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RESSOURCEN/124: Marinezensus vor Abschluß - cui bono? (SB)


Erfassung aller marinen Arten dient dem Erhalt der Biodiversität, aber auch der Verwertung "interessanter" Wirkstoffe durch die Industrie


Ein zehnjähriger Zensus aller Meereslebewesen soll noch in diesem Jahr abgeschlossen werden. Im Oktober wird der Katalog mit schätzungsweise 230.000 Arten, die in 25 ausgesuchten Meeresgebieten gefunden wurden, fertiggestellt sein und im freien Wissenschaftsmagazin PLoS One präsentiert werden. Unterschiedliche Interessengruppen sind an einer solchen "Volkszählung im Meer" interessiert. An vorderster Stelle Wissenschaftler, die neue Arten erfassen wollen, bevor sie aussterben. Auch Umweltschützer sind zu nennen, denn auf der Grundlage der Datensammlung lassen sich Veränderungen der Bestände an Mikroorganismen, Krill, Krebstieren, Fischen und auch Meeressäugern feststellen. Bei aller Begeisterung ob des großen Unterfangens sollte allerdings nicht vergessen werden, daß unter anderem die Biotech- und Pharmaindustrie ein großes Interesse an der Entdeckung neuer Arten hat. Davon versprechen sie sich neue Wirkstoffe. Ebenfalls könnten die Zensusdaten in die Erstellung von Fangquoten einfließen - Nutzeffekte, die im Widerspruch zum Anliegen mancher Forscher und sicherlich der meisten Umweltschützer liegen.

Der Zensus zeigt, daß Fische und andere Meeresbewohner der registrierten 17.000 Arten des Mittelmeers besonders gefährdet sind. Ähnlich sieht es im Golf von Mexiko mit knapp 15.000 Arten und dem Chinesischen Meer mit 22.000 Arten aus. Die Forscher hatten die von ihnen ausgewählten 25 Meeresgebiete nach sieben verschiedenen Kriterien, zu denen Überfischung, Verlust an Lebensraum und Temperaturveränderung gehören, untersucht. Der hohe Nährstoffeintrag durch die Düngung in der Landwirtschaft sowie ungeklärte Abwässer forcieren das Algenwachstum und führen zum Sauerstoffverlust, da die Algen wiederum die Bakterienvermehrung anregen und diese den Sauerstoff verbrauchen. Es entstehen hypoxische Zonen, in denen kein höheres Leben existieren kann und die deshalb auch tote Zonen genannt werden.

Wohlstandsmüll in allen Meeresgebieten und auf allen Stufen der Zersetzung, das heißt in erster Linie der mechanischen Zerkleinerung, macht besonders den Fischen zu schaffen, da sie den Müll schlucken, aber nicht verdauen können. Hier nimmt das Mittelmeer einen vorderen Platz ein. Darüber hinaus wurden während des Kosovokriegs vor allem von der NATO größere Mengen Bomben über dem Meer abgeworfen. In der adriatischen See dürfte auch die italienische Mafia den einen oder anderen Frachter mit Giftmüll oder Nuklearabfall versenkt haben. Die Einwanderung fremder Arten kann im Mittelmeer ebenfalls zu einem Problem werden. Dort wurden 600 "alien species" entdeckt, das macht einen Anteil von rund vier Prozent aller im Mittelmeer lebenden Arten aus. Der Schiffsverkehr über den Suez-Kanal dient dabei als Schleuse für die Eindringlinge.

Generell haben die Forscher des Marinezensus einen beträchtlichen Artenschwund festgestellt. Krebstiere beispielsweise erreichen nur noch fünf bis zehn Prozent ihrer früheren Bestände. Da sich die Ozeane im Rahmen der Klimaveränderungen weiter erwärmen und sie zunehmend versauern, rechnen Forscher in der Zukunft mit einer beträchtlichen Beschleunigung des Artenverlustes.

Ungeachtet des zweifellos vorhandenen Nutzens des Marinezensus für den Schutz der Arten, bleibt die Zählung ein zweischneidiges Schwert. Die Geschichte der Eroberung Nord- und Südamerikas sowie Afrikas durch die Europäer hat gezeigt, daß den Trappern und Forschungsreisenden die Soldaten folgten und diesen wiederum die Händler und andere Unternehmer. Soll der Marinezensus nicht Vorläufer sein für die rücksichtslose Ausbeutung der Meere, so wie die Landnahme der Regel folgte, daß sich der Stärkere durchsetzt, dann sollten die Verantwortlichen des Marinezensus und der jeweiligen Nachfolgeprojekte einer solchen Entwicklung frühzeitig gegensteuern.

4. August 2010