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INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten ...    Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB)


5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl

Internationaler IPPNW-Kongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin

Die Filmemacher Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi über die Entstehung ihres Dokumentarfilms "Unavoidable", die Verantwortung der Künstler für ihre Mitwirkenden und über eine Welturaufführung, die möglicherweise die erste und letzte ihrer Art gewesen ist ...


Einer der Höhepunkte des diesjährigen Kongresses der Nichtregierungsorganisation IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War - Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Ärzte in sozialer Verantwortung) war die Welturaufführung des jüngsten Werks von Ian Thomas Ash "Unavoidable" (japanisch: seizanuwoenai, deutsch: unvermeidlich). Ein unvermeidlicher Hammerschlag war im Wortsinn des Titels auch die Wirkung dieser Arbeit, was die Stellungnahme und Konfrontation mit der Situation der Menschen in Fukushima angeht. Eben dieses Werkzeug zum Einschlagen von Nägeln wollte der Filmemacher damit anbieten. Nicht mehr und nicht weniger.

Der Augenzeugenreport, wie ihn ein Kongreßteilnehmer nannte, der Parallelen zu ähnlichen filmischen Experimenten in Belarus nach dem Tschernobyl-Unglück zog, ist - darüber waren sich die Zuschauer im Gespräch mit Ian Ash im Anschluß an den Film einig - in mehrfacher Hinsicht einzigartig. Zum einen war die Dokumentation, die an die letzte Arbeit "A2-B-C" anschließt, speziell auf die Fragestellungen dieses Kongresses hin aus über hundert einstündigen Interviews, die der Filmemacher nach den Ereignissen im März 2011 mit Betroffenen in Fukushima geführt hat, zusammengeschnitten worden, zum anderen sind die darin geäußerten Gefühle und verbalen Auseinandersetzungen der Betroffenen mit ihrer Situation im derzeit vorherrschenden Klima der Verdrängung und des Schweigens an sich schon eine Seltenheit.

Die starke Beteiligung von Ian Ash an diesem Projekt zeigt sich darin, daß er einen Tag nach der Uraufführung darüber nachdenkt, den Film kein weiteres Mal zu zeigen, um die Zeitzeugen darin nicht zu gefährden. So wird die einzigartige Weltpremiere des Films als noch nicht ganz fertiggestellte Work-in-Progress-Produktion, wie Menschen in der Präfektur Fukushima die Folgen der atomaren Katastrophe bewältigen, möglicherweise die einzige Aufführung bleiben.

Rei Horikoshi, ein Student aus Tokio, der mit Ian Thomas Ash seit September 2015 zusammenarbeitet und an der Entstehung des jüngsten Films wie auch bei einigen Interviews maßgeblich beteiligt war, bestätigt den Trend auch bei jungen Leuten in Japan, die Folgen der Katastrophe einfach zu verdrängen. Er gibt selbstkritisch zu, daß er, als die dreifache Katastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze in Fukushima Daiichi über Japan hereinbrach, das Unglück als etwas erlebte, das nichts mit seinem eigenen Leben zu tun hatte. Dabei habe er selbst damals in Tokio, das heißt im Einzugsbereich einer möglichen Fallout-Wolke gelebt, falls der Wind eine andere Richtung genommen hätte. So wie er gehen viele Menschen in Japan mit dieser Problematik um. Vor allem versuchen sie das Positive an ihrer eigenen Lage zu sehen, indem sie diese mit der von anderen vergleichen, die noch viel betroffener sind.

Die Anzahl der Menschen, die ihre Wut öffentlich äußern, würde zwar zunehmend kleiner, aber die Wut derjenigen, die noch ihre Stimme erheben, wachse, erklärte der Filmemacher in der Fragestunde. Dennoch wird sein Anliegen vom Mainstream des vorherrschenden Vergessenwollens überrollt.

Am nächsten Tag hatte der Schattenblick die Gelegenheit, mit den Filmschaffenden zu sprechen.


Porträt - Foto: © 2016 by Schattenblick

Es gibt sehr viele Betroffene in Fukushima, die nicht einmal in der Lage sind, ihre Probleme zu verbalisieren. Die machen mir besonders große Sorgen. - Ian Thomas Ash
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Nach der Welturaufführung Ihres jüngsten Films "Unavoidable" erklärten Sie auf eine Frage aus dem Publikum, daß Sie mit Ihren Filmen gewöhnlich nicht diejenigen ansprechen wollen, die ohnehin schon Aktivisten sind oder die gleiche Ansicht vertreten, sondern vor allem diejenigen informieren wollen, die sich über die Vorgänge und die immer noch zu bewältigenden Probleme in Fukushima keine Meinung gebildet haben. War dies das ausschlaggebende Motiv, weshalb Sie einen dritten Film über die Menschen in Fukushima gemacht haben?

Ian Thomas Ash (ITA): Ja natürlich. Ich habe immer damit zu kämpfen, wie ich den Film herausbringe und wo er gezeigt werden könnte. Auf Antiatomkraft-Filmfestivals oder in Antikernkraft-Organisationen wird er natürlich immer gerne vorgeführt und darüber freue ich mich auch. Aber wenn wir den Film nur in diesem festgelegten Rahmen zeigen, dann erreichen wir die Menschen nicht, die sich bisher noch keine Gedanken über die Gefährlichkeit von Atomkraft gemacht haben, oder warum man sie ablehnen sollte. Ich hoffe, einen Film machen zu können, der - ganz gleich wieviel man bereits über das Thema weiß oder nicht - jeden Menschen an seinem Wissensstand beziehungsweise an seiner Position oder seinem Standpunkt zur Situation in Fukushima abholt, die er selbst in die Filmvorführung einbringt. So kann die Dokumentation für verschiedene Menschen eine ganz unterschiedliche Bedeutung bekommen. Unter uns gesagt, bin ich davon überzeugt, daß Atomkraft nicht so eine großartige Sache ist. Aber ich würde mich nie als einen Aktivisten bezeichnen.

SB: Sie haben sich bereits in anderen Filmdokumentationen recht unerschrocken mit schwierigen sozialen Themen wie Drogenmißbrauch oder Obdachlosigkeit auseinandergesetzt. Bevorzugen Sie diese randständigen Problematiken?

ITA: Ehrlich gesagt, ja. Es liegt mir mehr, als eine gefällige, seichte Geschichte zu erzählen, die allerdings kaum der Realität entspricht.

SB: Was motiviert Sie dazu, die Schattenseiten des Lebens in den Fokus Ihrer Kamera zu rücken? Betrachten Sie das als eine Herausforderung?

ITA: Nein, tatsächlich wäre es für mich eine Herausforderung, einen Film über eine sehr schwierige Situation zu drehen, der sich die Protagonisten stellen und die sie dann am Ende lösen. Es ist einfach so, daß mein Auge immer diese problematischen Themen und Bilder einfängt.

SB: Menschen dazu zu bringen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu öffnen und sogar zu weinen, soll gerade im japanischen Kulturkreis keine einfache Aufgabe sein. Ihnen scheint genau das mit sehr wenig Aufwand gelungen zu sein. Die Protagonisten in Ihrem Film offenbaren vor laufender Kamera ihre innersten Gefühle, Ängste, Hoffnungen. Brauchten Sie eine spezielle Ausbildung, um die Menschen dazu zu bringen, sich Ihnen in einer solchen Situation zu öffnen?

ITA: Nein, das nicht. Vielleicht kommt es daher, daß ich in einer Kirche aufgewachsen bin. Mein Vater ist Pastor. Von daher habe ich vermutlich mitbekommen, wie man für Menschen, die in Not sind, da sein kann. An vielen Stellen des Films drücken die Betroffenen, die ich zeige, ihre tiefsten Gefühle aus. Ich verstehe meine Aufgabe darin, da zu sein und zuzuhören und mehr nicht. Ich habe festgestellt, daß oftmals die vielleicht wertvollsten Gedanken oder Informationen, die uns die Mitwirkenden in diesem Film mitteilen, keine Antwort auf meine Fragen sind, sondern daß sie einfach in dieser gemeinsamen Stille entstehen, in einem geschützten Raum, in dem sich Menschen sicher genug fühlen, das, was sie mit uns teilen wollen, uns auch mitzuteilen.

SB: Die Menschen, die Sie in diesem Film zeigen, schienen mir alle große Verluste durch die Katastrophe von Fukushima erlitten zu haben. Ihre Trauer darüber zeigen sie gewöhnlich nicht. Man hatte sogar den Eindruck, daß sie ihre Gefühle lange unterdrückt oder gemieden haben. Durch das Sprechen darüber, wozu Sie ihnen die Gelegenheit geben, scheinen sie vielleicht sogar zum ersten Mal einen Zugang zu ihrem eigenen Leid zu erhalten. Wie haben Sie das selbst empfunden?

ITA: Natürlich hatte es im Zuge des Projekts bereits Vorgespräche mit den beteiligten Menschen gegeben, in denen es auch um das ging, was sie sagen würden. Aber tatsächlich haben mir anschließend einige der Mitwirkenden gesagt, daß sie über einige ihrer Erinnerungen, die sie vor der Kamera mit mir geteilt haben, noch nie zuvor wieder gesprochen hätten. Es ist also durchaus möglich. Wenn ein normales Filmteam eine Dokumentation drehen will, haben sie normalerweise nur ein kleines Zeitfenster, das ihnen zur Verfügung steht. Oft können sie die Interviews nicht in der Muttersprache führen, das heißt sie benötigen einen Dolmetscher und der kann vielleicht nicht die emotionale Tiefe vermitteln, die empfunden wird.

Ich nehme mir gerne sehr viel Zeit für die Menschen, mit denen ich spreche. Ich versuche nicht, etwas Bestimmtes aus ihnen herauszuholen, sondern lasse sie einfach das sagen, was sie sagen wollen. Daher könnte es durchaus sein, daß einige der Interviews Dinge enthalten, die niemals zuvor zum Ausdruck gekommen sind.

SB: Ein anderer amerikanischer Filmemacher, der nicht fließend japanisch spricht wie Sie, hätte somit nicht die gleiche Arbeit machen können?

ITA: Nein, ich würde nicht sagen, daß andere Dokumentarfilmer schlechtere oder auch bessere Arbeit machen, ihre Arbeit wäre dann nur etwas ganz anderes. Allein wenn noch weitere Personen an der Produktion beteiligt sein müssen, die vermitteln, was gesagt wird, und wenn man nicht die gleiche Sprache spricht, kommt eine Ebene in der Kommunikation dazu, die etwas anderes hervorbringen wird, als unter weniger aufwendigen, reduzierteren Ausgangsbedingungen. Es würde möglicherweise eine ebenso gute, wenn auch komplett andere Arbeit werden, denn es macht einen entscheidenden Unterschied aus, ob Menschen miteinander die gleiche Sprache sprechen oder nicht.

SB: Die gleiche Sprache zu sprechen, hängt oft von mehr ab, als von den geäußerten Worten oder Lauten. Verständnis füreinander scheint manchmal ganz andere Wege zu gehen. Ich hatte beispielsweise in einer der ersten Szenen den Eindruck, daß die Kamera den Vater ein wenig länger im Fokus behielt, als man es von der Gewohnheit her erwartet hätte. Und dann kamen ihm Tränen. Hatten Sie vorausgesehen, daß seine Emotionen derart dicht unter der Oberfläche lagen?

ITA: Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was ich in diesem Augenblick empfunden habe. Natürlich habe ich starke Gefühle wahrgenommen. Ich konnte in dem Moment auch nichts sagen, was angemessen gewesen wäre. Sie kennen das ja sicher auch, daß in schwierigen Momenten einer Person, die verzweifelt ist, ganz schnell gesagt wird: "Das ist doch okay ..." Aber genau das ist es in dieser Situation ja nicht.

Wenn sich uns jemand öffnet, der etwas sehr Schlimmes erlebt hat, können wir oft überhaupt nichts dazu sagen und deshalb war ich in diesem Moment einfach still und wollte ihm die Zeit und den Raum lassen, sich über seine Gefühle erst einmal selbst klar zu werden, und auch, daß er dabei war, diese bislang unterdrückten Gefühle mit anderen zu teilen. Um dann anschließend selbst bestimmen zu können, in welche Richtung, in welcher Tiefe oder an welchem Punkt er das Gespräch fortführen möchte. Wenn ich mich unsicher fühle und dann einfach das Thema wechsle - eine typische Art, mit solchen Situationen umzugehen -, empfindet er das möglicherweise als grobe Zurückweisung. Vielleicht fühlt er sich zurechtgewiesen, etwas Falsches oder Ungehöriges gesagt zu haben. Oder man vermittelt den Eindruck, es sei in der Situation nicht angemessen gewesen, über solche Dinge zu sprechen.

Wenn ich aber daraufhin weitere und tiefergehendere Fragen stelle, nötige ich ihm vielleicht auf, etwas zu sagen, wozu er noch nicht bereit ist, so daß er sich vergewaltigt vorkommt. Das heißt, in diesen Momenten ziehe ich mich zurück und überlasse dem Interviewten die Führung für den weiteren Verlauf des Gesprächs.

SB: Der Film, von dem Sie gestern die aktuellste Version vorstellten, "Unavoidable" (Unvermeidlich) befindet sich noch in Arbeit. Sie sprachen davon, daß Sie einige Szenen wieder herausschneiden werden, weil Sie unter anderem die junge, krebskranke Frau, die in einem der Interviews ihre Erfahrungen mit den japanischen Medizinern äußert, schützen möchten. Was hätte sie Ihrer Ansicht nach zu befürchten, wenn der Film in Kinos oder zu anderen Gelegenheiten gezeigt würde?

ITA: Es geht nicht allein um sie. Ich möchte alle Mitwirkenden in diesem Film schützen. Und ich habe gerade mit einem der an der Produktion beteiligten Personen telefoniert. Genauer gesagt, haben wir dieses Telefongespräch gerade erst beendet, und darin ergab sich eine äußerst widersprüchliche Situation. Alle Protagonisten in dem Film hatten sich dazu bereit erklärt, waren natürlich mit den Aufnahmen einverstanden, und sie wußten auch, daß ich ein Dokumentarfilmer und Filmemacher bin. Zwischen der Aufnahme 2011/2012 bis heute sind einige Jahre vergangen. Ihre Meinung kann sich inzwischen geändert haben oder sie haben eine andere Einstellung dazu gewonnen oder sie haben schlicht Angst. Und ich muß nun einen ausgewogenen Zwischenweg finden, denn meiner Ansicht nach sollten diese Eindrücke und Gefühle dokumentiert und auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Vielleicht spüren die Menschen in dem Augenblick, in dem sie darüber im Interview sprechen können, eine gewisse Erleichterung. Aber anschließend kommen dann vielleicht Befürchtungen, was dadurch geschehen könnte. Ich bin also jetzt in der Lage, darüber zu verhandeln und mir Gedanken darüber machen zu müssen, wie es weitergehen soll. Was könnte denn mit der jungen Frau geschehen, die in dem letzten Teil vorkommt, was wäre die Gefahr? Nun, wie bereits eine der Frauen gegen Ende des Films sagte, es gab und gibt aktuell eine allgemeine Stimmungslage, die verhindert, über das, was in Fukushima vor sich geht, zu sprechen. Die Menschen haben Angst, ihre Meinung zu sagen. Daneben gibt es aber auch eine Art Selbstzensur, mit der sich die Menschen beschränken, sich öffentlich zu äußern. Was der jungen Frau geschehen könnte, ist ganz einfach so etwas wie Ächtung in der Gemeinde, in der sie lebt, weil die Menschen das, was sie gesagt hat, nicht für angemessen halten und sie damit zur Außenseiterin machen. Auch schwerwiegendere Befürchtungen, etwa Schwierigkeiten zu bekommen, einen Job zu finden, wären möglich. Ein Arbeitgeber mag sie vielleicht für eine Aktivistin halten, oder er möchte nicht, daß die mediale Aufmerksamkeit mit ihrem Arbeitsplatz in Verbindung gebracht wird, das heißt, sie könnte arbeitslos werden. Eventuell stehen auch private Befürchtungen dahinter, zum Beispiel daß sie jemand nicht mehr heiraten möchte, weil sie in einem Film zu sehen war. Darüber hinaus sind auch mehr oder weniger begründete oder befürchtete medizinische Sanktionen denkbar, daß man ihr die notwendige Therapie, die sie als Krebspatientin am Fukushima University Medical Hospital irgendwann einmal brauchen wird, nicht in dem nötigen Umfang zugesteht, weil sie eine Person ist, die öffentlich ihre Meinung geäußert hat. Das heißt, es ist schwer abzuschätzen, welche Gefahren tatsächlich bestehen und welche nur befürchtet werden. Es sind durchaus nicht die gleichen Probleme, mit denen sich die Menschen auseinanderzusetzen haben. Und vielleicht wird das auch in meinem Film nicht so deutlich, wenn beispielsweise der Doktor im letzten Teil des Films sagt: "Die Leute, die in Ihrem Film mitwirken sind wirklich sehr mutig und unerschrocken." Aber ich hatte gehofft, mit dieser Szene deutlich zu machen, daß genau das eine sehr seltene Eigenschaft ist. Es kommt nicht oft vor, daß Menschen wie hier ihre Meinung überhaupt äußern. Und diese Mitwirkenden gehören genau genommen zu einer privilegierten Minderheit, die zumindest in der Lage sind, das, was in ihnen vorgeht, zu verbalisieren. Ich mache mir sehr große Sorgen um die Menschen, die das nicht können, die niemanden haben, der ihnen zuhört und die das, was in ihnen vorgeht, nicht ausdrücken können.

SB: Wie sieht es denn für Sie selbst aus? Sie leben in Japan. Man hört immer wieder von Journalisten, die Probleme mit den japanischen Behörden bekommen, weil sie ihre Meinung öffentlich äußern oder nur wahrheitsgetreu über die Vorfälle im havarierten Kernkraftwerk berichteten. Sie haben mit Ihrem Film einen kritischen Einblick in das Leben der Menschen rund um das havarierte Kraftwerk in Fukushima gegeben und sich damit eindeutig positioniert. Könnten Sie Restriktionen oder andere Probleme erwarten, denen Sie sich bei Ihrer Rückkehr stellen müßten?

ITA: Ja sicher, alles ist möglich. Das ist natürlich auch eine Sorge, die ich habe und über die ich nachdenken muß. Denn wenn ich diese Arbeit nicht machen kann, die ich ja angefangen habe, um in Japan leben zu können, dann wäre Japan für mich ein Land, in dem ich auch nicht mehr leben möchte. Also, wenn die Arbeit, die ich mache, meinen Aufenthalt unmöglich macht, dann muß ich, da ich diese Arbeit weitermachen werde, Japan verlassen. In keinem Fall werde ich mit meiner Arbeit aufhören, nur um dort bleiben zu können.

SB: Könnten nicht bereits diese jüngsten Entwicklungen, daß weitere Mitwirkende ihre Zustimmung zur Veröffentlichung entziehen, zu einem Aus für den Film führen?

ITA: Das ist durchaus möglich. Ich möchte diesen Film zeigen. Ich hatte bereits Probleme mit der Veröffentlichung meiner anderen Dokumentation "A2-B-C" über Kinder in Fukushima. Während der Dreharbeiten nahm ich noch weitere Interviews mit anderen Personen aus dem Umfeld auf. Und immer wieder kamen welche, die plötzlich Einwände gegen eine Veröffentlichung ihrer Aufnahmen hatten. Die Person, mit der ich gerade am Telefon gesprochen habe, macht sich inzwischen sehr große Sorgen, daß das Interview mit ihr im Film gezeigt werden könnte. Es ist also tatsächlich alles möglich.

SB: Um noch einmal auf die junge Frau zurückzukommen, die in Ihrem Film davon spricht, daß sie keinen Kontakt zu gleichaltrigen Patienten mit dem gleichen Problem hat und mit ihrer Erkrankung völlig isoliert ist. Gibt es in Japan Bestrebungen seitens der japanischen Gesundheitsbehörde oder der Regierung, Schilddrüsenkrebspatienten aus Fukushima von anderen Krebspatienten zu isolieren?

ITA: Das ist eine Sache, der ich gerne auf den Grund gehen möchte. Denn genau das habe ich auch vermutet. Allerdings ist das nur meine persönliche Theorie, ich kann sie nicht beweisen. Ich finde es ganz fürchterlich, daß die junge Frau keine Möglichkeit hat, sich mit anderen Patienten in ihrem Alter zu treffen. Ein möglicher Grund dafür könnte sein, daß sie gerade 18 Jahre alt geworden war, als sie operiert wurde und man sie deshalb zu den Erwachsenen gelegt hat. Aber selbst dann, wenn es Sache der Bürokratie war und keinen anderen Grund für ihre Isolierung gab, halte ich das für lieblos. Ein junger Mensch mit Krebs sollte zumindest die Gelegenheit bekommen, mit anderen gleichaltrigen Patienten in einer ähnlichen Lage zu sprechen. Auch die Eltern dieser Krebspatienten sollten sich untereinander austauschen können. In japanischen Krankenhäusern sind solche Selbsthilfe- oder Gesprächsgruppen eine ganz geläufige Einrichtung, die auch zur psychischen Unterstützung der Patienten oder auch Angehörigen zur Therapie dazugehört.

Ich versuche herauszufinden und zu verstehen, warum Patienten bis vor kurzem der Kontakt zueinander untersagt wurde, obwohl ausreichend räumliche und technische Gegebenheiten vorhanden waren. Allein die Tatsache, daß ihr vorenthalten wurde, daß es auch andere Patienten in ihrer Lage gibt, daß sie sich nicht mit ihnen treffen konnte und in einem Teil des Krankenhauses mit Patientinnen und Patienten untergebracht wurde, die sehr viel älter waren als sie, finde ich schockierend. Aber ich weiß nicht, ob die Maßnahme tatsächlich eine Funktion hatte, für die es eine offizielle Anweisung gab.

SB: Doris Dörrie hat gerade den Bayerischen Filmpreis für die beste Darstellerin in ihrem neuen Film "Grüße aus Fukushima" erhalten, den sie in der Sperrzone um Fukushima gedreht hat. Darin wird eine junge Frau gezeigt, wie sie ohne spezielle Ausrüstung in die kontaminierte Zone geht und dort einer alten Dame hilft, ihr Haus wieder instand zu setzen. Was können Sie aufgrund Ihrer Erfahrung mit Menschen, die tatsächlich dort leben, darüber sagen?

ITA: Ich kann nichts über den Film sagen, weil ich ihn noch nicht gesehen habe. Ganz allgemein kann ich aber sagen, daß unsere eigenen Dokumentationen über Fukushima keine Unterhaltungsfilme sind. Ich finde es persönlich sehr problematisch, gleichzeitig einen Film zu machen, der als Anschauungsmaterial oder Lehrmittel in Workshops oder zum Studium in Universitäten genutzt werden und den Ansprüchen eines Unterhaltungsfilms genügen soll. Wenn man sich in das Genre Spielfilm hineinbegibt, ein dickes Budget dafür bekommt, seine Mitarbeiter bezahlt und mit dem Film auch ordentlich Geld verdient wird, dann liegt der Verdacht, daß man damit von dem Leid der Opfer profitiert oder es gar ausbeutet, sehr nahe. Diese ethischen Fragen betreffen uns alle, Filmemacher wie Journalisten. Und jeder, der Geld verdient, indem er die Ereignisse und das Leben der Menschen dort aufzeichnet und dokumentiert, sollte daher selbstkritisch in Frage stellen, inwieweit dies für seine Arbeit zutrifft. Wenn wir diesen Diskurs nicht führen und uns selbst und unsere Arbeit nicht immer wieder aufmerksam dahingehend befragen: Mache ich noch das Richtige? Ist das auch das Richtige für die Menschen, die in dem Film dargestellt werden? Was erreiche ich dadurch? Welchen Gewinn habe ich davon und welche eigene Gier bediene ich damit? - Wenn wir das nicht tun, dann machen wir Fehler. Deshalb brauchen wir diese ständige Debatte darüber.

Natürlich fühle ich mich auch verantwortlich - mein Film zeigt beispielsweise nicht die ganze Geschichte von Fukushima, sondern nur einen kleinen Teil davon. Niemand sollte diesen Teil mit der ganzen Wahrheit verwechseln. Das gleiche gilt auch für die Personen, die in unseren Interviews offen über sich sprechen. Es wäre falsch zu glauben, daß dies typisch für Japaner wäre. Die Menschen, die hier sprechen, gehören einer sehr kleinen Minderheit an. Niemand spricht über Fukushima. Deshalb bin ich davon überzeugt, daß man diese Problematik sehr ernst, sehr sorgfältig und auch respektvoll mit großer Vorsicht behandeln muß.

SB: Rei Horikoshi, Sie sagten eingangs, daß Sie das Unglück in Fukushima und die Sorgen darüber - wie viele andere auch - so wahrgenommen haben, als sei es in einem anderen Land geschehen. Hat sich seit Ihrer Arbeit mit Ian Ash etwas für Sie verändert, worüber Sie gerne sprechen möchten?

Rei Horikoshi (RH): Die Menschen in Fukushima, mit denen ich gesprochen habe, und auch mit jungen Leuten etwa in meinem Alter, haben vor allem nur einen einzigen Wunsch, wieder ein ganz normales Leben zu führen. Das hat mich unglaublich beeindruckt. Überall in der Welt werden die Ereignisse im März 2011 in Fukushima als Tragödie betrachtet und das hatte ich auch bei den Betroffenen erwartet. Doch es gibt dort viele Menschen vor Ort, die dort nicht fort möchten und daran arbeiten, daß sie wieder zur Normalität zurückkehren können.

SB: Was beeindruckt Sie daran besonders?

RH: Ich bewundere, daß sie nicht davongelaufen sind, sondern sich den Problemen stellen. Ich denke jetzt darüber nach, in Zukunft selbst nach Fukushima zu gehen, um diese Arbeit fortzusetzen, das heißt, das, was sie zu sagen haben, filmisch zu dokumentieren, und ihre Stimmen mit allen Menschen in Japan und möglichst der ganzen Welt zu teilen, beziehungsweise sie für alle Menschen in Archiven zugänglich zu machen, so daß sie nicht vergessen werden.

SB: Herr Ash und Herr Horikoshi, vielen Dank für dieses Gespräch.


Die Filmemacher im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rei Horikoshi und Ian Thomas Ash
Foto: © 2016 by Schattenblick


Anmerkungen:



Die Berichterstattung des Schattenblick zum IPPNW-Kongress finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

BERICHT/112: Profit aus Zerstörungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0112.html

BERICHT/113: Profit aus Zerstörungskraft - kein Frieden mit der Atomkraft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0113.html

INTERVIEW/203: Profit aus Zerstörungskraft - nach unten unbegrenzt ...    Dr. Alexander Rosen im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0203.html

INTERVIEW/204: Profit aus Zerstörungskraft - Spielball der Atommächte ...    Dr. Helen Caldicott im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0204.html

INTERVIEW/205: Profit aus Zerstörungskraft - systemische Verschleierung ...    Tomoyuki Takada im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0205.html

9. März 2016


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