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INTERVIEW/011: Henrik Paulitz, Atomexperte der IPPNW, zur Tsunami-Legende des Fukushima-GAU (SB)



Pressekonferenz "Fukushima - was wirklich geschah"

Interview mit Henrik Paulitz am 6. März 2012 im Berliner Hotel "Albrechtshof"

Henrik Paulitz, sitzend beim Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Henrik Paulitz
Foto: © 2012 by Schattenblick
In der Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, daß die Havarie des japanischen Atomkraftwerks Fukushima Daiichi am 11. März 2011 hauptsächlich durch einen riesigen Tsunami ausgelöst wurde. Die Betreibergesellschaft TEPCO und die japanische Regierung haben ein reges Interesse daran, die vermeintliche Einzigartigkeit der Umstände in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Denn wenn die Kernschmelze bereits durch das Erdbeben und somit vor dem Eintreffen der "Monsterwelle" eingesetzt hätte, wäre die Anlage nicht erdbebensicher gewesen. Das könnte dann für alle anderen Atomkraftwerke weltweit gelten, die in tektonisch instabilen Zonen errichtet wurden oder deren Standort dort geplant ist.

Die Organisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.) ist der "Tsunami-Legende" entgegengetreten. Der IPPNW-Atomexperte Henrik Paulitz hat akribisch den zeitlichen Ablauf der Katastrophe herausgearbeitet und allein mit Hilfe öffentlich zugänglicher Dokumente gezeigt, daß das Erdbeben samt mehreren schweren Nachbeben das Akw Fukushima Daiichi außer Kontrolle brachte. Der Tsunami habe die Lage zwar verschlimmert, aber auch ohne ihn wäre es zum GAU, dem größten anzunehmenden Unfall, gekommen.

Zudem gebe es keinerlei Beweise dafür, daß die Tsunami-Welle, die das Akw traf, tatsächlich vierzehn Meter hoch gewesen war, wie vielfach kolportiert. Sogar in offiziellen Regierungsdokumenten sei ihre Höhe mit sieben Metern angegeben worden. Im Anschluß an eine Pressekonferenz vom 6. März 2012 in Berlin besaß der Schattenblick die Gelegenheit, dem IPPNW-Experten Henrik Paulitz einige Fragen zu stellen.


Schattenblick: Findet heute noch eine nukleare Kettenreaktion in Fukushima statt, oder könnte sie wieder ausbrechen?

Henrik Paulitz: Das liegt im Bereich des Möglichen, das kann niemand definitiv sagen.

SB: Die Befürworter der Atomenergie behaupten, daß die modernen Akws sicherer sind als die älterer Bauart. Trifft das Ihrer Einschätzung nach zu?

HP: Es wurden in den neueren Anlagen, von Anlagengeneration zu Anlagengeneration, gewisse Punkte verbessert. Auf der anderen Seite hat man dann irgendwann sozusagen ein Reaktordesign von der Stange gemacht. Da spielten auch wirtschaftliche Erwägungen mit rein, das heißt, man hat punktuell dann auch wiederum an der Sicherheit gespart und beispielsweise, aus welchen konkreten Gründen auch immer, dampfgetriebene Pumpen nicht mehr vorgesehen.

SB: Sind solche Pumpen sehr viel teurer oder warum wurden sie nicht mehr eingesetzt?

HP: Es gab einfach Kostenexplosionen während der Konzeption und Planung der Anlagen.

SB: Setzen nicht der europäische Druckwasserreaktor EPR und das russische Modell WWER 1000 sehr stark auf passive Systeme? Ist das nicht eine Neuerung, die zu einer höheren Sicherheit führt, wenn beispielsweise oberhalb der Brennstäbe ein großes Wasserbecken gebaut wird, bei dem einfach nur noch eine mechanische Klappe aufgeht und Kühlwasser runterstürzen kann?

HP: Ich bin bei der EPR-Konzeption nicht auf dem allerletzten Stand, aber grundsätzlich ist der EPR alles andere als ein Passivkonzept. Es gab bei Siemens eine Reaktorentwicklung mit fast durchgängigen oder zumindest weitreichenden Passivsystemen - der EPR war jedoch eine Reaktorentwicklung, bei der primär auf konventionelle, aktive, strombetriebene Systeme gesetzt wurde. Was Sie jetzt angesprochen haben, tangiert meines Erachtens den Fall der Kernschmelzbeherrschung. Das ist einer der ganz wesentlichen Schwachpunkte, die man versucht hat, mit dem EPR prinzipiell zu lösen, mit dem Ergebnis, daß man auf die Flutung der potentiellen Kernschmelze mit großen Wassermengen setzte. Da besteht aber das Problem, daß bei Kontakt von Wasser mit metallischer Schmelze, egal ob die Schmelze ins Wasser geht oder umgekehrt, die Gefahr von Dampfexplosionen besteht. Mir ist nicht bekannt, daß dieses Problem, das während der EPR-Entwicklung heiß diskutiert wurde, gelöst werden konnte. Im Kernforschungszentrum Karlsruhe ist eine entsprechende Versuchsanordnung explodiert.

SB: Sie sprachen in Ihrem Vortrag davon, daß im Akw Fukushima Daiichi die Redundanz-Systeme, also die Sicherheitssysteme erster, zweiter, dritter Ordnung, nicht funktionierten. Müssen die nicht unter Realbedingungen überprüft werden?

HP: Klar, Sicherheitssysteme und Komponenten werden natürlich immer mal geprüft. Da gibt es gewisse Prüfabstände, die die Genehmigungsbehörde mehr oder minder mit dem Betreiber aushandelt. Dieser hat prinzipiell ein Interesse an einer geringen Prüfdichte. Es besteht jedoch grundsätzlich das Problem, daß Einzelkomponenten wie beispielsweise Rohrleitungen unter Umständen viele Jahre lang nicht geprüft werden. Das klingt immer gut: "Wir prüfen regelmäßig." Aber diese Regelmäßigkeit kann bedeuten, daß Untersuchungen im Mehrjahresabstand stattfinden. Wir hatten für die Anlage Biblis B nachgewiesen, daß dort eine Rohrleitung seit 28 Jahren nicht geprüft worden war. Das ist dann die Realität. Es gibt unterschiedliche Prüfdichten, die natürlich nach einer gewissen Logik aufgebaut sind. Wo man häufiger Ausfälle vermutet, wird schon häufiger geprüft.

Henrik Paulitz beim Vortrag vor Powerpoint-Leinwand - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Tsunami-Legende auf dem Prüfstand
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Innerhalb der 20-Kilometer-Sicherheitszone um das Akw Fukushima Daiichi herum wird unter anderem Industriearbeit verrichtet. Neun Unternehmen haben vom japanischen Handelsministerium eine Ausnahmegenehmigung zur Weiterarbeit erhalten. Da werden beispielsweise Elektrobauteile für medizinische Geräte hergestellt. Wenn solche Produkte nach Europa exportiert werden, werden die hier oder bereits in Japan vor Ort hinsichtlich einer möglichen Strahlenbelastung hin überprüft?

HP: Das kann ich nicht beurteilen.

SB: Wie bewerten Sie die Ankündigung TEPCOS, den Meeresboden vor dem Akw Fukushima Daiichi mit einer dicken, mehrere Fußballfelder großen Betonschicht zudecken zu wollen? Kann das die Strahlung eindämmen?

HP: Ich gehe prinzipiell davon aus, daß solche Maßnahmen den Aspekt haben, der Öffentlichkeit zu demonstrieren: wir tun was. Aber ich glaube, daß diese Maßnahmen überwiegend nicht völlig abwegig sein dürften. Ich glaube nicht, daß nur unvernünftige Dinge gemacht werden. Das Problem besteht ganz einfach darin, daß es nicht gelingen kann, die weiträumige Kontamination zu beseitigen. Das zeigt sich allein daran, daß man zum Beispiel bei Kinderspielplätzen die Erde abgetragen hat, aber eben rechts und links davon wiederum nicht. Das ist einfach ein Mengen- und Massenproblem.

SB: Es drängt sich der Eindruck auf, daß einige der Maßnahmen reine Feigenblattfunktion haben.

HP: Ich maße mir nicht an, darüber urteilen zu können. Ich würde jetzt persönlich nicht so weit gehen und alles nur als Feigenblattfunktion ansehen. Bei dem Bemühen, den Unfall zu beherrschen, haben sie versucht, was ging. Und jetzt suchen sie im nachhinein etwas, das irgendwie im Rahmen der begrenzten Machbarkeit geht. Natürlich ist auch ein bißchen Show für die Öffentlichkeit dabei.

SB: Vor kurzem wurde bekannt, daß die japanische Regierung den Eindruck hatte, es könnte neben dem Akw Fukushima Daiichi auch das Akw Fukushima Daiini havarieren und daß dann irgendwann auch Tokio verloren ginge. Davon wurde der Bevölkerung nichts gesagt. Man muß ja immer mit einer gewissen Diskrepanz zwischen dem, was eine Regierung bekannt gibt, und dem, wie sie etwas selber einschätzt, rechnen. Aber diese Diskrepanz war doch sehr auffällig, oder nicht?

HP: Ja, genau. Es gibt die klare Aussage: Wir sahen schon halb Japan untergehen, der Großraum Tokio wäre gefährdet.

SB: Haben Sie noch weitere Informationen zu der möglichen Nuklearexplosion, die in einer der letzten Veröffentlichungen von IPPNW erwähnt worden ist?

HP: Nein, der Sache will ich noch nachgehen. Darüber hinaus habe ich keine Informationen.

SB: Sie schreiben, daß die Öffentlichkeit nichts über die Explosion erfahren sollte. Wie kann man so etwas überhaupt der Öffentlichkeit vorenthalten, wo es doch weltweit ein Meßsystem gibt, das genau den Zweck hat, Kernexplosionen nachzuweisen?

HP: Das ist ja das verrückte. Man hat die Videoaufnahmen von dieser Explosion, alle Welt sieht zu, man kann auch diese Unterschiede erkennen. Das eine ist weißer Dampf oder mal etwas schwarzer Rauch. Auf der anderen Seite eine weitaus höhere Wolke, die in ihrer Gestalt und Färbung auf eine andere Explosivkraft schließen läßt. Obwohl das alle gut sehen können, gelingt es trotzdem nicht, darüber zu reden. Es gibt da einen Nuklearexperten aus den USA, der ständig darauf hinweist, daß sich die Explosionen bei den drei havarierten Reaktoren nicht gleichen. Eines müsse eigentlich nach allem Ermessen eine Nuklearexplosion sein. Ich kann das abschließend nicht beurteilen, aber das klingt sehr plausibel. Auffällig ist, daß da einfach niemand drüber schreibt. Es wird immer vermutet, daß es Wasserstoffexplosionen waren. Aber das könnten ja auch zum Teil Dampfexplosionen gewesen sein. Mir scheint, daß das zu den Themen gehört, die man nicht behandelt.

SB: Fukushima Daiichi ist nicht nur ein Atomkraftwerk mit sechs Meilern, sondern auch mit Abklingbecken, und die sind oberhalb der Reaktoren angebracht. Ist das eine übliche bauliche Konstruktion, oder ist das was spezifisch Japanisches?

HP: Das Grundproblem bestand darin, daß sie außerhalb des inneren, also des eigentlichen Containments unterbracht und mehr oder minder ungeschützt gegenüber der Atmosphäre waren. Es gibt auch Akw-Modelle, da befinden sie sich innerhalb des Containments, aber wie verbreitet diese weltweit sind, kann ich jetzt nicht konkret sagen.

SB: In Atomkraftwerken der Vereinigten Staaten ist es schon zu Stromausfällen und Schnellabschaltungen aufgrund von Tornados gekommen. Vor kurzem hatten wir in den USA eine ganze Serie solcher Wirbelstürme. Wissen Sie, ob es aktuell zu Schäden an den Akws gekommen ist?

HP: Das weiß ich nicht. Aber was auch ich jahrelang nicht gesehen habe: Bei einem Flugzeugabsturz und anderen Einflüssen wie dem Tornado schaut man ja immer auf die Kuppel und fragt, ob da irgendwas einwirken und sie wegfegen kann. Dabei genügt schon der Strommast außerhalb, der umknickt! Dann kann es zu Rückwirkungen kommen. Das wird auch in Presseberichten unterschätzt, in denen geschrieben wird, daß die Kuppel nicht beschädigt worden sei.

SB: Offenbar geht man nach dem Verfahren "learning by doing" vor, mit der Folge, daß es immer wieder zu vermeintlich nebensächlichen Überraschungen kommt.

HP: Genau. Beispielsweise hat man vor ein paar Jahren an einem Atomkraftwerk plötzlich eine mikrobiologische Korrosion beim Nebenkühlwassersystem festgestellt. Das ist das System, das in Fukushima zum Meer und bei uns in die Flüsse geht. Da wurden die Rohre von Mikroorganismen zersetzt. Plötzlich ist das dann Thema und wieder etwas völlig Neues, an das niemand gedacht hat.

SB: Sie sprachen bei der Pressekonferenz über die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit - GRS - und ihre Neigung den Unfall zu verharmlosen. Warum macht sie das? Ist das nicht eine staatliche Organisation, die eigentlich entsprechend staatliche Aufgaben hätte, also beispielsweise die Bevölkerung vor Verstrahlungen zu schützen?

HP: Vom Aufbau her ist die GRS Teil der sogenannten zivilen Nutzung der Kernenergie in Deutschland. Sie ist Teil dieses Systems und prinzipiell Befürworter der Technologie und dieses Entwicklungspfades. Der langjährige Chef war Herr Birkhofer, ein expliziter und vehementer Befürworter der Atomenergie. Aber unabhängig davon, wer den Laden leitet - zuletzt hatte Lothar Hahn vom Öko-Institut die Leitung - besteht das grundlegende Problem darin, daß die Einrichtung von ihrer Arbeit leben muß. Es ist ganz banal, da fließt jede Menge Geld.

SB: Es besteht somit ein Interessenkonflikt.

HP: Die haben ein ganz banales Eigeninteresse. Wie beim TÜV, da wird jede Menge Geld mit gemacht. Was wir als Stromkunden regelmäßig über die Stromrechnung abliefern, fließt dort satt in zig Kanäle.

SB: Wie müßte denn eine Institution aussehen, die sich nicht in diesem Interessenkonflikt befände?

HP: Das ist eine grundsätzliche Frage der staatlichen Aufsicht. Bei einer vernünftigen "Hausleitung" sind die Beamten, wenn man sie läßt, theoretisch freier und ökonomisch jedenfalls nicht davon abhängig. Es ist ja eines der Probleme, daß man die Atomaufsicht aus den Behörden auslagert und faktisch auf betriebswirtschaftlich agierende Institutionen wie den TÜV überträgt. Und dann kann es zu Detailproblematiken kommen, beispielsweise mit der Kostenabrechnung, wo die Akw-Betreiber die Rechnung dann direkt an den TÜV bezahlen. Das war vor einigen Jahren ein Thema hinter den Kulissen. Dadurch entsteht bei den TÜV-Mitarbeitern natürlich der Eindruck, sie würden vom Betreiber bezahlt. Dadurch entstehen rein psychologisch menschliche Effekte. Aber es ist ohnehin eine enge Community.

SB: Sind die Videoaufnahmen vom Akw Fukushima Daiichi zeitlich lückenlos vorhanden - dann müßten sie eigentlich die Tsunami-Welle zeigen -, oder hält die Regierung die Bänder unter Verschluß?

HP: Gute Frage, ich habe es zeitlich noch nicht geschafft, dem genau nachzugehen. Meines Erachtens besteht eigentlich die Verpflichtung zur Überwachung. Bei einem Land wie Japan kann ich es mir nicht vorstellen, daß die nicht an jeder "Ecke" Kameras haben. Es müßte eigentlich allein zur Brandbekämpfung, um Lecks überprüfen zu können, Kameras an diversen zentralen Stellen in den Gebäuden eines Atomkraftwerks geben, die eigentlich die Aufnahmen eins zu eins in den Überwachungsraum übertragen. Es wird nirgends gesagt, daß irgendwelche Videoaufnahmen durch Zufall gelöscht wurden oder ähnliches. Ich halte es für verrückt, daß niemand den Leuten auf den Zahn fühlt und fordert, daß die Bänder von der Turbinenhalle, in die das Wasser reinfließt, oder zum Ausfall der Notstromdiesel veröffentlicht werden.

SB: Noch eine abschließende Frage: Da Uran eine begrenzte Ressource ist und höchstens noch 60 Jahre reicht, warum konzentrieren sich die Stromerzeuger dann immer noch auf Atomkraftwerke?

HP: Letztlich stecken betriebswirtschaftliche Abwägungen der Betreiber dahinter. Das Uran wird teurer, wenn die Vorkommen technisch aufwendiger auszubeuten sind. Atomkraftwerke werden ja immer als Gelddruckmaschinen bezeichnet, doch das sind sie nicht. Aber man kann mit diesen zentralisierten Anlagen das Geschäft monopolisieren und mit trickreichen Gestaltungen von vermeintlichen Kosten, die niemand mehr durchschaut, ein einfaches System entwickeln, bei dem man den Leuten das Geld aus der Tasche zieht und kanalisiert. Man zieht es aus der Fläche ein, und es landet in wenigen Taschen. Da wird betriebswirtschaftlich abgewogen, wie lange sich das lohnt.

SB: Herr Paulitz, vielen Dank für das Gespräch.

Interviewpartner sitzen am Tisch, im konzentrierten Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

IPPNW-Experte Paulitz im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

14. März 2012