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BERICHT/152: Klima auf der Kippe - systemimmanente Veränderungen ... (SB)



Auf dem Podium sitzend - Foto: © 2019 by Schattenblick

Wolfang Lührsen bei seinem ersten Pecha-Kucha-Vortrag
Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Zeit ist zu knapp, um allein mit marktwirtschaftlichen Mitteln wie dem Emissionshandel und der CO₂-Steuer die Klimakrise zu lösen; es müssen schon ordnungspolitische Maßnahmen ergriffen werden. Darin waren sich die Teilnehmenden des Podiumsgesprächs zum Thema "Klima in der Krise. Welchen Preis braucht CO₂?" am 21. August 2019 in der Freien Akademie der Künste Hamburg einig. Die Vorstellungen zur sozial-ökologischen Transformation bewegten sich in einer Spanne zwischen Förderung des öffentlichen Nahverkehrs und des Fahrrads als Verkehrsmittel bis zur gesellschaftlichen Umverteilung von oben nach unten als Ausgleich für einen hohen CO₂-Preis. Damit spiegelte die Gesprächsrunde mit Dr. Matthias Miersch (stellv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion), Dr. Julia Verlinden (Sprecherin für Energiepolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag), Almut Großmann (Stellvertretende JUSO-Vorsitzende), Ricarda Lang (Bundessprecherin der Grünen Jugend), Sascha Haupt (BUNDjugend Hamburg) und Nele Brebeck (Pressesprecherin Fridays for Future Hamburg) ein bestimmtes Spektrum unter den Standpunkten zur gegenwärtig in Deutschland geführten Debatte über die zukünftige Klimapolitik wider.

Das mit rund 370 Personen sehr gut besuchte Treffen war vom BUND organisiert worden, einer Naturschutzorganisation, die sich darum bemüht, ihre Vorstellungen unter anderem zum Klimaschutz zu verbreiten, indem sie nicht zuletzt das Gespräch und den regelmäßigen Austausch mit der Politik sucht. Zudem wurde die Veranstaltung von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und von umdenken, dem Hamburger Ableger der Heinrich-Böll-Stiftung der Partei Bündnis 90/Die Grünen, unterstützt.

An allgemeinen Informationen über die globale Erwärmung und die absehbaren Folgen mangelt es nicht. Dennoch war der einführende Pecha-Kucha-Vortrag - nicht mehr als 20 Bilder und pro Bild nicht mehr als 20 Sekunden - von BUND-Vorstandsmitglied Wolfgang Lührsen nützlich, da er noch einmal deutlich vor Augen führte, was die Stunde geschlagen hat: Das Klima steht sprichwörtlich auf der Kippe. Ein Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit, als noch nicht großmaßstäblich fossile Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas verbrannt wurden, birgt die Gefahr des Überschreitens sogenannter Kippunkte, berichtete Lührsen unter Berufung auf einen Sonderbericht des Weltklimarats vom Oktober vergangenen Jahres.

Die fortgesetzte Gletscherschmelze in der Westantarktis wird bereits als überschrittener Kippunkt gedeutet. Der Eisschild Grönlands droht ebenfalls unaufhaltsam zu schmelzen, sollte nicht das 2015 im Klimaschutzübereinkommen von Paris festgeschriebene Wunschziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, eingehalten werden, sondern nur das Mindestziel von 2,0 Grad. Von diesem "Budget" hat die Menschheit bereits die Hälfte in Anspruch angenommen. Die Unterzeichnerstaaten des Pariser Übereinkommens haben sich jedoch zu Klimaschutzmaßnahmen verpflichtet, die auf eine drei bis vier Grad wärmere Welt hinauslaufen.

Jeder, der illegal Müll entsorgt, wird dafür bestraft. Wer dagegen CO₂ in die Atmosphäre bläst, kommt straflos davon, so Lührsen. Außerdem würde die fossile Energiewirtschaft allein in Deutschland mit 50 Milliarden Euro jährlich subventioniert. Gleichzeitig hat sich das Europäische Emissionshandelssystem ETS als wirkungslos erwiesen. Von ihm gehe keinerlei Lenkungswirkung aus, da erstens nur bestimmte Industrien daran beteiligt sind und zweitens der Preis lange Zeit bei fünf Euro pro Tonne CO₂-Emissionen gedümpelt hat und selbst heute noch unter 30 Euro liegt.

Die Bundesregierung habe den Ausbau von Windkraft und Photovoltaik gedeckelt und nehme lieber hohe Strafzahlungen in Kauf, weil sie die Vorgaben der Europäischen Union zum Umweltschutz nicht erfüllt, als daß sie in die Energiewende investiere, übte Lührsen Kritik an der Politik.


Auf dem Podium nebeneinander sitzend, Verlinden spricht ins Mikrophon - Foto: © 2019 by Schattenblick

Julia Verlinden, Matthias Miersch und Moderatorin Anke Butscher (rechts)
Foto: © 2019 by Schattenblick

Miersch, der sich wiederholt kritisch gegenüber der Großen Koalition, der er selber angehört, geäußert hat, wandte ein, daß die im Vortrag als positive Beispiele für einen funktionierenden nationalen Emissionshandel genannten Länder Vereinigtes Königreich und Schweden auf den massiven Ausbau der Atomenergie setzen. Nur deshalb stünden sie vermeintlich besser dar. Einen Ausstieg aus dem Atomausstieg in Deutschland dürfe es niemals geben.

Die Politikwissenschaftlerin Julia Verlinden, die lange für das Umweltbundesamt gearbeitet hat, bemängelte, daß die Regierung den Schwerpunkt des Klimaschutzes bisher auf die Stromerzeugung legt, dabei aber den Verkehr und die Wärmedämmung von Gebäuden vernachlässigt. Es sei doch absurd, daß heute noch Häuser gebaut werden dürfen, die spätestens in zwanzig Jahren energetisch saniert werden müßten, damit Deutschland die Klimaschutzziele einhält. Warum nicht heute schon damit anfangen, fragte die Grünen-Politikerin.

Die einzige, die bewußt einen Schwerpunkt auf die Nord-Süd-Gerechtigkeitsfrage gelegt hat, war Ricarda Lang. Die junge Grüne griff die Fragestellung des Abends, ob CO₂ einen Preis braucht, auf und erklärte, daß CO₂ längst einen Preis hat, nur daß wir ihn nicht bezahlen müßten, sondern erstens die zukünftigen Generationen und zweitens die Menschen im Globalen Süden. Den Kleinbäuerinnen und Kleinbauern der pazifischen Inselstaaten Kiribati und Tuvalu werde jetzt schon der Boden unter den Füßen weggeschwemmt, weil der Meeresspiegel wegen unserer Emissionen steigt. Lang und Verlinden (sowie insbesondere eine Person aus dem Publikum) waren es auch, die auf die noch immer unterschätzte Klimarelevanz der Landwirtschaft, respektive Massentierhaltung aufmerksam machten. In Brasilien werde Regenwald gerodet, um Sojafelder anzulegen, deren Erzeugnisse in die hiesige Schweinemast gehen, lautet die Kritik. Fleisch sei in Deutschland zu billig.

In Anlehnung an eine Studie des Umweltbundesamts forderte Sascha Haupt einen Preis von 640 Euro pro Tonne CO₂. Die Einnahmen könnten dann zum sozialen Ausgleich pro Kopf an die Bürgerinnen und Bürger zurückgezahlt werden. Bei einem Jahresverbrauch von ca. 12 Tonnen erhielte jede(r) rund 500 Euro im Monat zurück. Bis die CO₂-Emissionen vollständig verschwunden sind und keine Rückzahlungen mehr erfolgen, könnte das ein Teil eines Grundeinkommens sein. Haupt deutete an, daß die Art zu arbeiten neu gedacht werden müßte, inklusive dessen, daß Menschen Dinge verstärkt selber reparierten und so einen geringeren Konsum hätten, daß das irgendwie belohnt werden müßte.

Nele Brebeck von der Bewegung Fridays for Future hält den zuvor von Verlinden vorgeschlagenen CO₂-Preis von 30 bis 40 Euro für viel zu gering und forderte statt dessen 180 Euro, und selbst das sei noch zu wenig und die Untergrenze. Die Politik müsse viel entschlossener handeln.

Einen kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr und ein Ende der "Schwarzen Null", also der restriktiven Haushaltspolitik ihres Parteikollegen Olaf Scholz, zählte zu den Forderungen, die Almut Großmann erhob. Die sozial-ökologische Transformation werde jetzt gebraucht und nicht in 100 Jahren. Deshalb benötige man Investitionen, die weit über die CO₂-Bepreisung hinausgehen, so die stellvertretende Juso-Vorsitzende. Diese müßten von der gesamten Gesellschaft getragen werden. Das sei nicht von einer Einzelentscheidung abhängig, also ob jemand mit der Bahn oder mit dem Auto fahre.


Auf dem Podium - Foto: © 2019 by Schattenblick

(von links) Matthias Miersch, Nele Brebeck, Anke Butscher, Sascha Haupt, Almut Großmann und Ricarda Lang
Foto: © 2019 by Schattenblick

Das Podium war sich weitgehend darin einig, daß der Klimawandel nur gemeinsam bewältigt werden kann, aber man auch nicht warten dürfe, bis alle mitziehen. Der prinzipielle Konsens der Podiumsteilnehmenden in fast allen Punkten war dann auch ein Aspekt, der diesen Abend doch etwas zu harmonisch gemacht hat. Da wurden Gelegenheiten, eine lebhaftere Debatte zu führen, nicht ergriffen. Zum Beispiel war die Verwendung des Begriffs "Systemfrage" durch den SPD-Abgeordneten Miersch insofern bemerkenswert, als daß er es bereits als wichtige Systemfrage bezeichnete, daß Unternehmen, die von der Umlage des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes befreit sind und gute Gewinne machen, über Steuern an den Energiekosten beteiligt werden müßten.

Hier stellt sich doch sehr die Frage, ob dieses Verständnis von System als steuerliche Reform eben jenen Vorstellungen entspricht, die seit Jahren regelmäßig auf Klimaschutzdemonstrationen zu lesen sind, wenn Banner Aufschriften tragen wie "System Change, not Climate Change", "Kapitalism kills" und ähnliche, aufs knappste heruntergebrochene Absagen an die vorherrschende, wachstums- und profitorientierte Wirtschaftsweise. Die "Systemfrage" zu problematisieren hätte einen Einstieg in eine tiefergehende Debatte selbst zwischen den hier sehr dicht beieinander liegenden Positionen im Spannungsfeld zweier im Bundestag vertretener, auf Landesebene bereits miteinander koalierender Parteien und ihrer Jugendorganisationen sowie der beiden zivilgesellschaftlichen Vereinigungen geboten. Vielleicht hätte das für etwas mehr Zündstoff gesorgt und mit dem weitgehenden Konsens auf dem Podium gebrochen.

So bleibt es am Ende dem Publikum überlassen, sich zu fragen, was Systemfrage bedeutet, also ob damit gemeint ist, von Verbrennungsmotoren auf Elektroantriebe umzusatteln, häufiger mit Rad statt mit dem Auto zu fahren, Häuser mit Dämmstoffen zu verkleiden, die einzelne Gurke nicht mehr in Plastik einzupacken und den Fernseher zu reparieren, anstatt sich einen neuen anzuschaffen. Die Debatte ist jedenfalls schon älter, ob das Problem des Klimawandels überhaupt durch individualistische (Pseudo-)Lösungen bewältigbar ist oder ob nicht die Systemfrage gestellt werden müßte. Damit wäre etwas gemeint, das die vorherrschenden Produktionsbedingungen, das Verständnis von Arbeit als Lohnarbeit und die Eigentumsordnung in Frage stellt.

Da der menschenverursachte Klimawandel seinen Urhebern nicht mehr die Zeit läßt, langwierige Maßnahmen zu seiner Bewältigung zu treffen, stellt sich heute drängender denn je die Frage, ob nicht bei der auch an diesem Abend angesprochenen sozial-ökologischen Transformation das Soziale, genauer gesagt, die Beendigung des Sozialkampfs erste Priorität genießen sollte. Würden sich nicht die als notwendig angesehenen klimapolitischen Anpassungs- und Vermeidungsmaßnahmen sehr viel leichter verwirklichen lassen, wenn nicht gesellschaftliche Gruppen versuchten, ihre Vorteilserwägungen zu Lasten anderer durchzusetzen? Und besteht nicht umgekehrt die Gefahr, daß marktwirtschaftliche ebenso wie ordnungspolitische Klimaschutzmaßnahmen sogar zu einer Qualifizierung der gesellschaftlichen Unterschiede führen werden, solange die soziale Frage vermieden wird? Fragen, die an diesem Abend nicht berührt wurden, aber sicherlich genügend Stoff bieten, um mit weiteren Veranstaltungen an das Podiumsgespräch anschließen zu können.


Banner mit der Aufschrift 'Change the System, not the Climate. Grüne Jugend' - Foto: © 2019 by Schattenblick

4. November 2017, Bonn: Klimademonstration im Vorfeld des UN-Klimagipfels COP 23
Foto: © 2017 by Schattenblick


Berichte und Interviews zur Podiumsdiskussion "Klima auf der Kippe - Welchen Preis braucht CO2?" im Schattenblick unter:
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BERICHT/152: Klima auf der Kippe - systemimmanente Veränderungen ... (SB)
INTERVIEW/294: Klima auf der Kippe - ändern alles, handeln gleich ...    Ricarda Lang im Gespräch (SB)


23. August 2019


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