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INTERVIEW/173: Welt ohne Hunger - hoffen auf die Politik ...    Jean Julien Somé im Gespräch (SB)


Internationale Abschlußkonferenz der Welthungerhilfe am 4. Februar 2015 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin

Jean Julien Somé über seine Hoffnung auf eine effektive Hungerbekämpfung durch Deutschland, den Widerspruch zwischen traditionellem und modernem Besitzrecht in Burkina Faso sowie das Phänomen des Landgrabbings


Die Welthungerhilfe hat das Projekt POWA [1] zur Entwicklungszusammenarbeit gegründet und dazu eine internationale Beratergruppe aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft einberufen. Diese hat Leitlinien zur Abschaffung des Hungers bis 2030 erarbeitet und im "Berlin Memorandum" zusammengefaßt. [2] Das wurde am 4. Februar auf einer Konferenz der Hilfsorganisation diskutiert und verabschiedet; sein Hauptzweck besteht in einem Appell an die Bundesregierung als aktuelle G7-Vorsitzende, das Thema Hunger auf die Agenda des nächsten Gipfeltreffens Anfang Juni auf Schloss Elmau zu setzen und gemeinsam mit den sechs anderen größeren Wirtschaftsnationen einen "Kurs auf eine Welt ohne Hunger" einzuschlagen.

Zur internationalen Beratergruppe, deren Kern sich aus Vertreterinnen und Vertretern Äthiopiens, Burkina Fasos, Deutschlands und Indiens zusammensetzt, gehört Jean Julien Somé, Generalsekretär von BERD (Bureau d'Etudes et de Recherches pour le Développement), einem Recherche- und Beratungsunternehmen für die Entwicklung in Burkina Faso. Jean Julien Somé hat einen Studienabschluß der Katholischen Universität von Louvain in Belgien im Bereich Management, Finanzwesen und Marketing für private und öffentliche Unternehmen. Laut der POWA-Website [3] arbeitet er mit verschiedenen Nonprofit-Organisationen im Sahel zusammen und hat unter anderem an der Evaluation und Potentialanalyse von Obst und Gemüse in der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA) sowie an einer Machbarkeitsstudie zum Export von Mangos aus Burkina Faso mitgearbeitet. Er war als Vertreter der Zivilgesellschaft nach Berlin gereist und hat auf der Konferenz im Anschluß an Bärbel Dieckmann, Präsidentin der Welthungerhilfe, und Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das POWA-Projekt vorgestellt.

Burkina Faso wiederum ist ein westafrikanischer Binnenstaat, dessen nördliche Landesteile in der Sahelzone liegen. Bis zu den Wahlen Ende des Jahres wird er von einer Übergangsregierung geführt. Mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von 649 US-Dollar (2012) gehört er zu den ärmsten Ländern der Welt. Die große Mehrheit der 17 Millionen Einwohner arbeitet in der Landwirtschaft und ist Selbstversorger. Burkina Faso ist Schwerpunktland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.

Am Rande der Konferenz hat Jean Julien Somé dem Schattenblick einige Fragen zu seinem Land und der Situation insbesondere der Kleinbauern beantwortet. Wenngleich sich die Länder des afrikanischen Kontinents nicht weniger voneinander unterscheiden als beispielsweise die Länder Europas, gibt es auch Gemeinsamkeiten, so daß sich die Erläuterungen Somés teilweise auch auf andere Nationen des Kontinents übertragen lassen.


Beim Interview - Foto: © 2015 by Schattenblick

Jean Julien Somé
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Somé, haben Sie die Hoffnung, daß beim nächsten G7-Gipfel unter deutschem Vorsitz entscheidende Schritte beschlossen werden, um den Hunger in der Welt zu beenden?

Jean Julien Somé (JJS): Ja, ich habe wirklich das Vertrauen, daß es Deutschland während seines G7-Vorsitzes gelingt, die Dinge zugunsten der Kleinbauern zu verändern - schon allein aus dem einfachen Grund, weil heute Minister Müller zugegen war. Das ist für sich gesehen noch keine herausragende politische Aktion, aber er hat sich die Zeit genommen, hier zu sein, und eine Rede gehalten. Ich habe sie gehört, und sie vermittelte nicht den Eindruck einer rein politisch motivierten Ansprache, sondern eher eines politischen Vortrags über eine Wirklichkeit, die ihm sehr vertraut ist. Ich war überrascht davon, daß er Hunger kennt und deshalb ein Plädoyer für die Kleinbauern gehalten hat. Und da er als Minister der Regierung angehört und Deutschland den Vorsitz der G7 hat, vertraue ich sehr darauf, daß Deutschland wichtige Schritte unternimmt, und glaube, daß sie auch sehr positive Ergebnisse zeitigen werden.

SB: 80 Prozent der Menschen in Burkina Faso sind Bauern oder Viehhalter. Gibt es akuten oder chronischen Hunger unter ihnen?

JJS: Ich selbst habe Hunger erlebt, obwohl ich noch privilegiert bin! [Er zeigt zur Unterstreichung seiner Worte auf sein Jackett und seine gute Kleidung.] Also, um das zu bestätigen: Es gibt Hunger in Burkina Faso. Und das sage ich nicht, um mein Land als notleidend und hilfsbedürftig darzustellen und man ganz schnell kommen müßte. Nein, Hunger ist eine ganz alltägliche Realität. Wenn Deutschland, wie der Minister sagt, vor kaum 100 Jahren noch Hunger gekannt hat in Bayern [3], ist es nicht verwunderlich, daß auch in Burkina Faso gehungert wird. Das ist ein reales Problem. Aus dem Grund bin ich sehr froh, hier zu sein, diese Arbeit mache ich mit Freude. Aber das ist eben nicht nur eine intellektuelle oder politische Frage, sondern dahinter stecken auch sehr, sehr persönliche Motive. Ich habe gehungert und kenne Menschen, die hungern. Deshalb wünsche ich mir, daß sich meine Arbeit positiv für die Menschen in Burkina auswirken wird. Das ist keine Frage von Zahlen, sondern es geht um Menschen, die ich kenne. Deshalb bin ich davon überzeugt, daß ich eine Aufgabe zu erledigen habe.

SB: Bestehen in Burkina Faso hinsichtlich der Ernährungssicherheit Unterschiede zwischen Stadt und Land?

JJS: Ja. Denn in der Stadt gibt es ein gravierendes Problem, das ist der Zugang zu Land. Es gibt in der Stadt und im näheren Umland Menschen, die viel Geld haben und das Land kaufen, aber weder Bauern noch Produzenten sind. Sie kaufen Ländereien, um sie zu besitzen, aber machen nichts mit dem Land. Nun wohnen rund um die Städte Bauern, die sehr wohl produzieren, aber auf diese Weise ihr Land verlieren und sich nicht auf die Arbeit in der Stadt verstehen. Sie haben dazu nicht die nötigen Fertigkeiten, sie sind keine Arbeiter.

Das ist ein sehr, sehr großes Problem, das im städtischen Umland viel akuter ist als in den Dörfern. Dennoch wird auch dort gehungert. Man spricht viel über "die Bauern auf dem Land", weil man sie natürlich nur als Bauern kennt. Aber die Bauern rund um die Städte haben ein viel gravierenderes Problem: Man vergißt sie häufig. Man vergißt sie in der Tat deshalb, weil sie keine Bauern und nicht einmal Arbeiter sind. Das ist ihr Problem. Sie haben das Land verloren und wissen jetzt nicht, was sie tun sollen.

SB: Im Jahr 2009 hat Burkina Faso ein neues Gesetz über den Besitz und die Nutzung von Agrarland verabschiedet. Könnten Sie unseren Lesern erklären, worum es sich dabei handelt und wie es sich auswirkt?

JJS: Die Praxis hat sich daran noch nicht angepaßt. Man hat das Gesetz verabschiedet, aber auf die Realität hat es keine Auswirkungen gehabt. Es gibt ein Problem in Burkina: Man sagt, daß das Land dem Staat gehört, er sei der Besitzer des Landes. Das aber ist problematisch, weil das Land auf der Dorfebene von den Bauern, genauer gesagt, durch den Erdherrn (chef de terre) [4] verwaltet wird.

In Burkina wird das Land nicht nach staatlichen Gesetzen verwaltet, sondern durch das Gesetz der Erdherren. Das bedeutet nicht, daß das ihr eigenes Land ist, sondern nur, daß sie es verwalten. Bei uns gehört das Land traditionell der Bauernorganisation, nicht dem Staat. Dieser sagt zwar, er sei der Besitzer, aber selbst wenn er jemandem eine Bescheinigung gibt, die besagt, daß er der Besitzer des Landes sei, hat das keinen Wert. Es besteht also ein Widerspruch zwischen dem modernen und dem traditionellen Gesetz. Letzteres verliert zwar an Bedeutung, aber was die Erneuerung betrifft, so ist das nochmal eine ganz andere Frage, ob tatsächlich umgesetzt werden kann, was von der Politik entschieden wird.

SB: Hat man sich unter dem "chef de terre" eine Art Häuptling vorzustellen?

JJS: Ja, aber nicht "eine Art von", [lacht] sondern das ist in der Tat ein Häuptling! Der Erdherr ist ein Häuptling. In manchen Dörfern haben wir sogar zwei Häuptlinge. Es gibt das Dorfoberhaupt und den Erdherrn, also den Herrn über das Land. Dieser Erdherr verpachtet Land, aber er verkauft es normalerweise nicht. Er gibt jemandem das Land, damit dieser darauf etwas anbaut, aber nicht, damit er Geschäfte damit macht. Doch inzwischen haben die Erdherren im Umkreis der Städte angefangen, das Land zu verkaufen, weil sie Geld haben wollen, um es auszugeben.

SB: Wenn das Land in Burkina Faso durch Entwicklungshilfe aufgewertet wird - zum Beispiel durch die Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen, Dünger, Mechanisierung und ähnliche Dinge mehr -, wie schätzen Sie dann die Gefahr ein, daß daraufhin ausländische Investoren verstärkt Langgrabbing in Burkina Faso betreiben könnten?

JJS: Landgrabbing ist in der Tat ein reales Problem. Man sieht das bereits im Zusammenhang mit den großen landwirtschaftlichen Projekten wie dem Bau künstlicher Bewässerungsanlagen. Man richtet das Land her und fordert anschließend, daß die Bauern ihre Kapazitäten erweitern, indem sie sich besser ausstatten, um das Land zu bewirtschaften. Doch die Kleinbauern haben selten einen Traktor zu Verfügung. Häufig wird die Arbeit mit Zugtieren wie Eseln oder Ochsen erledigt, mehr liegt nicht drin. Das bedeutet aber, daß hier Bedingungen gefordert werden, die die Kleinbauern nicht erfüllen können auf einem Land, das neu vorbereitet wurde. Da lauert eine Gefahr.

Doch zurück zu Ihrer Frage nach der Entwicklungszusammenarbeit: Nein, das, was ich gerade beschrieben habe, hat wenig mit dem zu tun, was man hier auf der Konferenz zu tun beabsichtigt. Das ist etwas anderes. Es geht hier um eine Bewußtseinsbildung bei der Politik in meinem Land und um die Förderung dessen, was die Bevölkerung am besten absichert und für die Erzeuger das beste ist. Bei uns sind es die Kleinbauern, die die Mehrheit der Produzenten stellen - zum Glück bis heute. Denn die meisten Großbauern kommen mit der Erde gar nicht mehr in Berührung. Deshalb bin ich froh, daß gerade die Entwicklungszusammenarbeit das Bewußtsein dafür schafft, daß bei der Bebauung des Landes den Kleinbauern der Vorzug gegeben und so die Produktivität des Bodens für diese Menschen gesichert wird.

SB: In den westlichen Medien wird oft berichtet, daß auf dem afrikanischen Kontinent eine Konkurrenz zwischen China, USA und Europäischer Union hinsichtlich der Rohstoffgewinnung ausgebrochen ist. Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar?

JJS: Es gibt diese Konkurrenz. Burkina liefert dafür ein einfaches Beispiel. Ich glaube, es ist eines der wenigen Länder in Afrika, die Taiwan anerkannt haben. Das hatte zur Folge, daß zwischen den beiden Chinas eine Konkurrenzsituation entstand. Die frühere Regierung hatte eine Situation herbeigeführt, in der die Volksrepublik China versuchte, das andere China bei uns zu vertreiben. Auch hat die Regierung von Burkina versucht, wie es in vielen Ländern Afrikas üblich ist, zwischen den unterschiedlichen Geldgebern zu jonglieren. Beispielsweise hatte China ein Angebot von Abmachungen vorgelegt, das weniger Bedingungen enthielt als das der Europäer, die auf jeden Fall bis heute die größten Geldgeber bei uns in Burkina sind. Wegen der diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ist die Volksrepublik China jedoch nicht als Geber in Burkina Faso aktiv.

SB: Vielen Dank für das Gespräch. [5]


Am Rednerpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

"Kleinbauern müssen in politische Entscheidungen eingebunden werden." (Jean Julien Somé, 4. Februar 2015, Berlin)
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] POWA steht für "Building Public and Political Will for Agriculture ODA in Germany" - Öffentliche und politische Willensbildung in Deutschland für ODA im landwirtschaftlichen Sektor. ODA (Official Development Assistance) bezeichnet das Bereitstellen finanzieller Mittel des öffentlichen Sektors für die Entwicklungszusammenarbeit.

[2] http://www.welthungerhilfe.de/fileadmin/user_upload/Themen/POWA/Termine/5_Berlin_Memorandum_on_sustainable_livelihoods_for_smallholders_2015.pdf

[3] Minister Müller sprach von "Hungervereinen", die es noch vor rund 100 Jahren in Bayern gab. Darin hatten sich rund 20 Bauern zu Genossenschaften zusammengeschlossen, Lagerhäuser gebaut, Dorfbanken gegründet und sich in Zeiten der Not gegenseitig unterstützt.

[4] Zum Begriff "Erdherr" schreibt M. Doevenspeck in "Bodenrecht in Benin":

"Die religiöse Bedeutung des Bodens leitet sich aus der Überzeugung ab, dass Ahnen der aktuellen Inhaber traditioneller Bodenrechte, die als erste Siedler in ein Gebiet gekommen waren, ein Abkommen mit den dem Boden innewohnenden Erdgeistern abgeschlossen haben, um das Land nutzen zu können. Daraus wird gefolgert, dass alle Entscheidungen, die den Boden und seine Nutzung berühren, im Sinne der Ahnen getroffen werden müssen, um deren Zorn und damit verbundene Bestrafungen zu vermeiden. Ihr Beistand und das Wohlwollen der Erdgeister werden durch Opfergaben und Zeremonien gesichert. Landverkauf ist daher i. d. R. verboten und bedeutet eine Missachtung der Rechte künftiger Generationen. Eine zentrale Stellung kommt in diesem Zusammenhang dem Erdherren, dem 'chef de terre' zu. Die Kategorie 'chef de terre' dient in der Westafrikaforschung der Beschreibung eines idealtypischen dörflichen Dualismus zwischen den Verantwortlichen des Bodens und der Erdschreine und den politischen Herrschern. In der Realität können die Übergänge allerdings fließend bzw. ganz aufgehoben sein oder auch mehrere, dem Erdherrenamt vergleichbare Ämter in einem Dorf existieren. Der Erdherr bzw. ein anders genannter Würdenträger mit vergleichbaren Funktionen fungiert als eine Art Treuhänder des Kollektiveigentums Boden und verwaltet als Nachkomme und Repräsentant des Siedlungsgründers dessen Erbe."
Quelle: http://liportal.giz.de/fileadmin/user_upload/oeffentlich/Benin/30_wirtschaft-entw/s3_p_boden.pdf

Näheres zum Begriff "Erdherr" in Burkina Faso erfahren Sie beispielsweise hier:
"Erdherren und Einwanderer: Bodenrecht in Burkina Faso", erschienen in: "Mensch und Natur in Westafrika", Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG); Richard Kuba, Andrea Reikat, Andrea Wenzek und Katja Werthmann, online erschienen am 23. November 2005.
DOI: 10.1002/3527605754.ch4b

[5] Wir danken POWA-Koordinator Niklas Schäfer für seine spontane Unterstützung des Interviews als Dolmetscher.


Einen Bericht und zwei Interviews zur POWA-Konferenz der Welthungerhilfe in Berlin finden Sie im Schattenblick unter:
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