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BERICHT/058: Am Beispiel Glyphosat - Dammbrüche (SB)


Wie belastet ist unser Essen wirklich? - Beispiel Glyphosat

Bericht zum öffentlichen Vortragsabend des BUND Pinneberg am 24. September 2013
mit Prof. Dr. Hubert Weiger



Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) leiden rund 870 Millionen Menschen weltweit an Hunger. Das heißt, etwa jeder achte Mensch (12 Prozent) erhält pro Tag weniger als 2.100 Kilokalorien zu essen, die Grenze, bei der die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) von chronischem Hunger spricht. Doch was, wenn auch dieses Wenige eigentlich nicht mehr zum Verzehr empfohlen werden kann? Im Glauben bester landwirtschaftlicher Praxis, wie sie an den Landwirtschaftsschulen gelehrt wird, kommen auf den Feldern und Äckern chemische Hilfsmittel zum Einsatz oder, wie bei der chemischen Sikkation (Reifebeschleunigung), mit erntereifem Getreide, Raps, Hülsenfrüchten oder Kartoffeln in Berührung, deren toxische Wirkung auf Lebewesen von der Forschung und den Zulassungsverfahren zunächst nicht erkannt und von der breiten Öffentlichkeit erst recht nicht wahrgenommen wird. In den ohnehin benachteiligten, ländlichen Regionen wie in Lateinamerika häufen sich plötzlich unerklärliche Krankheiten. Von 2000 bis 2009 verdreifachte sich die Krebsrate bei Kindern, während die Rate der Fehlgeburten und Fehlbildungen um das nahezu Vierfache anstieg. Der Verdacht, daß diese sprunghafte Verschlechterung der Gesundheit eine Folge des gleichzeitig vermehrten und flächendeckenden Austrags bestimmter Agrochemikalien ist, scheint naheliegend. Vergleichbare Beobachtungen gibt es hierzulande nicht. Doch das Gift gefährdet nicht nur die Bevölkerungen ärmerer Länder. Wieviel davon steckt bereits in uns, ohne daß wir es äußerlich bemerken?

Pestizidausbringung USA - Flugzeug sprüht Gift auf grüne Felder - Foto: by USDA.gov

Glyphosat wird in 85 Prozent aller Gentechnik-Kulturen eingesetzt
Foto: by USDA.gov

Die Rede ist von Glyphosat, dem derzeit weltweit am häufigsten eingesetzten Totalherbizid. Der US-Agromulti Monsanto brachte es 1974 unter dem Namen Roundup auf den Markt. Heute, nach Ablauf des Patentschutzes, wird Glyphosat in verschiedenen Varianten als Clinic, Glyfos, Touchdown, Vorox, GlyphoMAX, Unkrauttot oder Taifun forte von zahlreichen Unternehmen produziert und vertrieben. Es kommt nicht nur in der Landwirtschaft (allein in Deutschland werden auf etwa 4,3 Millionen Hektar, 40 Prozent der Ackerfläche, jährlich über 5.000 Tonnen Glyphosat eingesetzt), sondern auch in vielen Bereichen der Unkrautbekämpfung auf Bahndämmen, an Straßenrändern, in Parkanlagen, Gärten und auf Fußwegen zur Anwendung. Zusätzlich dazu ist es die Grundlage einiger neuer Agrartechniken wie des No-Tillage Verfahrens (Mulchsaat-, Direktsaat-, Ohne Pflug-Verfahren) [1] oder der Sikkation (Abreifesteuerung mittels Herbizideinsatz) [2]. Der größte Anteil der Jahresproduktion wird jedoch auf Feldern versprüht, auf denen genmanipulierte Pflanzen angebaut werden.

1996 gelang es Monsanto, ein bakterielles Gen in Sojabohnen einzubauen, mit Hilfe dessen die Pflanzen ein bestimmtes Enzym produzieren, das Soja den Glyphosat-Regen überleben läßt. Seither werden nicht nur genmanipulierte Sojapflanzen, sondern auch sogenannte Roundup-Ready (RR)-Sorten von Mais, Raps, Zuckerrüben, Baumwolle und Alfalfa in den USA, Argentinien, Brasilien und Kanada kommerziell angebaut, 2010 waren das bereits über 140 Millionen Hektar. In der EU sind glyphosatresistente Pflanzen, von einigen wenigen Flächen in Spanien abgesehen, bisher nicht für den Anbau zugelassen. Doch der BUND fürchtet, daß dies nur eine Frage der Zeit ist. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat sich bereits positiv zu den eingereichten Anträgen zum Anbau von glyphosatresistenten Mais- und Zuckerrübensorten geäußert. Dies würde einen noch größeren Glyphosateinsatz hierzulande nach sich ziehen.


Alles noch im "grünen Bereich"?

Trotz der breiten Anwendung des Mittels wurden hierzulande keine Überschreitung von Rückstandshöchstgehalten (RHG) in Lebensmitteln publik, die laut offizieller Lesart für jedes Lebensmittel jeweils gerade so hoch angesetzt werden wie für die Anwendung nötig, um auch bei noch unbekannten Gefahren das Risiko für Verbraucher zu minimieren. Ein Inverkehrbringen von Lebensmitteln, die diesen Grenzwert überschreiten, wäre auch verboten. Nach außen hin scheint alles noch "im grünen Bereich".

Auffällig ist allerdings, wie der Schattenblick schon vor Jahren schrieb, daß vor allem bei sikkierten Produkten wie Bohnen, Erbsen, Lupinen, Raps oder Getreide wie Gerste, Hafer, Roggen und Weizen besonders hohe Rückstandshöchstgehalte laut Anhang II und III der VO (EG) 396/2005 erlaubt sind. Wer viel "gesundes" Müsli (Hafer und Gerste RHG 20mg/kg), Brot (Roggen und Weizen RHG je 10mg/kg) oder Hülsenfrüchte (Erbsen RHG 10mg/kg, Bohnen 2mg/kg) zu sich nimmt, nähert sich sehr viel schneller an den offiziellen, täglichen Toleranzwert von 0,3mg/kg Körpergewicht für Glyphosat an. [2] Letzterer drückt genau genommen aus, daß ein Mensch von 70 kg Körpergewicht täglich etwa 21mg Glyphosat konsumieren kann, ohne davon Schaden zu nehmen. Ob und wieviel jeder Mensch hierzulande angesichts dieser hohen Grenzwerte und durch die gängige Agrarpraxis jedoch möglicherweise bereits täglich davon konsumiert, wird weder von Behörden noch unabhängigen Institutionen überprüft. Angesichts des flächendeckenden Einsatzes von Glyphosat hält der BUND dies für einen verantwortungslosen Mangel.


Eigeninitiative Urinuntersuchungen

Um der Verharmlosung des Themas etwas entgegenzusetzen und den Diskurs neu zu eröffnen, setzte der BUND mit einer zwar nicht repräsentativen, doch durchaus Aufmerksamkeit erzeugenden Aktion ein Beispiel. Gemeinsam mit seinem europäischen Dachverband, Friends of the Earth (FOE Europa), wurde in einer unabhängigen, privat finanzierten Studie in 18 europäischen Hauptstädten stichprobenartig untersucht, wieviel des umstrittenen Stoffs bereits im Urin der Bevölkerung zu finden ist. In 182 Urinproben wurde Glyphosat identifiziert, die Proben aus Berlin waren mit 70 Prozent besonders hoch belastet. Der Kreisverband Pinneberg folgte diesem Beispiel und konnte - organisiert durch Martin Redepenning vom BUND-Kreisgruppenvorstand und zahlreiche Helfer - durch weitere 18 Urinproben von freiwilligen Spendern im Umkreis das Ergebnis ihres Dachverbands auch für den ländlichen, norddeutschen Raum bestätigen.

Foto: © 2013 by Schattenblick

Besorgt über eine flächendeckende Belastung mit Glyphosat.
Referenten (von links nach rechts) Martin Redepenning und Prof. Dr. Hubert Weiger mit der Vorsitzenden des BUND Kreisverbands Pinneberg
Foto: © 2013 by Schattenblick

Wie sehr die Aussicht von Gift auf dem Teller bzw. im eigenen Körper die Öffentlichkeit in Aufruhr und Empörung versetzt, konnte am 24. September die "Drostei" in Pinneberg am eigenen Saal erfahren, in dem kein Stuhl unbesetzt blieb, als der BUND Pinneberg zu einem öffentlichen Vortrag zum Thema "Wie giftig ist unser Essen wirklich? Führen uns Industrie und Behörden hinters Licht?" eingeladen hatte, mit dem der Vorsitzende des BUND, Prof. Dr. Hubert Weiger, gemeinsam mit einem Kurzreferat über die Pinneberger Untersuchungen von Martin Redepenning zum Thema Glyphosateinsatz hierzulande aufklären wollte. Im Einzugsbereich eines weitläufigen Baumschulgebietes haben die Pinneberger in Bezug auf Pflanzenschutzmittel und Pestizide in Nahrung, Wasser und Luft bereits einiges erlebt und die Unzufriedenheit wächst an. Zwar ist bisher noch ungeklärt, ob das im Urin der Bevölkerung identifizierte Glyphosat tatsächlich über Nahrungsmittel aufgenommen wurde. Doch die Ergebnisse und die landwirtschaftliche Praxis legen diese Schlußfolgerung sehr nahe. Einig war man sich, daß eine gesunde Ernährung mehr kosten müsse und ein Reduktionsprogramm für Agrarchemie und vor allem Pestizide nicht ohne Beteiligung der Landwirte gemacht werden dürfe, auf deren Rücken und zu deren wirtschaftlichem Nachteil der Streit um chemiefreie Nahrung gemeinhin ausgetragen wird. Einerseits stehen Landwirte heute unter einem massiven Wettbewerbsdruck, andererseits sind sie auch die ersten, die unter den selbstaufgebrachten Giften zu leiden haben. Nicht selten sind es die größten Bauern mit den saubersten, sprich totgespritzten, Höfen und Wirtschaftsflächen, von denen letzte Steine klagen: Er ist viel zu früh von uns gegangen ...

Dazu kommt, daß Glyphosat im Unterschied zu den meisten anderen Herbiziden lange Zeit als "harmlos wie Kochsalz" und "schnell biologisch abbaubar" galt, somit entsprechend sorglos und mit dem bestem Gewissen, der Umwelt nicht zu schaden, eingesetzt wurde. Seine Unbedenklichkeit erklärte man damit, daß es nur ein lebenswichtiges Enzym des sogenannten "Shikimisäurestoffwechsels" blockiert, der ausschließlich in Pflanzen zu finden ist. Menschen und Tiere würden dieses Enzym nicht besitzen und müßten deshalb keine schädliche Wirkung befürchten, so die damalige Annahme. Inzwischen ist Glyphosat mehr und mehr in den Verdacht geraten, auch tierische Organismen zu schädigen.

Noch bevor das Mittel 2002 in Europa zugelassen wurde, gab es Zweifel an seiner Harmlosigkeit. Frösche, Lurche und Fische reagierten sensibel auf das Mittel. Hinweise auf Gesundheitsgefahren durch Glyphosat nehmen Jahr für Jahr zu. 2011 wurde auch die toxische Wirkung auf Menschen erstmals publik. Berichte über Suizide in Taiwan hatten unter anderem sogar die Mitarbeiter des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) auf die Spur gebracht. Bevorzugt wurde die Erklärung, daß Begleitstoffe in der Rezeptur des Unkrautvernichters, sogenannte Netzmittel, dem Wirkstoff das Eindringen in die Zellen erleichtern. Das funktioniert auch bei tierischen Zellen und macht sie für Glyphosat erreichbar.

Spaliere von Apfelbäumen am Hang auf totgespritztem Boden - Foto: 2009 by Mnolf, via Wikimedia Commons freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Lizenz

Auf welchen Wegen gelangt Glyphosat in den menschlichen Körper? Beispiel der Verwendung von Roundup als Alternative zum Mähen in einer Apfelplantage in Südtirol.
Foto: 2009 by Mnolf, via Wikimedia Commons freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Lizenz

Es gibt zahlreiche Verdachtsmomente, daß Glyphosat (auf jeden Fall aber sein Metabolit AMPA) hormonähnliche Effekte zeigt, daß es in hoher Dosierung zu Fehlbildung und Mißbildung führen kann, genotoxisch ist, d.h. die Fähigkeit der Zelle, DNS zu kopieren, beeinflußt, und darüber hinaus krebserregend wirkt. Sollten sich allein die letzten beiden Punkte bewahrheiten, wäre das nach der neuen Pflanzenschutzverordnung 1107/2009 ein Ausschlußkritierium bei der Pestizidzulassung. Zu diesen Fragen wird jedoch kaum geforscht.

Trotz dieser und weiterer Hinweise, daß Glyphosat weit toxischer wirken könnte als erwartet, wurde die für 2012 anstehende Neuzulassung von den EU-Behörden auf 2015 verschoben. Dafür erließ man, wie das Umweltinstitut München e.V. schreibt, Ende 2010 extra eine neue EU-Richtlinie. Eigentlich sollte Glyphosat 2002 nur für zehn Jahre zugelassen werden. Die ursprüngliche Zulassung basiert zudem auf Untersuchungsgrundlagen von 1987 bis 1994, also aus Zeiten vor der Einführung der genmanipulierten Sojabohnen, in der wesentlich weniger dieses Stoffes in der Landwirtschaft versprüht wurde.

Aus Erfahrung mit anderen Umweltgiften wie dem inzwischen EU-weit verbotenen Atrazin (Chlortriazin), das lange Zeit für nicht wasserschädigend gehalten wurde, weil es ausgesprochen gut an bestimmte Tonmineralien absorbiert wird, später dann aber massiv aus diesen Bindungen verdrängt wurde und bis heute noch in Fließgewässern Schaden anrichtet, sprach sich Prof. Weiger für eine intensivere, unabhängige Forschung zu diesen offenen Fragen aus. Relevante Forschungsarbeiten über mögliche toxische Wirkungen von Glyphosat oder in Verbindung mit Zusatzstoffen (wie die Tallowamine) gehen vor allem auf das persönliche Engagement von Wissenschaftlern zurück (zum Beispiel auf den argentinischen Embryologen Professor Andrés Carrasco oder den französischen Professor Gilles Seralini), die dann aber aufgrund etwaiger Argumentationslücken schnell diskreditiert wurden, anstatt ihren Hinweisen nachzugehen, das heißt, die Arbeiten zu verifizieren oder komplettierende Folgestudien zu finanzieren. Den Wissenschaftlern wird vorgeworfen, für ihre Untersuchungen zu hohe Dosierungen von reinem Glyphosat oder der Gesamtrezeptur des Unkrautvenichtungsmittels verwendet zu haben, was ihre Arbeiten nicht mit den ursprünglichen Zulassungsstudien vergleichbar macht. Prof. Weiger machte darauf aufmerksam, daß eine wirklich breit angelegte Untersuchung, wie sich diese Substanzen im menschlichen Organismus verhalten, bisher noch nie angestrebt wurde. Auch das sei ein Grund für den BUND gewesen, selbst initiativ zu werden.

Ein weiterer ergab sich Prof. Hubert Weiger zufolge aus eher zufälligen Ergebnissen des tierhygienischen Instituts der Uni Leipzig, das im Zuge einer Studie über die möglicherweise pathogene Wirkung von Glyphosat bei Nutztieren auch Proben aus öffentlichen Urinalen in Leipzig auf den Gehalt an Glyphosat analysieren ließ. Diese bestätigten den Verdacht, daß Glyphosat, das vom menschlichen Stoffwechsel offenbar nicht abgebaut wird und im Urin nachgewiesen werden kann, bereits in analytisch erfaßbaren Mengen im Körper vorkommt. Diese kleine Stichprobe sei nun durch weitere vom BUND gemeinsam mit Friends Of The Earth (FOE) finanzierte Tests in 18 Hauptstädten anderer Länder als alarmierende und "flächendeckende" Realität erkannt worden. Man habe nie behauptet, daß es sich um repräsentative Untersuchungen gehandelt habe, erklärte Prof. Weiger den konzentrierten Zuhörern, es wären jedoch klassische Stichproben, die in ihren "Ergebnissen durchaus so gravierend sind, daß daraus entsprechende Konsequenzen gezogen werden müssen." Seiner Ansicht nach ist bereits der Nachweis einer flächendeckenden Kontamination mit dem Mittel von gesundheitlicher Relevanz, und bei den Teilnehmern an der Studie gab es kein Land ohne positiven Befund!

Enttäuscht äußerte sich Prof. Weiger über die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der GRÜNEN, der die Untersuchung des BUND zugrunde gelegt wurde, die aber offenbar wenig politische Durchsetzungskraft entfalten konnte: "Repräsentative Daten zur Belastung der deutschen Bevölkerung mit Glyphosat liegen der Bundesregierung nicht vor." Das bestätigte ihn in der Annahme, daß es zu dieser Frage auch noch nie repräsentative Untersuchungen an der Bevölkerung gegeben habe. Dies umgehend nachzuholen, sei eine zentrale Aufgabe der Bundesregierung, selbst wenn solche Tests sehr kostenintensiv seien (nur für Glyphosat und AMPA liegen die Kosten bei 50 Euro pro Untersuchung).

Unter anderem machte er auch die derzeitige Praxis einer starken Industrieanbindung der Universitäten für die fehlende Forschung verantwortlich, welche den jungen Wissenschaftlern eine Aussicht auf lukrative Arbeitsplätze und ausreichend Mittel verspricht. Auf diese Weise wird aber auch von der Industrie die Forschungsrichtung vorgeben. So wären von 2002 bis 2011 insgesamt 134 Studien zu gesundheitsgefährdenden Auswirkungen von Glyphosat erschienen. Allein 105 von diesen wurden von Unternehmen wie Monsanto oder Syngenta in Auftrag gegeben und blieben unveröffentlicht. Aber auch die 29 veröffentlichten Studien wurden von Monsanto finanziert!

Auffällig sei, daß gerade umwelttoxikologische Lehrstühle in besonderem Maße abgebaut würden. Gleichzeitig kritisierte er die derzeitige Zulassungspraxis, in der viele zentrale Beurteilungsdaten aufgrund des Betriebsgeheimnisses oder Patentschutzes nicht veröffentlicht werden dürften und somit auch keiner öffentlichen Kontrolle unterstehen.

Abgesehen von dem offensichtlichen Forschungsdefizit prangerte Weiger eine landwirtschaftliche Praxis an, die unter dem Mäntelchen behaupteter und versprochener Pestizidreduktionsstrategie den Einsatz von Agrarchemikalien immer mehr forcieren würde. Ein gesetzliches Verbot für jede Form von verzichtbaren Pestizidanwendungen wie die Sikkation oder die Einschränkung des freien Abverkaufs in Gartencentern forderte Weiger allerdings nur als eine vorübergehende Lösung bzw. als ersten Schritt hin zu einem ökologischen Landbau als Leitbild der Landwirtschaft in allen Bundesländern.


Pflugscharen zu Urinbeuteln

Daß sich auch in der Bevölkerung von Pinneberg und Umgebung Glyphosat (N-(Phosphonomethyl)glycin) und sein Metabolit AMPA (Aminomethyl-Phosphonsäure) im Urin nachweisen lassen, konnte Martin Redepenning vom BUND Kreisverband Pinneberg im Anschluß an eigenen Untersuchungsergebnissen bescheinigen. In einer kurz angelegten Aktion hatte er 20 freiwillige Spender gefunden, um quasi im eigenen Urin nachsehen zu lassen, inwieweit auch die ländliche Region um Pinneberg von den Folgen der Landwirtschaft betroffen ist, und auch, um mögliche erste Korrelationen zu der Ernährungsweise der Probanden herzustellen. Tatsächlich lassen sich die gefundenen Mengen auf den ersten Blick mit den Berliner Funden durchaus vergleichen, die bei einer Rate von 70 Prozent positiver Befunde Glyphosatgehalte zwischen 0,204 und 0,486 Mikrogramm/Liter aufwiesen. Bei den Probanden aus Pinneberg, Elmshorn und dem ländlichen Gebiet Seestermüher Marsch ergaben sich zwischen 60 bis 80 Prozent positive Befunde von Glyphosat zwischen 0,2 und 0,8 Mikrogramm/Liter.

Auch sonst ließen sich die gefundenen Glyphosatwerte im Urin nicht eindeutig einem bestimmten Ernährungsverhalten zuordnen, auch wenn man das wohl erwartet und die Graphik entsprechend angelegt hatte. Hier wären vermutlich größere Stichprobenmengen gefragt, bei denen dann - wie in der Wissenschaft gemeinhin üblich - massive Mittelwerte entstehen und "Ausreißer" unter den Teppich gekehrt werden können.

Der Kreisverband will sich mit seiner künftigen Arbeit auf die denkbaren Wege konzentrieren, auf denen das Gift in den Körper gelangt. Da sich der größte Verdacht nach wie vor auf die Aufnahme kontaminierter Lebensmittel bei der Ernährung konzentriert, wollen die Pinneberger gegebenenfalls auch wieder Kekse, Kuchen und Brot auf eigene Initiative in Umweltlabors untersuchen lassen. Größte Kritik mußte sich die neue Technik der Abreifebeschleunigung, die sogenannte Sikkation, gefallen lassen, die nach Ansicht der BUND-Mitglieder mit hoher Wahrscheinlichkeit den Glyphosateintrag in Lebensmittel fördert, zumal der Stoff nach neueren Erkenntnissen mindestens ein Jahr in den Agrarprodukten und selbst nach Hitzeanwendung in Lebensmitteln nachgewiesen werden kann. Einig waren sich die Anwesenden darüber, daß solche Praxis verboten werden muß und daß Lebensmittel durchaus etwas mehr kosten dürften, um Landwirte von dem Produktionsdruck zu entlasten und ihnen die Entscheidung zu ökologischer Landwirtschaft zu erleichtern.

Es wäre Zeit, so die positive Aufbruchstimmung zum Ende der Debatte, sich an Greenpeace ein Beispiel zu nehmen und urinbeutelschwenkend für eine bessere und giftfreie Landwirtschaft auf die Straße zu gehen, wie vielleicht am 18. Januar 2014 bei der nächsten geplanten "Wir haben es satt!"-Demo.

Totgespritzer Acker bei Medingen (in der Nähe von Dresden) mittels Roundup - Foto: 2009 by Holscher, via Wikimedia Commons freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Lizenz

Können Glyphosatreste auch über den Bodenstaub verbreitet werden?
Foto: 2009 by Holscher, via Wikimedia Commons freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Lizenz


Kritikpunkte des BfR waren kein Thema

Abgesehen davon, daß eine Bewertung des BfR zu dieser Studie vorliegt, in der die verwendeten Verfahren vom BfR anerkannt und die Folgerungen als "plausibel" beurteilt werden, wurde der darin durchaus ernstzunehmenden Kritik des BfR an diesem Abend wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Das wäre allerdings durchaus im Sinne einer verhältnismäßigen Aufklärung zum Thema zusätzlich aufschlußreich gewesen, um weitergehende Fragen zu entwickeln. Wenn von positiven und alarmierenden Höchstwerten die Rede ist, bei denen es sich genau genommen um Bruchteile von Mikrogramm handelt, kann sich ein Laie kaum vorstellen, von welchen Verhältnissen oder Toxizitäten tatsächlich die Sprache ist. Mit etwas Abstand und Recherche machen dann toxische Angaben wie die LD50, das heißt die tödliche Dosis, bei der 50 Prozent der Versuchstiere eingehen, von genau 5,6 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht doch sehr nachdenklich.

Wenn also von gravierenden Meßergebnissen die Rede ist, sollte daher nicht unerwähnt bleiben, daß das Bremer Institut, in dem die Urinuntersuchungen des Bundesverbandes BUND wie auch des Kreisverbands durchgeführt wurden, über sehr moderne und hochsensible Analysemethoden verfügt, die verschiedene hochauflösende Technologien der Trennung und Detektion vereinigen, und das deshalb in einer Größenordnung arbeiten kann, die man lange Zeit nicht für möglich gehalten hat. Mit der gleichen Methode lassen sich, wie Kritiker gerne anführen, selbst Dioxine in der Größenordnung von Billionstel Gramm im Waldboden nach natürlichen Bränden oder sogar in "ökologischen" Babywindeln nachweisen. Allerdings sind für den Nachweis solcher extrem niedrigen Mengen besondere Sorgfalt und großes Know-How erforderlich, die Fehlerdichte ist immens und nur wenige Laboratorien weltweit, wie das Institut in Bremen, liefern als zuverlässig anerkannte Ergebnisse.

Noch in der Europäischen Rückstandshöchstgehalts-Verordnung (kurz: EU-RHG-VO) Nr. 396/2005 des Europäischen Parlaments und Rates vom 23. Februar 2005 über Höchstgehalte an Pestizidrückständen in Lebensmitteln wird von einer unteren Bestimmungsgrenze für Glyphosat von 0,1 Milligramm pro Kilogramm gesprochen, wenn es um den Nachweis in Lebensmitteln geht. Die analytischen Methoden für Körperflüssigkeiten scheinen dagegen noch eineinhalb Tausendstel dieses Wertes erfassen zu können. Das heißt, ein Lebensmittel, das laut Rückstandhöchstgehalts-Verordnung überhaupt kein Glyphosat aufweist, kann dennoch genug davon enthalten, so daß bei einer 30-prozentigen Resorption aus dem Darm (von der der BfR-Bericht ausgeht [3]) trotzdem ein positiver Nachweis im menschlichen Urin stattfinden kann.

In seiner Beurteilung vergleicht der BfR die im Urin real gefundenen mit den rein rechnerisch im Urin im schlimmsten Fall zu erwartenden Werten, wenn sämtliche, aufgenommene Nahrung mit der als Rückstandshöchstgehalt erlaubten Menge belastet gewesen wäre. Da diese erlaubten und noch unterhalb des ADI (dem täglich vertretbaren Toleranzwert) liegenden Mengen tausendmal so hohe Glyphosatwerte im Urin verursachen würden wie die Funde des BUND, hält der BfR diesen Befund nicht für gesundheitlich bedenklich. Darüber hinaus geht der BfR von sehr strengen, also niedrigen Rückstandshöchstgehalten (44% des ADI von 0,3mg/kg/Tag) aus, die tatsächlich als unbedenklich angesehenen RHG-Werte liegen je nach Lebensmittel sogar noch um ein bis zwei 10er Potenzen darüber.

Auf keinen Fall können diese extrem niedrigen Befunde mit den zuvor erwähnten Studien von Andrés Carrasco oder Gilles Seralini in Zusammenhang gebracht werden, zumal gerade diese wegen ihrer "wenig realistischen, unverhältnismäßig hohen Dosen", mit denen sie auf Gewebezellen oder Embryonen entsprechend verheerende Wirkungen "verursacht" hatten, kritisiert worden sind.

Die möglicherweise ebenfalls gravierende Wirkung einer regelmäßigen Einnahme von Giftstoffen im unterschwelligen, sogenannten Niedrigdosenbereich ist wissenschaftlich eher eine Außenseiterthese, der überhaupt nur von wenigen Forschern nachgegangen, die aber von Toxikologen allgemein nicht anerkannt und eher belächelt wird.

Indem sich die Referenten auf den konventionellen Abgleich von Forschungsergebnissen und wissenschaftlichen Methoden einlassen, machen sie sich auch für ihre Gegner, Industrie und Behörden, angreifbar. Schließlich bescheinigen die Studienergebnisse des Bundesverbands und des Kreisverbands des BUND eher noch die Harmlosigkeit von Glyphosat und eignen sich bestenfalls für eine Runde von Zuhörern als weitere Bestätigung, in der die Frage, welche Nahrung gesund ist, schon längst als beantwortet gilt. Im schlimmsten Fall könnten sie sogar ihren Gegnern das Einfallstor bieten.

Nicht von der Hand zu weisen sind hingegen die bereits für jeden spürbaren, negativen Umweltveränderungen und die eingangs erwähnten gravierenden Gesundheitsprobleme der ländlichen Bevölkerung in ärmeren Ländern mit intensiver Landwirtschaft. Von daher drängt sich die Frage auf, was möglicherweise noch alles in Spuren in unserem Harn enthalten ist, nach denen die Studie des BUND gar nicht gesucht hat. Die Förderung einer Langzeitstudie im Niedrigdosisbereich, wie sie Professor Weiger forderte, ist vielleicht ein erster Schritt, die eigenen Studienergebnisse zu verifizieren, das heißt nachzuweisen, daß auch derart geringe Mengen, die noch unter denen von Vitaminen und Spurenelementen liegen, eine negative Wirkung entfalten können. Aber sie greift noch zu kurz, da die vielen anderen neben Glyphosat vorkommenden Stoffe nicht berücksichtigt werden, die man mit Nahrung, Luft oder Wasser ebenfalls einnimmt und die vielleicht in Mikrobereichen - vermutlich nie vollständig von der Wissenschaft sondiert und erfaßt - ihr reaktives Unwesen treiben können. Sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstärkende, sogenannte synergistische, aber auch hemmende Reaktionen sind genauso denkbar wie die Möglichkeit, daß derart kleine Substanzmengen im Miko- oder Nanobereich ein vollkommen anderes Verhalten an den Tag legen als größere Mengen im Versuchslabor. Man könnte hier beispielsweise an das Schwermetall Selen denken, das als Spurenelement wichtige Aufgaben im Organismus übernimmt, obwohl es in großen Mengen ein unerwünschtes Umweltgift wäre.

Auch Beispiele für das genaue Gegenteil sind denkbar. In den Größenverhältnissen der Nanochemie (von mehreren Atomen bis zum Bruchteil eines Haares) können auch völlig harmlose Substanzen Schaden auslösen. Daß harmloser Kohlenstoff in Form von künstlich hergestellten Nanoröhrchen fischtoxisch wird, wurde bereits nachgewiesen. Es scheint durchaus verständlich, daß sich Wissenschaftler angesichts der behördlichen und industriellen Ignoranz gegenüber einem nur kleinen Teil der anstehenden Fragen mit massiven Forderungen an die Öffentlichkeit richten.

Die alte Drostei in Pinneberg - Foto: © 2013 by Schattenblick

Auch auf Park- und Gartenwegen wird mit Glyphosat Unkraut entfernt
Foto: © 2013 by Schattenblick

Anmerkungen:

[1] http://www.no-till.ch/direktsaat/Glyphosate_Streifenversuch_2009.pdf

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/redakt/umko0005.html

[3] Glyphosat im Urin - Werte liegen weit unterhalb eines gesundheitlich bedenklichen Bereichs
Aktualisierte Stellungnahme Nr. 023/2013 des BfR vom 29. Juli 2013

3. Oktober 2013