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BERICHT/046: Down to Earth - am Beispiel Nepal (SB)


Dr. Andrea Nightingale zur Gewalt bei der Transformation Nepals von der Monarchie zur Republik

IGC 2012 - Weltkongreß der Geographie vom 26. bis 30. August 2012 an der Universität Köln



"Im Jahr 2012 befindet sich Nepal im Zustand des Chaos. Es kommt anscheinend nur noch darauf auf, wer seine Muskeln am stärksten spannen kann. Seit dem Ende des Bürgerkriegs verändert sich etwas: Es treten vermehrt Gruppen auf, von denen Gewalt ausgeübt wird. Darüber sollten wir uns Sorgen machen ..."

Mit diesen Worten schloß die Geographin Dr. Andrea Nightingale ihren Vortrag "Violence in Shangri-la: Post-conflict politics and the establishment of the new Republic of Nepal" (Gewalt in Shangri-La: Postkonfliktpolitik und die Etablierung der neuen Republik von Nepal) am 28. August 2012 auf dem Weltgeographiekongreß in Köln. Doch beließ die Referentin es nicht bei dieser düsteren Aussicht, sondern schickte unmittelbar hinterher: Wenngleich die Logik des Kriegs in Form von Gewalt und Einschüchterung ins Alltagsleben vorgedrungen sei, spiegele das nicht Nepals Möglichkeiten zur Transformation wider, wie sie 2006 bestanden hätten. Der Staat werde aufgebaut, und zwar durch die alltäglichen Vorgänge.

Referentin beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Andrea Nightingale
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Referentin, die seit Jahren zu Nepal forscht, hat am Beispiel dieses zentral-südasiatischen Binnenstaats untersucht, welche Rolle Gewalt bei der Staatsgründung spielte. Zugleich wollte sie wissen, wie es geschehen konnte, daß mehr und mehr Gewalt in das Alltagsleben eindringt und wie sich dadurch die Vorstellung der Menschen sowohl von der Rolle des Staates als auch von ihrer eigenen als Staatsbürger verändert.

Bevor sie diese und weitere Fragen aufwarf, verhalf die Forscherin den anwesenden Kongreßteilnehmerinnen und -teilnehmern zu einem kurzen Einblick in die jüngere Geschichte des Landes; von der SB-Redaktion ergänzt wurde die Chronologie um einige Eckdaten vor allem aus jüngster Zeit.

1990 - Das Einparteiensystem wird abgeschafft, Nepal wird konstitutionelle Monarchie.

1996 - Die KPN-M (Kommunistische Partei Nepals - Maoisten) nimmt den bewaffneten Kampf gegen die Monarchie und das (offiziell 1963 abgeschaffte, aber faktisch noch vorhandene) Kastensystem auf.

2001 - König Birendra kommt bei einem von seinem Sohn, Kronprinz Dipendra Bir Bikram Shah Dev, angerichteten Massaker ums Leben. Der Attentäter richtet sich selbst, die Macht übernimmt der Bruder des Königs, Gyanendra Bir Bikram Shah Dev.

2005 - König Gyanendra Bir Bikram Shah Dev erklärt sich zum absoluten Herrscher.

2006 - Ende des Volkskriegs, dem etwa 12.000 Menschen zum Opfer fielen. Unter anderem mit Hilfe eines Generalstreiks wird ein Schlußstrich unter den absoluten Machtanspruch des Königs gesetzt. Ende des Volkskriegs, dem etwa 12.000 Menschen zum Opfer fielen. Wiedereinsetzung des Parlaments. Gründung einer Übergangsregierung aus sieben Parteien.

2008 - Verfassungsgebende Versammlung besiegelt Ende der Monarchie. Nepal wird föderale demokratische Republik. Bei Parlamentswahlen werden Maoisten mit 30 Prozent der Stimmen stärkste Partei. Ram Baran Yadav (Nepalesische Kongresspartei) wird erster Präsident der Republik Nepal; Premierminister wird der Parteivorsitzende der Maoisten und ehemalige Kommandant der Volksbefreiungsarmee PLA, Pushpa Kamal Dahal, genannt Prachanda.

2009 - Rücktritt von Premierminister Prachanda.

2011 - Neuer Premierminister wird Jhala Nath Khana von der Kommunistischen Partei Nepals - Vereinigte Marxisten Leninisten (KPN-UML). Nach rund sieben Monaten, im August dieses Jahres, muß er zurücktreten. Baburam Bhattarai vom gemäßigten Flügel der KPN-M wird sein Nachfolger.

Mai 2012 - Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung.

30. Dezember 2012 - Nach bereits mehrfachem Verschieben legt Präsident Ram Baran Yadav als neues Datum zur Einigung auf eine Nationale Regierung den 4. Januar 2013 fest. Parlamentswahlen sollen im April, Mai 2013 stattfinden.

30. Dezember 2012 - Unzufriedene Politiker gründen die Sozialdemokratische Partei, nachdem andere bereits am 22. November die Unabhängige Sozialistische Partei Nepals gegründet hatten, der sie sich jedoch nicht anschließen wollten.

Eine Gruppe von Führungskräften der KPN-M nebeneinander stehend - Foto: Krish Dulal, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Führer der KPN-M, 29. August 2011. Generalsekretär Mohan Baidya (zweiter von links), der Parteivorsitzende und ehemalige Premierminister Prachanda (dritter von links), Premierminister Baburam Bhattarai (vierter von links)
Foto: Krish Dulal, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Bei der Erörterung der Gewalt in Nepal hat Nightingale zwischen physischer und struktureller Gewalt unterschieden. Durch die physische Gewalt könne es zu dramatischen Verschiebungen der Machtverhältnisse kommen, erklärte sie. Wobei sie in diesem Zusammenhang nicht das allzu naheliegende Beispiel des Attentats auf König Birendra und damit ein spektakuläres Einzelereignis wählte, sondern erklärte, daß Attentäter in Nepal leicht zu haben seien und auch auf lokaler Ebene Staatsbeamte getötet und damit aus dem Verkehr gezogen würden. Zudem würden durch den Einsatz physischer Gewalt die Behörden daran gehindert, ihre Arbeit zu tun. Allgemein werde Furcht verbreitet. Die Referentin hegt die Hoffnung, daß sich bei der Untersuchung der Frage, wo sich physische und strukturelle Gewalt überschneiden, ein wichtiger Standpunkt für die "Geographie der Gewalt" abgewinnen läßt.

In Nepal habe der Staat stets Gewalt ausgeübt, um seine Souveränität [1] zu wahren. Sie möchte mehr über Gewalt herausfinden und sprach von einer "black box", die geöffnet werden sollte. Es komme nicht immer auf die gleiche Weise zu Gewalt und diese habe nicht immer die gleichen Auswirkungen, gab sie einige Erkenntnisse, wenngleich nicht überraschende, wieder. Man sollte den Unterschied zwischen struktureller und physischer Gewalt intensiver untersuchen, forderte sie. Strukturelle Gewalt werde immer als Auslöser für den Volksaufstand in Nepal genannt, zu ihr komme es durch sehr starke Ungleichheiten und ein höchst unterschiedliches Ausmaß der Kontrolle über die Ressourcen.

Die Auswirkungen diese Gewaltform seien durchaus folgenschwer, weil durch sie das Wohlbefinden und die Ernährungslage der Einwohner sowie ihre Fähigkeit, tägliche Bedürfnisse zu stillen, stark eingeschränkt werden können. Das sei aber nicht das gleiche wie physische Gewalt, betonte Nightingale, die vormals an der Universität von Edinburgh gearbeitet hat und mittlerweile als assoziierte Professorin an der School of Global Studies der Universität von Göteborg in Schweden tätig ist.

Wir müssen theoretisch begreifen, worin die Unterschiede liegen und was die beiden Formen der Gewalt "an unterschiedlichen Auswirkungen auf Macht" haben, forderte die Referentin. In diesem Anliegen zeigt sich deutlich der Einfluß poststrukturalistischer Ein- und Auslassungen des französischen Soziologen und Philosophen Michel Foucault, der sich in seinen Arbeiten viel mit Gewalt befaßt hat. Mindestens seit den 1940er Jahren seien in Nepal politische Dissidenten unterdrückt und gefoltert worden; Polizei und Militär hätten Leute verschwinden lassen, berichtete Nightingale, die unter anderem darauf ihre Aussage abstützte, daß die Härte gesellschaftlich verankert, "dem nepalesischen Charakter inhärent" sei.

Ein etwas unscharfes Bild entwarf die Referentin von der Verbreitung häuslicher Gewalt in Nepal. Einerseits erklärte sie, daß Gewalt auch in vielen Familien vorkomme. Kinder würden regelmäßig geschlagen, Frauen ebenfalls, wenn sie ihren Ehemännern nicht gehorchten. So etwas gehöre zum "häuslichen Raum" dazu. Andererseits betonte sie, daß das Image vom friedlichen Shangri-La auch wiederum nicht so weit von der Wahrheit entfernt läge. Offene physische Gewalt sei nicht Teil des Alltagslebens. Sie habe sehr gute Freunde in Nepal, die es strikt ablehnten, Kinder zu schlagen.

Familie in einem für sich stehenden, unter anderem mit dem kommunistischen Hammer-und-Sichel-Zeichen rot und blau bemalten Torbogen aus Stein, im Hintergrund Häuser - Foto: Pavel Novak, freigegeben als CC-BY-SA-2.5 Generisch via Wikimedia Commons

Dorfbewohner in einem von Maoisten kontrollierten Tal in Nepal, 14. Oktober 2005
Foto: Pavel Novak, freigegeben als CC-BY-SA-2.5 Generisch via Wikimedia Commons

Die Maoisten der Volksbefreiungsarmee hätten systematisch und gezielt Gewalt angewendet, um staatlichen Akteuren in ganz Nepal Schaden zuzufügen. Dabei seien aus strategischen Gründen auch Individuen, die als Klassenfeinde bezeichnet worden seien, angegriffen worden. Die eigentliche Absicht der Rebellen habe jedoch in der Zerstörung von Infrastruktur und in Attacken auf Polizeidienststellen und Militärposten bestanden. Das Verhältnis der Maoisten zu physischer und struktureller Gewalt sei von Widersprüchen geprägt, hätten sie letztere Gewaltform doch als Rechtfertigung für ihr eigenes gewaltsames Vorgehen genommen.

Fraglos hätten die Maoisten viele Aspekte des Lebens in Nepal verändert. Vor allem habe es sehr dramatische Verschiebungen in der Macht und vielerlei Veränderungen hinsichtlich der Orte der Souveränität [1] gegeben. So seien zuvor benachteiligte Personen aus ganz Nepal an die Macht gekommen und hätten unter anderem den Diskurs, was Gerechtigkeit sei, beeinflußt und sich im Zuge dessen unterschiedlicher Mittel bedient, einschließlich der Bildung von Banden, um zu erhalten, was sie haben wollen.

Wenn man sich anschaue, wie, wo und warum Gewalt angewendet werde, stelle man fest, daß die Logik der Macht die gleiche geblieben ist, nahm die Geographin wieder Anleihen am poststrukturalistischen Jargon. Souveränität sei ganz sicher ein Grund für Gewaltanwendung, auch das Streben danach, wer herrsche.

Rote Fahnen und Tücher als Durchgang bei einem steinigen Aufstieg zu mehreren, vermutlich Gebäuden - Foto: Steve Hicks, Liverpool (UK), freigegeben als CC-BY-2.0 Generisch via Wikimedia Commons

Begrüßungstor der Maoisten - Touristen in Nepal waren auch während des Bürgerkriegs willkommen, 1. April 2007 Foto: Steve Hicks, Liverpool (UK), freigegeben als CC-BY-2.0 Generisch via Wikimedia Commons

Was hat sich in den letzten Jahren seit der Gründung der Republik Nepal verändert?, fragt die Referentin und berichtet, daß sich viele der früheren maoistischen Kämpfer kriminellen Banden (Gundas) angeschlossen haben und daß von diesen nun ebenfalls Gewalt ausgehe. Es gebe mehr solcher Gruppen als früher, wobei die Forschung nicht wisse, ob die Gewalt, die während des bewaffneten Kampfs erprobt worden sei, in neuen Formen Anwendung gefunden habe. Das alles müsse noch genauer untersucht werden, vor allem hinsichtlich ethnischer Gruppen (die von anderen Ethnien beschuldigt werden), bevor man sie als kriminelle Banden diskriminiere.

Sicher sei, daß der Gebrauch von Gewalt in viele Bereiche des Lebens eingedrungen ist. Die Maoisten, aber auch andere Gruppen begründeten dies mit Verweis auf historisch gewachsene Ungleichheiten der nepalesischen Gesellschaft. Aber die Konflikte zeigten, daß die Rechtfertigungen, Räume, Orte und Ziele von Gewalt nicht vorhersagbar oder notwendigerweise konsistent sind.

In der Postkonfliktära ab 2006 habe sich schließlich ein sehr enges Verhältnis zwischen politischen Parteien, NGOs und Contracters (eigentlich: Lieferanten, hier: Auftraggeber für Entwicklungsprojekte) herausgebildet. Das sei eine Folge des großen Zustroms an ausländischen Geldern, die in den Aufbau Nepals gesteckt werden. Auch das habe zur Unruhe und zur Zunahme der Gewalt beigetragen. Denn nun konkurrierten die politischen Parteien um die Gelder, mit denen eigentlich die Entwicklung Nepals gefördert werden sollten. Korruption und das Ringen um Aufträge sei inzwischen zu einer Konstante im Leben der Nepalesen geworden.

Unerwähnt ließ die Referentin, daß China, Indien und auch die USA über die Bereitstellung von Hilfsgeldern, die Finanzierung von Projekten oder den Ausbau der Infrastruktur versuchen, ihren Einfluß in Nepal zu Lasten der jeweils anderen zu erweitern. Der Himalayastaat, jeweils mit einer langen Grenze zu den traditionell miteinander konkurrierenden Staaten Indien im Süden und China im Norden, ist auch Austragungsort für kontroverse geopolitische Interessen.

Physische Karte Nepals - Foto: Captain Blood, freigeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Nepal ist der höchstgelegene Staat der Erde
Foto: Captain Blood, freigeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

So hatte Indien zunächst die Regierung Nepals gegen die Maoisten, die sich am "Leuchtenden Pfad" der Maoisten in Peru orientiert hatten, unterstützt. Als diese aber ihre Stellungen ausbauten und sich abzeichnete, daß, abgesehen von ihnen, auch andere gesellschaftliche Kräfte dem unbeliebten König nicht die Fahne halten wollten, paßte die indische Regierung ihre Politik den Gegebenheiten an, handelte maßgeblich den Friedensvertrag mit aus, um auf diese Weise den Einfluß der Maoisten einzudämmen. Der Hintergrund dieser Politik der Umarmung (sprich: Vereinnahmung) ist heute noch so aktuell wie damals: Die indische Armee bekämpft im eigenen Land ebenfalls maoistische Untergrundbewegungen, die Naxaliten. Zu diesen wird auch die Kommunistische Partei Indiens - maoistisch (KPI-M) gezählt, die gute Beziehungen zur nepalesischen KPN-M unterhält. Ein grenzüberschreitendes Kampfbündnis galt es aus Sicht der indischen Zentralregierung unter allen Umständen zu verhindern.

Im Anschluß an den Vortrag wurde aus dem Publikum die Aussage Nightingales von der "inhärenten" Gewalt in der Gesellschaft Nepals in Frage gestellt. Er sei der Ansicht, so ein Kongreßteilnehmer, daß die Aussage, daß der Nepalese an sich gewalttätig ist, im sozialen Kontext die gleiche Aussage sei wie umgekehrt, daß Nepalesen friedliche Menschen sind. Er stamme aus Thailand, da werde auch gesagt, das seien friedliche Menschen. Aber: "Wir bekämpfen uns von Zeit zu Zeit! Das sagt nicht viel!"

Die Referentin ließ den Einwand nicht stehen. Gewiß, überall könne man lesen, daß historisch gewachsene, strukturelle Ungleichheit den Konflikt ausgelöst und den Maoisten Zustrom aus allen Schichten Nepals eingebracht hätte. Es sei tatsächlich keine Frage, daß die Rebellen in allen Bereichen der Gesellschaft rekrutieren konnten, was sicherlich teilweise zum Erfolg 2006 (Absetzung des Königs) und 2008 bei den Parlamentswahlen (stärkste Partei) beigetragen habe. Aber sie fände es interessant, daß die Maoisten selber in ihren Reden nicht ausschließlich von struktureller Gewalt, sondern auch vom sogenannten "inhärenten gewalttätigen Charakter" der Nepalesen gesprochen hätten.

Eine weitere Frage lautete, was ihre Arbeit mit Geographie zu tun habe. Beim Stichwort Staatsgründung würde er eigentlich erwarten, daß über die räumliche Ausdehnung eines Staates, horizontal und vertikal, gesprochen werde. Nightingale nahm in ihrer Erwiderung Bezug auf den häufig bemühten Spruch, "Geographie ist das, was Geographen tun", und berichtete, daß im übrigen bei der Erforschung der Staatsgründung Nepals eine Menge Daten angefallen seien und bereits vieles zur staatlichen Ausdehnung geschrieben worden sei.

Kongreßteilnehmer in Hörsaal-Sitzreihe - Foto: © 2012 by Schattenblick

Fragen aus dem interessierten Publikum
Foto: © 2012 by Schattenblick


Fazit

Wenn Dr. Andrea Nightingale besonderen Wert auf die Behauptung legt, daß physische und strukturelle Gewalt verschieden sind, sie aber zuvor noch von der "Black box" der Gewalt gesprochen hat, die erst noch geöffnet werden müsse, wäre es durchaus von Interesse zu erfahren, worauf sie ihre Feststellung, daß physische und strukturelle Gewalt verschieden sind, gründet. Der Grund, warum die Gewaltformen überhaupt miteinander verglichen werden, blieb ebenso unklar wie die Frage, für wen die Unterscheidung wichtig ist.

Wie eigentlich bei allen Vorträgen der Sessions auf dem Weltkongreß der Geographie konnten die Referentinnen und Referenten ihre Forschungen bestenfalls vorstellen, für vertiefende Ausführungen blieb nicht viel Zeit. In diesem Fall beispielsweise wurde nicht abschließend geklärt, wie die Referentin das Töten eines Menschen oder das Abhacken der Hände im Verhältnis zur strukturellen Gewalt bewertet. Oftmals in der Publizistik werden die tödlichen Folgen der strukturellen Gewalt vernachlässigt und unterschätzt. Ein Beispiel: Die FAO (Food and Agriculture Organization) der Vereinten Nationen beschreibt in einem Bericht aus dem Jahr 2011 [2] die "Schwere des Hungers" in Nepal - trotz einiger Verbesserungen der Lage in den letzten Jahren - als "alarmierend". Zwar bestünden Unterschiede zwischen Stadt und Land, aber es existiere keine einzige Unterregion, in der Hunger nur "moderat" oder "gering" verbreitet sei.

Mehr als die Hälfte der nepalesischen Kinder unter fünf Jahren gilt als unterernährt, jedes Jahr sterben viele von ihnen als Folge der Mangelernährung. Betroffen sind jedoch nicht die Kinder der wohlhabenden Familien. Das klingt banal, doch bedeutet es, daß sie Opfer einer gesellschaftlichen Ungleichheit und damit einer strukturellen Gewalt sind. Anders als über am Ende physische Gewalt läßt sich eine solche Diskrepanz der Überlebenschancen - hier: bei Kindern - innerhalb einer Gesellschaft nicht aufrechterhalten. Diese Ungleichheit wird laufend hergestellt.

Weltweit kommen jeden Tag sehr viel mehr Menschen aus Hunger ums Leben als in Folge bewaffneter Konflikte. Wäre es demnach nicht wert zu untersuchen, warum das direkte Töten eines Menschen beispielsweise mit einer Schuß-, Schlag- oder Stichwaffe in der Regel als moralisch verwerflicher angesehen wird als das Töten durch absichtliche Vernachlässigung, wie sie mit dem Begriff der strukturellen Gewalt umschrieben wird?

Man muß bestimmte Formen der sogenannten physischen Gewalt nicht befürworten, um sich die Frage zu stellen, wie Menschen, die von staatlichen Exekutivorganen verfolgt, gefoltert und getötet werden, weil sie eine andere politische Ansicht haben als der König, damit umgehen sollten? Hätten die Maoisten ihre Ziele oder Träume von einer anderen Gesellschaft verleugnen, sich anpassen oder gar selbst Hand an ihre Nachbarn anlegen sollen, wenn es der König verlangt hätte? Hätten sie sich sagen müssen, daß ja "nur" strukturelle Gewalt der Auslöser sei, wenn die Hälfte der Nepalesen in bitterer Armut lebt und viele Einwohner dahinsiechen, während der König und sein Hofstaat vollkommen unbeschwert von solchen existentiellen Nöten ihr Leben in vollen Zügen genossen?

Die Geographin Nightingale räumte ein und folgte damit der allgemeinen Lesart, daß der Volksaufstand von 1996 durch "strukturelle Gewalt" ausgelöst wurde. Ein solcher Begriff sollte jedoch nicht unreflektiert bleiben. Mit ihm wird Gewalt abstrakten Strukturen zugeordnet. Dadurch wird der Eindruck erzeugt, daß es nicht mehr Menschen sind, die anderen Menschen Gewalt antun, sondern irgendwelche ungreifbaren Institutionen. Auf diese Weise wird verschleiert, daß Gewalt immer physische Konsequenzen hat. Der ausgeübte Zwang und die erzeugte Not bleiben nicht abstrakt. Ein Mensch, der als Folge staatlicher Vernachlässigung verhungert, ist nicht anders tot als ein Mensch, der von seinem Nachbarn erschlagen wird.

Mit der Verwendung der Bezeichnung "strukturelle Gewalt" wird jedoch nahezulegen versucht, daß diese einer höheren Fügung entspringt, für die dann niemand mehr verantwortlich ist. Wer die Bezeichnung strukturelle Gewalt unkritisch kolportiert, übernimmt damit die Sichtweise jener Kräfte, die sich dahinter zu verschanzen versuchen, um die physischen Gewaltfolgen ihres eigenen Tuns unkenntlich, mithin vermeintlich ungeschehen zu machen.

Damit erhält auch der Forschungsansatz der Geographin, die erklärtermaßen mehr darüber herausfinden will, wo sich physische und strukturelle Gewalt überlappen, um auf diesem Forschungsfeld die "Geographie der Gewalt" zu verankern, einen anderen Charakter. Deutlich wird an diesem womöglich auch von berufsständischen Interessen beeinflußten Anliegen, auf welcher Seite der vorherrschenden Kräfte diese Geographie zu verorten ist. Das wiederum ist sicherlich nicht ihr Alleinstellungsmerkmal, bleibt doch keine Wissenschaftsdisziplin vom Rechtfertigungsdruck seitens der vorherrschenden gesellschaftlichen Kräfte befreit.

Große blaue Schriftzüge auf einer weißen Mauer an einer Kreuzung - Foto: Soman, freigeben als CC-BY-SA-2.5 Generic via Wikimedia Commons

Klare Ansage der Maoisten direkt gegenüber der US-Botschaft in Kathmandu. 'Malemabad ra Prachandrapath Zindabad' - 'Lang lebe Malema und der Prachanda-Pfad'. Malema ist ein Akronym für Ma(rxismus), Le(ninismus), Ma(oismus)
Foto: Soman, freigeben als CC-BY-SA-2.5 Generic via Wikimedia Commons

Die Maoisten Nepals, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA von deren Regierung auf die Terrorliste gesetzt wurden (woraufhin die Gewalt in Nepal explodierte!), haben sich mit dem Kapitalismus arrangiert, werben um ausländische Investitionen und schützen das Privateigentum. Ihr Kampf habe dem Feudalsystem gegolten, so Parteiführer Prachanda in einem Interview. Er und andere maoistische Führer hatten nach dem Ende der Monarchie für eine rasche Entwaffnung der Volksbefreiungsarmee (PLA) gesorgt. Die Eingliederung der ehemaligen Rebellenkämpfer in die Armee bzw. Zivilgesellschaft lief nur zögerlich an.

Ungeachtet der Bemühungen der Maoisten Nepals, die Feudalherrschaft zu beenden, nur um anschließend - so jedenfalls der Eindruck - das Land den politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der globalisierten Welt und damit den neuzeitlichen kapitalstarken "Feudalherren" zu überlassen, wäre es dennoch eine sehr begrenzte Sicht, würde die Transformation Nepals von der Monarchie zur Republik ausschließlich unter dem Aspekt der Gewalt betrachtet. Aus der Sicht der Forschung mag eine solche Beschränkung Sinn machen, für eine generelle Bewertung der gesellschaftlichen Vorgänge in Nepal genügt das sicherlich nicht. Immerhin war die PLA angetreten, die soziale Ungleichheit, den indischen Expansionismus und vieles andere mehr zu beenden. Hinter diesem und anderen Programmpunkten der Maoisten stecken Vorstellungen, die bei der bloßen Behandlung der Frage der Gewalt untergehen, aber noch nicht einmal zu Ende gedacht, geschweige denn verwirklicht wurden.


Fußnoten:
[1] Die Verwendung des Begriffs "Souveränität" an mehreren Stellen des Vortrags gibt Anlaß zu der Annahme, daß die Referentin nicht oder nicht allein dem gebräuchlichen Verständnis des Begriffs als staatliche Souveränität, sondern Michel Foucaults höhere Präzision beanspruchendem, aber dadurch weniger klar konturierten Souveränitätsverständnis folgt. In den Werken Foucaults ist unter anderem die Rede von Souveränitätsmacht, die in der modernen Gesellschaft von der "Disziplinarmacht" abgelöst wird.

[2] http://www.fao.org/fileadmin/templates/rap/files/epublications/NepaledocFINAL.pdf


Weitere Berichte und Interviews zum Weltkongreß der Geographie 2012 in Köln finden Sie, jeweils versehen mit dem kategorischen Titel "Down to Earth", unter
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3. Januar 2013