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INTERVIEW/013: Dr. Angelika Claußen zu den medizinischen Folgen des Fukushima-GAU (SB)



Pressekonferenz "Fukushima - was wirklich geschah"

Interview mit Dr. Angelika Claußen am 6. März 2012 im Berliner Hotel "Albrechtshof"

Dr. Angelika Claußen auf der IPPNW-Pressekonferenz - Foto: © 2012 by Schattenblick

Lehre aus Fukushima-GAU - alle Atomkraftwerke abschalten
Foto: © 2012 by Schattenblick

Vor dem Hintergrund, daß im Akw Fukushima Daiichi bereits durch das Erdbeben eine Kernschmelze ausgelöst wurde und nicht erst durch den rund eine Stunde später eintreffenden Tsunami, fordert die Organisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung) eine Stillegung der Atomkraftwerke Philippsburg in Deutschland und Fessenheim in Frankreich. Beide liegen im Rheingraben, der zu den tektonisch instabilsten Regionen Deutschlands gehört und häufiger Erdbeben, wenngleich leichtere als das vom 11. März 2011 in Japan, verzeichnet. Letztlich seien alle Atomkraftwerke weltweit unsicher und nicht gegen sämtliche Gefahrenquellen ausreichend gewappnet, lautet die Schlußfolgerung, die die IPPNW aus einer akribischen Analyse der Entstehung des Super-GAU von Fukushima gezogen und am 6. März auf einer Pressekonferenz im Berliner Hotel "Albrechtshof" vorgestellt hat.

Im Anschluß an die Veranstaltung [*] sprach der Schattenblick mit Dr. Angelika Claußen, die eine einführende Stellungnahme zu der Pressekonferenz abgegeben hat. Die frühere IPPNW-Vorsitzende (2005 - 2011) ist niedergelassene Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Schwerpunkte ihres Engagements bei der IPPNW sind der Atomausstieg, die Folgen des Irakkriegs und die Menschenrechtspolitik der Türkei.

Schattenblick: In den Medien wird inzwischen der Eindruck erweckt, daß die Freisetzung der radioaktiven Strahlung aus Fukushima nicht so schlimme Folgen hatte, wie zunächst befürchtet. Teilen Sie diese Einschätzung?

Angelika Claußen: Nein, die teile ich nicht. Bei Katastrophen wird oft gedacht, daß die schrecklichen Folgen sofort zu sehen sein müßten. So hat man zum Beispiel in den Medien gesagt, es seien doch die Schilddrüsen von Kindern untersucht und nichts Wesentliches, also auch kein Krebs gefunden worden. Nun kann aber ein Schilddrüsenkrebs nach radioaktiver Jodeinwirkung nicht nach einem Jahr entstehen, das ist von der Latenzzeit her viel zu früh. Beispielsweise setzte erst vier Jahre nach dem Tschernobyl-GAU ein unheimlicher Anstieg an Schilddrüsenkrebs bei den hochbelasteten Kindern ein. Wir müssen also in Fukushima sehr genau auf die Langzeitfolgen achten. Deshalb müssen Kinder und Erwachsene untersucht werden.

Vor allen Dingen aber müssen sie zunächst einmal vor radioaktiv kontaminierter Nahrung - vor Fisch und Gemüse -, geschützt werden. Die Nahrungsmittelherstellung in der ganzen Region von Fukushima ist ja auf Jahrzehnte obsolet, weil dort der Boden nach wie vor hoch verstrahlt sein wird. Ich möchte einfach noch mal daran erinnern, daß das Cäsium eine Halbwertszeit von 30 Jahren hat! Das bedeutet, daß 300 Jahre vergehen müssen, bis allein nur das Cäsium keine Auswirkungen mehr zeitigt. Dort ist jedoch ein radioaktiver Cocktail auf den Boden niedergegangen. Plutonium hat eine Halbwertszeit 24.000 Jahre. So etwas dürfen wir nicht sofort wieder verdrängen.

SB: Im Sommer vergangenen Jahres kamen Berichte aus Fukushima von Kindern mit Nasenbluten auf. Waren das schon Anzeichen für eine unmittelbare Schadensfolge durch radioaktive Verstrahlung?

AC: Das kann durchaus sein. Das wurde nach Tschernobyl ebenfalls in hoch strahlenbelasteten Gebieten festgestellt. Das könnte daran liegen, daß die Abwehrkräfte insbesondere durch das radioaktive Strontium, das dann im Knochenmark eingelagert wird, geschwächt werden.

SB: Mit welchen Strahlenfolgen rechnen Sie in den nächsten Jahren?

AC: Man kann sich daran halten, was wir als Tschernobyl-Folgen hatten. Frühestens nach neun Monaten haben wir geschädigte Kinder gefunden, vermehrt Kinder mit Down-Syndrom, Fehlgeburten, Totgeburten, eine erhöhte Säuglingssterblichkeit. Die japanischen Ärzte wären gut beraten, großangelegte statistische Untersuchungen zum Thema der Schädigung von Föten und Kleinkindern zu machen. Das sind die ersten Anzeichen, die man sieht. Dann müssen wir an Schilddrüsenkrebs denken und an Leukämie, das auch eine relativ kurze Latenzzeit hat. Später bei den Erwachsenen eben an andere Krebsarten wie zum Beispiel Brustkrebs bei Frauen. Der ist nach Tschernobyl erstmalig ungefähr nach zehn Jahren aufgetreten. In allernächster Zeit wird man also nur die Spitze des Eisbergs sehen.

SB: Es gibt ja eine große Kontroverse um die Tschernobyl-Opferzahl zwischen dem Standpunkt der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA und Ihrem, der wiederum von Medizinern in Weißrußland und der Ukraine geteilt wird. Glauben Sie, daß die japanischen Ärzte mehr in Richtung der IAEA tendieren, vielleicht auch weil diese von einem Japaner [Anm. der SB-Red: Yukiya Amano] geführt wird?

AC: Das ist ganz sicher, daß das Gros der japanischen Ärzte nicht atomkritisch ist. Die sind sehr konservativ und eben auch autoritätshörig. Die japanischen Ärzte finden sich nicht vorwiegend in der Anti-Atombewegung in Japan, das ist sehr schade.

Porträtaufnahme - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Angelika Claußen
Foto: © 2012 by Schattenblick
SB: Wir hatten letztes Jahr mit einem Studenten aus Fukushima gesprochen, der sich einer Bürgerinitiative angeschlossen hatte, die eigene Strahlenmessungen vornimmt. Haben Sie noch Kontakt zu der Initiative?

AC: Ja, wir unterstützen die Bürgerinitiative CRMS [Anm. der SB-Red: Citizens' Radioactivity Measuring Station] weiterhin. Wir sammeln gemeinsam mit Herrn Pflugbeil vom Strahlentelex Spendengelder, um mehr und mehr Bürgerinitiativen mit diesen Meßgeräten auszustatten. Das ist eine ganz wichtige Aktion.

SB: In welchem Verhältnis steht die Menge an Meßdaten, die von solchen Bürgerinitiativen erbracht wird, im Verhältnis zu dem, was vom Staat an Meßergebnissen bekannt gegeben wird?

AC: Das weiß ich nicht genau und möchte dazu nicht spekulieren. Man kann aber definitiv sagen, daß die japanische Regierung bisher versäumt hat, eine Kartographie der Kontamination aufzustellen. Das ist nicht geschehen und längst überfällig.

SB: Kurze Zeit nach dem Reaktorunfall von Fukushima wurden drei Arbeiter schwer vertrahlt, denen radioaktives Wasser in die Gummistiefel geflossen war. Es sah so aus, als ob ihre Beine bereits bluteten. Inwiefern sind solche Strahlenfolgen heilbar?

AC: Es kommt darauf an, was man unter heilbar versteht. Da muß man vom Einzelfall ausgehen. Die Ärzte werden natürlich alles tun, um auch diesen Menschen zu helfen. Und inwieweit die Strahlenschäden dann letztlich wieder gutzumachen sind, hängt vom Ausmaß des speziellen einzelnen Schadens ab. Wir wissen von vielen sogenannten russischen Aufräumarbeitern, den Liquidatoren von Tschernobyl, daß sie dermaßen hohe Strahlenschäden erhalten haben, daß sie, wenn auch nicht an der akuten Strahlenkrankheit, so doch an einer Strahlenkrankheit gestorben sind, die innerhalb von zehn bis 15 Jahren nach dem Schaden aufgetreten ist. Die Strahlung hatte letztlich alle großen Organe angegriffen, und die Betroffenen sind dann nach und nach an Organversagen gestorben.

SB: Welche Gefahr schätzen Sie als größer ein, die durch die inkorporierten Teilchen oder die durch Strahlen, die von außen auf den Körper wirken?

AC: Von medizinischen Untersuchungen her ist bekannt, daß inkorporierte Strahlung gefährlicher ist, weil die im Körper verbleibt. Wobei man da wieder nach Strahlenarten differenzieren muß. Da gibt es den Begriff der biologischen Halbwertszeit, die sehr viel länger sein kann als die physikalische und unter anderem berücksichtigt, daß radioaktive Partikelchen in einer bestimmten Umgebung wirken, im Lungen- oder Lymphgewebe festsitzen und nicht über Flüssigkeiten wie Blut oder Urin ausgeschieden werden können. Dort sitzen die Partikel fest und richten innerhalb eines halben oder eines Jahres sehr schwere Schäden an. Das betrifft sowohl die einzelne Zelle, in der Genmaterial geschädigt wird, als auch den Teil in der Zelle, der für die Funktionen von Organen zuständig ist.

SB: Die japanische Politik scheint den Standpunkt zu vertreten: Was mich nicht umbringt, macht mich härter. So verrichten in der kontaminierten Sperrzone um das Akw Fukushima Daiichi herum inzwischen wieder Menschen Fabrikarbeit. Haben Sie den Eindruck, daß die Gefahr in Japan wesentlich stärker heruntergespielt wird, als es in Tschernobyl der Fall war?

AC: Nein, das würde ich so nicht sagen. Es gab nach Tschernobyl von Seiten der russischen Offiziellen extreme Versuche, die ja dann auch gelungen sind, das Wissen um die Strahlenkrankheit zu unterdrücken und auch entsprechende Nachrichten nicht an die Öffentlichkeit kommen zu lassen. In Rußland hat sich daraus eine der ersten Bürgerbewegungen entwickelt. Auch in Japan sind natürlich eine Menge Menschen aufgewacht, führen eigene Strahlenmessungen durch, organisieren sich in Antiatom-Bürgerinitiativen und -Bewegungen. Da ist viel passiert in der japanischen Bevölkerung.

SB: Was geschieht eigentlich mit der verstrahlten Nahrung, wird die komplett vernichtet oder wird sie gelagert? Oder kommt es dazu, daß sie auch wieder eingemischt wird und man über eine größere Verteilung unter den Grenzwerten bleibt?

AC: Ich befürchte, daß sie auch eingemischt wird, aber dazu habe ich nicht genügend einzelne, nachweisbare Fakten und Daten zur Verfügung. Darüber berichtet der Strahlentelex [Anm. der SB-Red.: http://www.strahlentelex.de/]. So hat man in einem bestimmten Bezirk in Tokio plötzlich erhöhte Strahlung gefunden und sich gewundert, woher die kommt. Der Bezirk hatte eine Müllverbrennungsanlage, und man hat herausgefunden, daß Atommüll, verstrahlte Erde, verstrahlter Bauschutt aus der stark radioaktiv kontaminierten Provinz Itate dorthin gebracht worden ist. Das alles wurde da verbrannt. Es handelte sich also um ein Recycling des Atommülls.

SB: Gab es keine Filter, um die radioaktiven Partikel abzufangen?

AC: Nein, und das ist sicher kein Einzelfall. Es kommt immer darauf an, ob so was von Bürgerinitiativen entdeckt wird, ob da Leute überhaupt messen. Die Regierung wird das nicht tun. Auch das ist eine Art Verdünnung und gleichmäßige Verteilung der Strahlung bis in Gebiete, in die bisher keine Strahlung gekommen war.

SB: Die beiden Atombombenabwürfe von Japan dienten der internationalen Nuklearmedizin letztlich als Testfeld. Da sind Mediziner angereist und haben geschaut, welche Strahlenfolgen es gibt und wie die Menschen auf die Gammastrahlung reagiert haben. Gibt es jetzt eine ähnliche Entwicklung in Fukushima, daß Ärzte, Physiker oder andere am Strahlenthema interessierten Personen anreisen und nun Fukushima als Testfeld nehmen, um ihre Datensammlung aufzubessern?

AC: Ich würde das nicht nur negativ sehen. Der Unfall ist ja passiert, und man muß den Menschen helfen. Man muß auch das Wissen, das wir Mediziner über diese Auswirkungen haben, erweitern und verbessern, man muß auch Behandlungsmöglichkeiten erfinden und finden.

SB: Gibt es eine Tendenz, solche Untersuchungen zu benutzen, um die Grenzwerte anzuheben, wie das eben auch schon direkt nach der Fukushima-Katastrophe für Kinder gemacht wurde, die eine Jahresdosis von 20 Millisievert erhalten durften, was dem Wert von Kernkraftwerksarbeitern entspricht?

AC: Auch das sehe ich anders. In der gesamten Forschung zu den Folgen von radioaktiver Strahlung geht die Tendenz dahin, immer mehr anzuerkennen, daß geringe Strahlungen schon erhebliche Schäden anrichten können. Dazu werden laufend Untersuchungen vorgenommen, zum Beispiel von medizinischer Verwendung von Strahlen, beispielsweise in der Computertomographie bei Kindern oder bei Erwachsenen oder bei Strahlentherapien. Da ist schon ein gewisser Fortschritt zu erkennen. Eigentlich werden die Grenzen heruntergesetzt. Wenn dann nach solchen großen Strahlenunfällen und Super-GAUs Diskussionen aufkommen, dann hat das rein wirtschaftliche Gründe, um die Atomindustrie weiter bestehen zu lassen.

SB: Frau Claußen, herzlichen Dank für das Gespräch.


[*] Bisher sind hierzu ein Bericht (http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0013.html) und ein Interview mit dem IPPNW-Atomenergieexperten Henrik Paulitz (http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0011.html) erschienen.

Interviewpartner am runden Tisch sitzend - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Angelika Claußen im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

15. März 2012