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BERICHT/040: Down to Earth - Spuren des Wandels (SB)


Privatdozent Dr. Ingo Hahn spricht über bedrohte Endemiten auf der Robinson Crusoe-Insel

IGC 2012 - Weltkongreß der Geographie vom 26. bis 30. August 2012 an der Universität Köln



Ein Hurrikan begann aus Südosten, sprang auf Nordwesten um und kam dann aus Nordosten, von wo er mit so furchtbarer Gewalt tobte, daß uns zwölf Tage lang nichts übrig blieb, als dahinzutreiben, vor ihm herzujagen und uns wegtragen zu lassen, wohin es dem Schicksal und der Wut des Sturms beliebte. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß ich an jedem dieser zwölf Tage erwartete, vom Meer verschlungen zu werden, und niemand auf dem Schiff glaubte, er werde mit dem Leben davonkommen. In dieser Not, während es immer noch heftig stürmte, rief früh an einem Morgen einer unserer Leute: 'Land!', und wir waren aus der Kajüte gelaufen, um hinauszublicken, wo in aller Welt wir uns befanden.
(aus der ersten Seite des Romans von Daniel Defoe: Robinson Crusoe)
Robinson Crusoe Insel - 2010 by Jardín Botánico Nacional, Viña del Mar, Chile, unter Lizens CC-BY-NC-ND 2.0 freigegeben via flickr[2]

'Land' und Lebensraum für speziell angepaßte Endemiten[1]
Foto: 2010 by Jardín Botánico Nacional, Viña del Mar, Chile, unter Lizens CC-BY-NC-ND 2.0 freigegeben via flickr[2]

Mit diesen Worten beschreibt Daniel Defoe in seinem Roman "Robinson Crusoe" dessen abenteuerliche Schiffsreise und Ankunft an dem einsamen Eiland, einer der drei Inseln des Juan Fernandez-Archipels. Und mit diesen Worten beginnt auch ein unterhaltsam zu lesender Reisebericht [3] des Ökologen PD Dr. Ingo Hahn, den er bereits 2008 über seine Forschungsreisen zu den kleinen Inseln im Südpazifik schrieb. Daß der Forscher einer der seltenen Endemiten sein muß, die man gemeinhin Glückspilz nennt, leuchtet dem Leser dieser Lektüre sofort ein. Konnte er doch als einer von wenigen den Traum vieler junger Geographen, die mit ihrem Studium Universalgelehrten und Naturforschern wie Alexander von Humboldt (1769-1859) oder Charles Robert Darwin (1809-1882) nacheifern, für sich selbst mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit und eben einer wohl ziemlich großen Portion Zufall durchsetzten. Schließlich gehört die rein beobachtende Erforschung und auch das Entdecken seltener und zumeist nur auf eine kleine Region begrenzter Pflanzen und Tierarten, sogenannter Endemiten, nicht gerade auf den Prioritätenkatalog geförderter Projekte, da sie sich nicht lukrativ vermarkten lassen und gemeinhin auch wenig Lösungsansätze für die brennenden Probleme auf der Welt versprechen, weshalb diese Disziplin unter den Vertretern moderner Umweltwissenschaften gerne wohlwollend belächelt wird.

Doch die auf die Errungenschaften menschlicher Zivilisationen zurückzuführenden globalen Veränderungen machen auch vor den letzten paradiesischen Zufluchtsorten forschender Abenteurer und Träumer nicht Halt.

Das Erdbeben im Indischen Ozean 2004, der Hurrikan Katrina in den USA 2005 oder das Erdbeben von Haiti 2012 machen deutlich, daß wir bereits auf einem äußerst unruhigen Planeten leben. Besonders die Folgen des Klimawandels lassen eine Zunahme von Naturkatastrophen erwarten: Küstennahe Gebiete und Inseln sind durch den Anstieg des Meeresspiegels besonders gefährdet, außergewöhnlich starke Niederschläge bedrohen Landstriche in Europa und den USA, Wirbelstürme und Hurrikans, wie der oben bei Defoe beschriebene, gehören praktisch schon zur Tagesordnung, Trockenperioden und sommerliche Hitzewellen verursachen unter anderem in weiten Teilen Afrikas lebensbedrohliche Dürren. Auch wenn es sich bei den Naturkatastrophen bisher nur um Vorboten oder Warnschüsse eines noch zu erwartenden Schreckensszenarios handelt, deren Konsequenzen weder für Klimaforscher noch für Geographen vollständig erforscht sind, so wird oft bereits an sehr unscheinbaren Beispielen offensichtlich, daß sich die Entwicklung in sehr kleinen Bereichen oder in fragilen Ökosystemen schon aufgrund einer einzigen einschlägigen Veränderung gewissermaßen selbst überholen und eine Spezies vollständig vernichten kann.

PD Dr. Ingo Hahn - Foto: © 2012 by Schattenblick

Landschaftsökologe und passionierter Naturschützer des Juan Fernandez-Archipels
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ingo Hahn sprach am 29. August 2012 in einer Sondersession einer IGU Commission Gruppe über Erdbeben und Tsunamis auf dem Weltkongreß der Geographie in Köln über den möglichen Einfluß von Tsunamis auf bedrohte insulanische Ökosysteme (Tsunami impacts on a threatened island ecosystem) am Beispiel des Chile Tsunamis von 2010.

Karte der Region - Graphik: 2011 by Gi, unter Creative Commons Lizenz 3.0 Unported, freigegeben via Wikimedia

Die Wellen des Erdbebens vor der Küste Chiles waren bis Japan spürbar
Graphik: 2011 by Gi, unter Creative Commons Lizenz 3.0 Unported, freigegeben via Wikimedia

Naturkatastrophen, also auch Flutwellen oder auch Tsunamis stehen durchaus auf der Liste mutmaßlicher Ursachen für das Artensterben. Aber bisher konnten die Auswirkungen von Naturkatastrophen auf ein Ökosystem noch nie dokumentiert werden. Das liegt zum einen daran, daß Flutwellen selten höher in dem Bereich zwischen 25 bis 50 Meter in die Inselregion eindringen, so daß sich die dort heimischen Tiere normalerweise in höhere Gebiete zurückziehen und dort überleben können. Zum anderen fehlen einfach Aufzeichnungen über Bestände und Populationen vor dem Unglück.

Aufgrund seiner Passion für das Archipel, die ihn die Flora und Fauna dieser Inseln seit 1992 systematisch katalogisieren ließen, konnte der Referent in diesem speziellen Fall auf eine reichhaltige Datensammlung zurückgreifen, so daß durch seine Arbeit erstmals die Möglichkeit besteht, mit Daten über die Bodenbeschaffenheit, die Vegetation und den Vogelbestand aus der Zeit vor der Katastrophe, erstmals einen Einblick in die verheerenden Auswirkungen auf die Natur der Insel zu gewinnen.


Was bisher geschah

Am 27. Februar 2010 wurde neben den Küstengebieten des chilenischen Festlandes auch die 600 km von der Küste entfernt liegende, kleine Inselgruppe der Juan-Fernández-Inseln von einer großen Welle getroffen. Ursache war ein Erdbeben vor der Küste Chiles, das mit einer Stärke von 8,8 auf der Momenten-Magnituden-Skala als stärkstes Erdbeben der letzten 50 Jahre in dieser Region registriert wurde. Im Verlauf der tektonischen Umbrüche wurde die gesamte Stadt Concepcion um 3,04 Meter nach Westen verrückt. Selbst das nicht im Epizentrum gelegene Santiago de Chile soll um 28 Zentimeter gen Westen verschoben worden sein. Auf dem Festland wurden allein über 500 Todesopfer und mindestens 200 Vermißte gemeldet. Vor allem aber "in wirtschaftlicher Hinsicht" sei dies mit einer geschätzten Schadenssumme von 30 Milliarden die schlimmste Katastrophe gewesen, die Chile je heimgesucht habe, hieß es am 16. März 2010 in Spiegel Online. Die Auswirkungen auf Fauna und Flora waren hier eher ein Nebenthema.

Unter den 800 Einwohnern der nur 47 Quadratkilometer kleinen Robinson Crusoe-Insel waren fünf Todesopfer und elf Vermißte zu beklagen. Weitere folgenschwere Schäden, die der Tsunami hier hinterließ, können allerdings erst auf den zweiten Blick in ihrer Tragweite erfaßt werden. Sie kommen dadurch zustande, daß, wie Dr. Hahn erklärte, Inseln an sich schon die am leichtesten angreifbarsten Ökosysteme beherbergen und daher die am meisten bedrohten Tierarten gemeinhin auch auf Inseln oder sonstwie abgeschlossenen Naturreservaten zu finden sind. Danach wären allein 95 Prozent aller bereits ausgestorbener Vogelarten Inselbewohner, deren Lebensräume (Habitate) von Menschen besiedelt und durch die Einführung neuer Freßfeinde (Prädatoren) oder durch Beanspruchung der gleichen Nahrungsgrundlagen aufs lebensfeindlichste verändert wurden.

Kleiner brauner Vogel mit langem Schnabel, der an einer Blüte saugt - Foto: 2010 by Héctor Gutiérrez Guzmán, Creative Commons Attribution 2.0 Generic, freigegeben via Wikimedia - ursprünglich uploaded http://flickr.com/photo/33769328@N03/4369344300 using Flickr upload bot

Juan Fernandez Firecrown, ein Kolibri, dessen ökonomische Nahrungsaufnahme aufgrund eingeführter Freßfeinde schnell zum Verhängnis wird
Foto: 2010 by Héctor Gutiérrez Guzmán, Creative Commons Attribution 2.0 Generic, freigegeben via Wikimedia
ursprünglich uploaded http://flickr.com/photo/33769328@N03/4369344300 using Flickr upload bot

Auf der Robinson Crusoe-Insel stellten für den nur hier siedelnden Juan Fernández Firecrown-Kolibri (Stephanoides fernandensis) die von den Menschen eingeführten Ratten, Katzen und Nasenbären ohnehin eine solche Bedrohung dar. Bar solcher Freßfeinde hat sich diese Kolibriart das für die Trochilidaen übliche "auf der Stelle fliegen" beim Nektartrinken abgewöhnt. Sie lassen sich zum Saugen auf den Blüten nieder, um Energie zu sparen. Diese Angewohnheit macht sie zu einer leichten Beute für die eingeführten Nagetiere, die nicht zu ihrem ursprünglichen Ökosystem gehören. Aus diesem Grund steht der kleine Vogel bereits seit 1994 auf der roten Liste aussterbender Arten. In den letzten Jahren vor 2010 hatten sich der Bestand allerdings laut Ingo Hahn auf 1280 Individuen stabilisiert. Ein Jahr nach dem Tsunami vom 27. Februar hatte sich diese Zahl auf 740 Individuen verringert.

Gelbe Blüte des Cabbage Tree - Foto: 2008 by James Gaither, unter Lizens CC-BY-NC-ND 2.0 freigegeben via flickr[4]

Eine Blüte des Cabbage Tree (Dendroseris litoralis), der höchstens vier Meter hoch und 15 Jahre alt wird.
Foto: 2008 by James Gaither, unter Lizens CC-BY-NC-ND 2.0 freigegeben via flickr[4]

Dies sei laut Ingo Hahn nicht allein auf den direkten Einfluß zurückzuführen, sondern man müsse hier den Einfluß auf das gesamte Ökosystem betrachten, bei dem auch der Humusboden und eine darauf besonders angewiesene Pflanzenart eine Rolle spielen, von der sich der Firecrown-Kolibri während der Herbstmonate hauptsächlich ernährt. Die Exemplare des umgangssprachlich Cabbage Tree genannten Blütenbaums (botanischer Name: Dendroseris litoralis) waren durch den Tsunami, der vor allem die mittelgroßen Bäume, zu denen vor allem auch der Cabbage Tree gehört, erfaßte, von 153 Bäume auf nur mehr 66 reduziert worden, was eine sehr große Zerstörungsrate für nur wenige Stunden bedeutet. Da auch die humushaltigen Böden von 56 Prozent aller katalogisierten Gebiete (2009) nach dem Tsunami auf nur noch 35 Prozent reduziert waren, kann man von einer fast kompletten Zerstörung eines Ökosystems sprechen: Humusboden - Futterpflanze und Kolibri. Ohne äußere Hilfe hätte dieses komplexe und fragile System nur noch wenig Chancen. Denn die alternativen bevorzugten Futterstellen, die Blumenrabatten in den Vorgärten der Siedlung, wurden gleichfalls durch den Tsunami zerstört.

Die Aufforstung des Cabbage Trees ist schon einmal in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geglückt. Damals hatte man nur noch drei Exemplare des endemischen Baums vorgefunden. Der Nationalpark hatte Samen gesammelt, mühevoll angezogen und in der Siedlung angepflanzt und gepflegt. Eine neuerliche Aufforstung müßte allerdings in höheren Lagen stattfinden, damit künftige Flutwellen sie nicht mitsamt des ebenfalls neu anzuschaffenden Bodens wieder ins Meer spülen, womit der Referent etwas andeutete, was hier allerdings in letzter Konsequenz nicht ausgesprochen wurde:

Der Tsunami von 2010 läßt sich auf ein schweres Erdbeben vor der Küste der Region Maule in Chile zurückführen, doch gegen die Auswirkungen künftiger, klimatisch bedingter Unwetterphänomene und Naturkatastrophen des gleichen Kalibers müssen bereits jetzt Maßnahmen getroffen werden. Ob mit dem Verpflanzen von Baumarten in andere Ökosysteme des Habitats, eine der wenigen hilflosen letzten Maßnahmen, überhaupt etwas zu tun, nicht wieder der Mensch in Lebensräume eingreift und sie für noch unscheinbarere Lebensformen vernichtet, ist eine Frage, die sich angesichts dieses Beispiels geradezu von allein beantwortet...

In der Bucht versteckte Häuser - Foto: 2005 by Serpentus, unter Creative Commons Lizenz 3.0 Unported, freigegeben via Wikimedia

Die Siedlung San Juan Bautista vor dem Tsunami
Foto: 2005 by Serpentus, unter Creative Commons Lizenz 3.0 Unported, freigegeben via Wikimedia

Fußnoten:

[1] Als Endemiten werden in der Biologie Tier- oder Pflanzenarten bezeichnet, die nur in einer bestimmten, räumlich klar abgegrenzten Umgebung vorkommen. Diese sind in diesem Gebiet endemisch.

[2] weitere Bilder hierzu siehe URL:
http://www.flickr.com/photos/fjbn/4737170585/in/photostream/

[3] Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
https://portal.dnb.de/opac.htm?method=showFullRecord&currentResultId=Ingo+Hahn%26any&currentPosition=10

oder als Pdf-Datei:
http://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/landschaftsoekologie/mitarbeiter/hahn/2008_-_hahn_-_ich_war_robinson_-_3.pdf

[4] weitere schöne Abbildungen der nektarreichen Cabbage Tree Blüten siehe auch URL:
http://www.flickr.com/photos/jim-sf/2754769515/

Weitere Berichte und Interviews zum Weltkongreß der Geographie 2012 in Köln finden Sie, jeweils versehen mit dem kategorischen Titel "Down to Earth", unter
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21. November 2012