zusammengeschlossen, um die Entwicklung von Landmanagementaktivitäten zu fördern, also naturbasierte Lösungen anzubieten.

Zu den Prestigeprojekten, mit deren Hilfe grüner Ablasshandel betrieben werden kann, gehört das Rimba-Raya-Biodiversitätsprojekt in Zentralkalimantan, Indonesien. Abgesegnet durch den Standard für naturbasierte Lösungen der Climate, Community & Biodiversity Alliance. Auch wenn es in diesem asiatischen Land noch krassere Beispiele für Landkonflikte gibt, sie seien in Indonesien "endemisch", schreiben Enrici und Hubacek im Fachjournal "Ecology and Society" (Juni 2018, online). Einige Jahre zuvor hatte der Alternative Nobelpreisträger Nnimmo Bassey aus Nigeria das Biodiversitätsprojekt kritisiert:

"Shell, Gazprom (russischer Öl- und Gasriese) und die Clinton-Stiftung finanzieren das bahnbrechende REDD-Projekt Rimba Raya auf 100.000 ha in der Provinz Zentralkalimantan in Indonesien. REDD ermöglicht es Umweltverschmutzern wie Shell, Rio Tinto und Chevron-Texaco, sich von der Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen an der Quelle freizukaufen, indem sie angeblich die Wälder erhalten."

Man kann sich wohl nicht deutlich genug vor Augen führen, wie diese Art des grünen Ablasshandels funktioniert. Das Grundprinzip des Naturschutzes hat sich nicht gewandelt, darin gleichen sich die Methoden, ob sie unter Titeln wie REDD, REDD+ oder Nature Based Solutions firmieren: Erst aus der Androhung, einen Wald zu zerstören, wird Wert geschöpft. Konzerne können sich vom Klimaschutz freikaufen, indem sie dafür bezahlen, dass der Wald (oder ein Feuchtgebiet, Moor, etc.) nicht zerstört wird. Die Unversehrtheit wird in Kohlenstoff- oder Biodiversitätszertifikate umgerechnet.

Wobei "Unversehrtheit" nicht unbedingt zutrifft. Denn wenn Menschen, die in oder von dem Wald leben, aus diesem vertrieben werden, dann stellt das eine Verletzung des komplexen Lebensraums Wald dar. Oder wenn Flächen gerodet werden, um an der gleichen Stelle Monokultur-Baumplantagen zu errichten, über die dann Kohlenzertifikate generiert werden, kann man ebenfalls nicht von Unversehrtheit sprechen.

In anderen Varianten des grünen Ablasshandels werden Landschaften rekultiviert oder Wälder aufgeforstet. Doch auch da stellen sich Fragen wie, wer für die vorausgegangene Zerstörung der Naturräume verantwortlich war, warum der Staat das nicht verhindert hat, warum er nicht sowieso schon Aufforstung und Rekultivierung betreibt und warum er Greenwashing zulässt.

In unserem Beispiel hat Shell "carbon credits" erworben und eingelöst, um Erdgas, das per Fracking gefördert und unter hohem Energieverbrauch verflüssigt wurde, vermeintlich sauber zu waschen. Womöglich wird das LNG quer über den Atlantik geschippert, in Europa in Gas zurückverwandelt und verbrannt. Wobei dann - real und nicht bloß rechnerisch - das Treibhausgas Kohlenstoffdioxid freigesetzt wird.

Das Versprechen, "naturbasierte Lösungen" könnten entscheidend zur Bewältigung der Klimakrise beitragen, erweist sich aus verschiedenen Gründen als unhaltbar. Würde man zum Beispiel die Fläche addieren, die laut den Absichtserklärungen von Erdölkonzernen, Fluggesellschaften und vielen Branchen mehr in die Aufforstung gesteckt werden sollen, um klimatechnisch auf "netto null" zu kommen, müssten viele Flächen doppelt, dreifach oder vierfach belegt werden. Sie stehen überhaupt nicht zur Verfügung.

Ähnlich wie der Konsum der Industriegesellschaften zu Lasten der endlichen Ressourcen und zum Überschreiten von Belastungsobergrenzen führt - Deutschland hat in diesem Jahr bereits den "Erdüberlastungstag" erreicht und lebt bis Ende des Jahres auf Pump -, wäre rechnerisch die verfügbare Landfläche mehrerer Erden zur Aufforstung als Gründen der Kohlenstoffspeicherung erforderlich.

Naturbasierte Lösungen zur Bewältigung der multiplen Krisen der Erdsysteme sind ein Beispiel dafür, wie vielleicht noch so gut gemeinte Natur- oder Umweltschutzideen von eben jenen, die damit in die Schranken gewiesen werden sollen, übernommen, verwässert oder sogar ins Gegenteil verkehrt werden. Das Ausmaß, mit dem auf diese Weise neue Verfügungsrechte über das Land der indigenen Gemeinschaften geworfen werden, lässt sich noch gar nicht absehen. Die Erfahrungen lehren, dass mit solchen Innovationen die Schraube der kolonialen Unterwerfung weiter angezogen wird.

Dabei erfolgt der Zugriff nicht unbedingt an klar erkennbaren Grenzen. Die Verfügbarmachung von Land und Leuten findet auf der ganzen Welt nahezu zeitgleich statt. Es werden nicht in jedem Fall eindeutige Fronten geschaffen, an denen sich Menschen aufbäumen und denen sie widerstehen könnten. Der Run auf naturbasierte Lösungen ist eher mit einer Flut im Wattenmeer zu vergleichen: Das Wasser kommt nicht aus einer Richtung, sondern steigt aus dem Untergrund her an und ist plötzlich überall da. Zur Verschleierung dessen, was zur Zeit vor sich geht, trägt auch bei, dass unter dem Label "naturbasierte Lösungen" unterstützenswerte Projekte neben Greenwashing-Vorhaben stehen. Letztere scheinen deutlich zu überwiegen. Am Ende wird vermutlich eine Welt entstehen, in der die letzten Indigenen und Landlosen den globalen Klima- und Naturschutz mit der Preisgabe ihrer relativen Autarkie für den expansiven, zerstörerischen Lebensstil in den Metropolen und wohlhabenderen Regionen der Erde bezahlen mussten.

16. Mai 2022


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 174 vom 21. Mai 2022


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