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INTERVIEW/036: Arktis warm, Europa kalt - Der Blick aus dem Orbit (SB)


Pressekonferenz des KlimaCampus Hamburg

"Negativ-Rekord in der Arktis - was bedeutet das Meereis-Minimum für unser Klima?"

Interview mit Dr. Lars Kaleschke vom KlimaCampus



"Die zukünftige Entwicklung der Eisfläche wird im wesentlichen von der Eisdicke abhängen," sagte Dr. Lars Kaleschke am 19. September 2012 auf einer Pressekonferenz des KlimaCampus Hamburg [1]. Anlaß war das Rekord-Minimum der Meereisausdehnung in der Arktis seit Beginn der regelmäßigen Satellitenmessungen ab dem Jahr 1973. Dr. Kaleschke hatte einen der sieben Kurzvorträge [2] mit dem Titel "Welche Anomalien zeigt das Meereis 2012?" gehalten. Mitgebracht hatte er jüngste Daten des Satelliten SMOS (Soil Moisture and Ocean Salinity - Bodenfeuchtigkeit und Ozean-Salinität) der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA. Wichtig bei der Beurteilung der Satellitendaten ist nicht nur die Eisausdehnung, sondern auch die Konzentration, das heißt, zu wieviel Prozent eine bestimmte Fläche mit Eis bedeckt ist, sowie die Meereisdicke.

Nach der Pressekonferenz führte der Schattenblick ein Interview mit Dr. Kaleschke, in dem unter anderem Fragen zur Datenerfassung und -analyse sowie zu Möglichkeiten und Grenzen einer zuverlässigen Prognostik vertieft werden.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Lars Kaleschke
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Was hat Sie im August dieses Jahres bei Ihrer Vorhersage, daß das Eis eine Ausdehnung von 4,1 Mio. Quadratkilometer haben wird, so sicher gemacht? Worauf stützen Sie Ihre teilweise doch treffgenauen Prognosen zur Ausdehnung des arktischen Meereises?

Lars Kaleschke: Anhand von Satellitendaten schauen wir uns die Meereisfläche und dabei auch die Anomalien an. Das sind Abweichungen vom Normalzustand. Die haben eine gewisse Lebensdauer, je nachdem wie stark sie sind. Schwache Anomalien sind ziemlich schnell, das heißt innerhalb von wenigen Wochen, vorbei. Stärkere Anomalien halten Wochen bis Monate an. Aufgrund der Lebensdauer dieser Anomalien kann man schon sagen, ob man einen höheren oder niedrigeren Wert als Normal erreichen wird. Das nutzen wir dann als Vorhersage.

Das geht noch nicht so weit im voraus, sondern nur über die Lebensdauer dieser Anomalien. Dazu gibt es ein automatisches Verfahren, das tagtäglich auf Basis der Satellitendaten - der aktuellen Daten im Vergleich zu den Daten aus sämtlichen Vorjahren - eine statistische Schätzung liefert. Man sieht dann im Verlaufe des Jahres, wie sich die Unsicherheit der Vorhersage verringert. Im Mai hat man noch eine riesige Unsicherheit, da würde man als Schätzwert nur den normalen Mittelwert bekommen, aber im Juni, Juli reduziert sich die Unsicherheit schon und man kann sagen, ob die Meereisausdehnung klein oder groß sein wird. Je näher man am September ist, desto genauer wird die Schätzung.

Anfang August haben wir zum ersten Mal mit großer Wahrscheinlichkeit sagen können, daß das bisherige Rekord-Minimum von 2007 unterschritten werden wird. Wenige Tage später war sogar ein großes Tiefdruckgebiet durch die Arktis gezogen, was durch die Wechselwirkung von Ozean und Atmosphäre nochmals enorm viel Eis zum Schmelzen gebracht hat. Dadurch hat sich die Anomalie vergrößert, so daß unsere Vorhersage von 4,1 Millionen Quadratkilometern Anfang August auf rund 3,5 Millionen Quadratkilometer für Mitte September gefallen ist. Die Vorhersage für den Septembermittelwert blieb dann relativ konstant. Der Wert der Eisausdehnung Mitte September ist immer unsere Zielgröße.

SB: Wie definieren Sie Anomalie und wie bestimmen Sie die Norm?

LK: Die Anomalie ist die Abweichung von der Norm. Die Norm wird durch den Jahresgang der Eisfläche bestimmt und von uns für die Vorhersage genutzt. Da fließen sämtliche Satellitendaten ein, die wir haben. In dem Fall schauen wir uns besonders die zentrale Arktis an, weil dort die Anomalien für den Septembermittelwert von Bedeutung sind. Es ist nicht so wichtig, ob man in die Beringsee guckt, sondern man muß in die zentrale Arktis gucken.

SB: Könnte man sagen, daß die Norm wiederum ein Mittelwert ist aus Anomalien, also aus der gesamten Datenmenge, die sie erfassen?

LK: Ja, die Norm ist der klimatologische Mittelwert aus allen Daten, die wir haben. Da gehen die Anomalien mit ein. Aber die mitteln sich raus.

SB: Ändert sich die Norm hinsichtlich des Meereises, weil sich seine Fläche im Laufe der Erdgeschichte verändert hat?

LK: Ja, die Norm ändert sich. Das sehen wir dann als Trend. Der Trend in der Abnahme der Eisfläche.

SB: Was sagen Ihre Daten, wann wird das arktische Meereis verschwunden sein?

LK: Solche Aussagen sind immer sehr heikel, man kann das nicht so einfach sagen. Man läuft dann immer in Gefahr, daß, wenn die Prognose nicht eintritt, der Seriosität der Klimaforschung ein großer Schaden zugefügt würde. Man kann aber die Meßdaten nehmen und einfach extrapolieren. Dazu muß man Annahmen treffen. Der Trend müßte dann der gleiche bleiben über die nächste Zeit. Und wenn man so etwas macht, dann kommt man bei Minus-Zahlen um 2020 raus. Das wäre der Zustand einer nahezu eisfreien Arktis. 'Nahezu eisfrei' bedeutet, wir haben noch 1 Million Quadratkilometer Meereis. Das ist eine Frage der Definition. Im Moment haben wir 2 Millionen Quadratkilometer. Es gibt da verschiedene Meßgrößen. Wir schauen uns die Ausdehnung an, die 'sea ice area'. Das sind tatsächlich nur noch 2 Millionen Quadratkilometer.

SB: Auf der heutigen Pressekonferenz wurden die Angaben verschiedener Nationen zur Ausdehnung des Meereises gezeigt. Wie kommen die teils beträchtlichen Diskrepanzen von 2,4 bis 4 Millionen Quadratkilometer zustande?

LK: Die Abweichungen sind gar nicht so groß, das sind einfach Definitionsunterschiede. Mit dem Wert von 2,4 Millionen Quadratkilometern ist die 'sea ice area' gemeint. Darin sind die Flächen innerhalb der Eisgrenze mit berücksichtigt. Und bei 'sea ice extent' ist die Ausdehnung gemeint. Das ist nur die äußere Fläche. Die Bezeichnung 'sea ice extent' hat eine historische Bedeutung. Das ist das, was man vom Schiff aus messen konnte. Von dort sah man das erste Eis, das dann die Eiskante ist. Wohingegen wir vom Satelliten aus auch die Flächen innerhalb des Eises, die möglicherweise nur mit einem gewissen Prozentsatz bedeckt sind, sehen. Die gehen in die Berechnung der 'sea ice area' ein. Das ist der Grund für die Unterschiede in den Größen. Es gibt natürlich auch noch Unterschiede in den einzelnen Verfahren, die sind aber nicht so groß und bewegen sich im Rahmen von einem Prozent. Das liegt alles sehr dicht beieinander.

Wenn es aber um die Frage geht, ob wir einen neuen Rekord haben oder nicht, spielt es eine Rolle, wenn die Werte dicht beieinander liegen. Das war im letzten Jahr der Fall. 2011 hatten wir eine Eisfläche, die war fast gleich auf mit dem Rekordjahr 2007. Dann bestand die Frage, ob das ein neuer Rekord ist oder nicht. Da spielen solche Größenordnungen von einem Prozent schon eine Rolle.

Karte der Arktis - Schaubild: National Snow and Ice Data Center (NSIDC)

Ausdehnung des Meereises der Arktis im August 2012. Grau: Land; blau: Meer (< 15% Eis); weiß: Eis; rote Linie: mittlere Eisausdehnung Schaubild: National Snow and Ice Data Center (NSIDC)

Karte der Arktis - Schaubild: National Snow and Ice Data Center (NSIDC)

Konzentration des Meereises der Arktis im August 2012. Grau: Land; blau: Meer (< 15% Eis); hellblau/weiß: Eis. Rechte Seite: Meereiskonzentration in 5-Prozent-Schritten. Meßungenauigkeit 5 Prozent. Schaubild: National Snow and Ice Data Center (NSIDC)

SB: Das scheint dann eine für die Medien wichtige Frage zu sein oder vielleicht auch für die Forscher, aber der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn dürfte nicht unbedingt dadurch größer sein, daß man haargenau weiß, ob der vorherige Wert sehr knapp erreicht wurde oder nicht.

LK: Viele Skeptiker nutzen die Spannbreite der Unsicherheit aus, um zu sagen, es gibt auch andere Ergebnisse, das stimmt alles gar nicht. Aber das kann man so nicht machen, weil die Grundaussagen alle sehr, sehr ähnlich und konsistent sind.

SB: Da haben die Klimaforscher offensichtlich spätestens seit der UN-Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen einige Probleme. Da waren den Klima-Wissenschaftlern im Vorwege doch durch sogenannte Klima-Skeptiker etliche Steine in den Weg gelegt worden. Hat sich das auf Ihre Möglichkeiten, ihre Ergebnisse in den Medien zu kommunizieren, negativ ausgewirkt?

LK: Ich kann nicht sagen, was das für Auswirkungen hat, aber ich denke doch mal, daß sich so etwas in der Gesellschaft vielleicht auch festsetzt, wenn immer wieder Behauptungen aufgestellt und Falschaussagen getroffen werden. Die ständige Wiederholung ist das übliche Mittel der Skeptiker. Das Problem besteht darin, daß man als Wissenschaftler immer die Aufgabe hat, auch die Unsicherheiten zu kommunizieren. Gerade das wird von den sogenannten Skeptikern geschickt ausgenutzt. Die nehmen sich diese Unsicherheiten, um zu sagen, da ist aber irgend etwas noch nicht richtig, und wir wissen da noch nicht so viel drüber. Ich sage 'sogenannte Skeptiker', weil Skeptizismus eigentlich der Wissenschaft inhärent und auch wichtig ist. Aber es gibt eben konstruktive Skeptik und es gibt destruktive Skeptik, bei der einfach die Grundwahrheiten, die schon Konsens sind, über den Haufen geworfen werden und mit Tricks operiert wird.

SB: Ich möchte noch einmal auf den auf der Pressekonferenz gefallenen Begriff des qualitativen Abnehmens des Meereises zu sprechen kommen. Sie sagten dazu, daß man noch keine quantitativen Daten hat. Wodurch werden sie dann zu qualitativen?

LK: 'Qualitativ' hatte ich in zweifacher Hinsicht verwendet. Einerseits für den Vergleich, der eben ein qualitativer Vergleich ist: Wir haben jetzt noch keine genauen Zahlen, aber wir können bereits Unterschiede feststellen - auch im Sinne von signifikant. Wir sehen signifikante Änderungen. Ich möchte jetzt noch keinen genauen Zahlen sagen, weil das Verfahren sehr neu und noch in der Entwicklung ist; wir brauchen dazu weitere Validationsdaten. Eben die sind erst kürzlich aufgenommen worden und stehen uns noch einfach zur Verfügung. Wir können die noch nicht nutzen, um unsere Verfahren für die Satellitendaten zu testen.

Wir brauchen solche Validationsdaten, die Bodenmessungen, um das Verfahren zu testen und auch um zu sehen, ob die Zahlenwerte übereinstimmen. Wir haben das schon anhand von einigen Beispielen gemacht, aber das ist eben noch nicht ausreichend. Die Messung der Eisfläche basiert auf Verfahren, die seit 40 Jahren getestet sind. Doch hinsichtlich der Eisdicke haben wir jetzt gerade erst im März das Verfahren veröffentlicht. Diese Daten stehen uns erst seit wenigen Monaten zur Verfügung. Dabei ist es klar, daß wir da noch größere Unsicherheiten haben. Wir wissen, die Messungen, die wir jetzt von dem SMOS-Satelliten haben, die sind durch Fehlerquellen beeinflußt. Denn wir messen damit nicht nur die Eisdicke, sondern im Prinzip auch Änderungen in der Eiskonzentration. Die Daten können uns dann eine geringere Eisdicke liefern oder auch durch die Schneeauflage, die Temperatur im Eis oder den Salzgehalt beeinflußt worden sein. Das alles wirkt sich auf das Ergebnis aus. Auch in der Abschätzung dieser Fehler steckt Arbeit, die wir noch leisten müssen. Da sind wir nicht am Ende, das ist eine laufende Arbeit und von daher können wir jetzt nicht den Federbalken ganz genau anlegen.

Klar ist aber, daß die Meereisflächen 2011 und 2012 verschieden sind. Daß wir Unterschiede in den Daten sehen, ist schon mal eine Erkenntnis, und daß man tatsächlich in diesen neuen Daten Unterschiede sehen kann, ist sehr nützlich. In den SMOS-Messungen sehen wir, wo dickes Eis ist. Das ist im September übriggeblieben. Wir haben den Vergleich vom Februar und September gemacht und gesehen, daß das dicke Eis überlebt hat. Zwar gibt es da noch Fehler auszubügeln, aber auf jeden Fall ist das Eis schwächer geworden. Das heißt nicht unbedingt, daß es auch sehr viel dünner geworden ist, aber es kann sein, daß sich dort sehr viel mehr offenes Wasser befindet - ein Hinweis auf die geringere Eisstabilität.

SB: Wir haben eben über die sogenannten Klimaskeptiker gesprochen. Klimaforschung ist offensichtlich eng mit Klimapolitik verbunden. Das paßt zu unserer Abschlußfrage: Wenn Sie mit Ihrem Wissen und Ihrem wissenschaftlichen Hintergrund in der Regierung säßen und die Klimapolitik Deutschlands bestimmen könnten, was würden Sie anders machen?

LK: Da muß ich mal drüber nachdenken. Also, ich bin Wissenschaftler und das bin ich gern. Deswegen möchte ich diese Rolle auch weiterhin einnehmen. Ich möchte unabhängig nach Erkenntnissen suchen und lege nicht so viel Wert darauf, politische Äußerungen zu tun. Ich versuche möglichst viele neue Erkenntnisse zu schaffen, die dann in der Öffentlichkeit oder in der Politik diskutiert werden sollten, so daß dann die Gemeinschaft daraus ihre Schlüsse ziehen kann. Das ist die Rolle, die ich für uns Wissenschaftler sehe, damit wir in dieser Form möglichst neutral dann unsere Ergebnisse publizieren können. Das ist eine Voraussetzung, daß die freie Wissenschaft weiter betrieben werden kann, und das wird sie sicherlich auch.

SB: Vielen Dank, Herr Kaleschke, für das Gespräch.

Interviewpartner im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Lars Kaleschke und SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

Fußnoten:
[1] Näheres zur Pressekonferenz finden Sie im Infopool unter UMWELT, REPORT:
BERICHT/028: Arktis warm, Europa kalt - Eisschmelze im polaren Norden (SB)

[2] Die Referenten und ihre Vortragsthemen:

Einführung: Was geht das Arktiseis Europa an?
Prof. Peter Lemke, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven

Das arktische Meereis im Jahresgang, aktuelle Zahlen

Dr. Georg Heygster, Universität Bremen

Welche Anomalien zeigt das Meereis 2012?
Dr. Lars Kaleschke, Universität Hamburg, KlimaCampus

Welche Ursachen hat der Eisverlust - und warum ist er erdgeschichtlich bedeutsam?
Dr. Dirk Notz, Max-Planck-Institut für Meteorologie, KlimaCampus

Folgen: Beeinflußt das Meereis das Wetter in Europa?
Prof. Rüdiger Gerdes, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven

Was hat das mit dem Meeresspiegel zu tun?
Prof. Anders Levermann, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung

Schifffahrt und operationelle Eisdienste
Dr. Jürgen Holfort, Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie

26. September 2012