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INTERVIEW/218: Brokdorf, Memorial und Mahnung - nicht nur Schönheitsfehler ...    Dr. Karsten Hinrichsen im Gespräch (SB)


30 Jahre Tschernobyl - Brokdorf abschalten

4. Protest- und Kulturmeile am Akw Brokdorf am 24. April 2016

Karsten Hinrichsen über die Milch seiner einstigen Viertel Kuh, die vernachlässigten Gefahren beim Rückbau von Atomkraftwerken und einen rätselhaften Krebscluster in Hauptwindrichtung des Akw Brokdorf


Die Bundesregierung hat entschieden, daß spätestens bis Ende 2022 alle Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden. Das Akw Brokdorf im Kreis Steinburg, Schleswig-Holstein, soll ein Jahr früher vom Netz gehen. Warum es trotz dieser Aussichten gute Gründe dafür gibt, einen sofortigen Atomausstieg zu fordern, erklärte Dr. Karsten Hinrichsen in seiner Eröffnungsansprache auf der 4. Protest- und Kulturmeile, die er und andere Mitstreiterinnen und Mitstreiter gegen die zivile wie militärische Anwendung der Atomenergie am 24. April 2016 beim Akw Brokdorf veranstaltet haben:

"Die russischen Aufsichtsbehörden sagen, durch die Tschernobyl-Katastrophe sind möglicherweise 150.000 bis 200.000 Tote in ganz Europa zu verzeichnen. Wenn ich solche Zahlen höre, dann wird mir immer ganz mulmig, denn alle in Deutschland lebenden Personen wohnen in der Nähe eines Atomkraftwerks. Und die Strahlung, die bei einem Super-GAU frei wird, hört ja nicht in zehn Kilometern auf und auch nicht in 200 Kilometern, sondern kann sich möglicherweise erneut wieder weltweit ausbreiten. Deshalb ist unser Widerstand nach wie vor erforderlich. Jede Stunde Betrieb des Akw Brokdorf kann in die Katastrophe führen. Abschalten - sofort!"


Auf der Bühne stehend bei seiner Ansprache - Foto: © 2016 by Schattenblick

Dr. Karsten Hinrichsen
Foto: © 2016 by Schattenblick

Auch nach Jahrzehnten des Widerstands gegen die Atomenergie im allgemeinen und das Akw Brokdorf im besonderen hat die Entschiedenheit, mit der der pensionierte Meteorologe Dr. Karsten Hinrichsen sein Ziel verfolgt, nicht nachgelassen. Der Betreiber der Website brokdorf-akut.de wohnt direkt hinter dem Elbdeich, nur 1,5 Kilometer vom Akw Brokdorf entfernt, und kann daher sehr gut nachempfinden, wie sich die Menschen in der 50.000-Einwohner-Stadt Prypjat am 26. April 1986 gefühlt haben müssen, als sie Feuer und Rauch aus dem Akw Tschernobyl aufsteigen sahen, die Feuerwehr ausrückte, Fernbusse die Stadt nicht mehr verließen und die Stadtreinigung aus unerfindlichen Gründen die Straßen mit viel Wasser gesäubert hatte, aber sie einen Tag lang ungeschützt dem radioaktiven Fallout ausgeliefert waren, bevor sie evakuiert wurden. [1]

Ein solches Ereignis wie in Tschernobyl ist in Deutschland nicht gänzlich ausgeschlossen, ein Restrisiko bleibt, auch wenn der ukrainische Reaktortyp ein anderer ist, als er hierzulande verwendet wird. Aber bei den schweren Atomkatastrophen beispielsweise von Windscale (1957), Majak (1957), Three Mile Island (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) waren auch nicht immer die gleichen Reaktortypen beteiligt, und keiner der Betreiber dieser Anlagen hat vor dem Unfall eingeräumt, daß sein Meiler eigentlich extrem unsicher sei und abgeschaltet gehöre. Alle sind von der Sicherheit ihrer Anlagen ausgegangen, bis sie und Millionen Menschen rund um den Globus eines Schlechteren belehrt wurden.

Nach Abschluß der 4. Protest- und Kulturmeile ergab sich für den Schattenblick die Gelegenheit, mit Karsten Hinrichsen ein längeres Gespräch zu führen:


Schattenblick (SB): Karsten, du hast gegen die Betriebsgenehmigung des Akw Brokdorf geklagt. Womit begründest du deine Klage?

Dr. Karsten Hinrichsen (KH): Ich begründe das sowohl mit der Gefährlichkeit des Akws im Normalbetrieb als auch durch jederzeit mögliche Unfälle. Hinsichtlich des Normalbetriebs habe ich insbesondere meine Ernährungsweise angeführt, die damals aus viel Milch bestand. Ich war Besitzer einer Viertel Kuh und habe nachzuweisen versucht, daß die Milch der Kühe oberhalb der Grenzwerte für radioaktive Stoffe wie zum Beispiel Jod belastet ist, da die Kühe auf Wiesen grasen, auf die das Jod aus dem Schornstein des Akw fällt.

Ich habe meine Klage nicht durchgebracht, der Prozeß hat aber einige interessante Aspekte deutlich gemacht. So haben die Anwälte der Gegenseite gesagt: "Der platzt doch!" Damit wollten sie zum Ausdruck bringen, daß ich mehr Milch trinke als den Empfehlungen der deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht. Zu Milch und allen anderen Nahrungsmitteln sind nämlich Normwerte formuliert worden. Wenn man ein bestimmtes Nahrungsmittel in einer Menge zu sich nimmt, die innerhalb der Norm bleibt, und die Nahrung auch nicht ausschließlich regional produziert wurde, ist man geschützt. Aber die Nahrung, die regional produziert wird und beispielsweise aus der Nähe einer Industrieanlage oder eines Atomkraftwerks stammt, ist höher belastet und gefährlicher und sollte deshalb nicht in größeren Mengen verzehrt werden. Diese Auffassung kann man aus dem Urteil herleiten.

SB: Wäre die Vorstellung übertrieben, daß die Milch, die hier in der Nähe des Akw Brokdorf produziert wird, gezielt mit der Milch aus anderen Regionen vermischt wird, um dadurch die radioaktive Belastung unter den Grenzwerten zu halten?

KH: Zumindest wird das so praktiziert. Früher besaß fast jedes Dorf in der Wilstermarsch eine eigene Meierei. Die Meiereien sind alle eingegangen. Wir vermuten, daß einer der Gründe für die Bildung größerer Molkereien darin bestand, die Milch aus verschiedenen Regionen miteinander vermischen zu können. Das ist ja heute gang und gäbe. Ein Landwirt hier aus der Region berichtete mir einmal, daß die zwischen Brunsbüttel und Brokdorf mit dem Milchwagen eingesammelte Milch am höchsten von ganz Schleswig-Holstein mit Schadstoffen belastetet ist. Womit nicht unbedingt radioaktive Stoffe gemeint sind. Wir haben in Brunsbüttel ein großes Gebiet mit Industrieanlagen, aus deren Schornsteinen eben auch chemische Schadstoffe emittiert werden.

SB: In der Bevölkerung scheint die Ansicht verbreitet zu sein, daß man ja doch nichts gegen große Unternehmen wie die Betreiber von Akws ausrichten kann. Wie sind deine Erfahrungen aus der Anti-Atom-Bewegung: Kann ein einzelner mit Klagen etwas ausrichten?

KH: Ich glaube nicht. Auch unsere Gerichtsbarkeit ist Teil der Gesellschaft und Demokratie, und wenn dann einer, der nicht von Teilen der Bevölkerung unterstützt wird, etwas ausrichten will, werden sich die Richter nicht die Finger schmutzig machen wollen und sicherlich gute Gründe finden, um so eine Klage abzubügeln. Es sei denn, es handelt sich um einen Richter, wie wir ihn einmal am damaligen Oberverwaltungsgericht von Schleswig-Holstein in Lüneburg hatten. Der Richter war an dem Thema Plutonium und der Endlagerproblematik interessiert, wurde aber versetzt, nachdem die Anwälte der Akw-Betreiber eingewendet hatten, er sei parteiisch, was vom Gericht stattgegeben wurde.

Ich glaube, daß Prozesse zu führen nicht die Hauptaktivität der Anti-Akw-Bewegung sein sollte, und bin der Meinung, daß das ganze Klavier der Möglichkeiten gespielt werden muß, von Einzelaktionen bis zu Aktionen mit vielen wie beispielsweise Demonstrationen. Ein Aspekt ist eben auch die Hoffnung, über ein Gericht seine Wünsche umsetzen zu können.


Porträt von Dr. Karsten Hinrichsen - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Es gibt für das Freimessen nur einen Begünstigten, das ist der Akw-Betreiber." (Karsten Hinrichsen)
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Das Akw Brunsbüttel soll demnächst zurückgebaut werden, das Akw Brokdorf ist in fünf, sechs Jahren an der Reihe. Worin siehst du die größten Gefahren beim Rückbau?

KH: Ich mache das an dem Genehmigungsantrag und an der, wie zu befürchten ist, Genehmigung für den Rückbau fest. Im Reaktordruckbehälter des Akw Brunsbüttel liegen gut 500 Brennelemente. Die sollen in ein Zwischenlager. Vattenfall als Betreiber hat ein neues Zwischenlager beantragt, weil dem alten Lager die Betriebsgenehmigung entzogen wurde. Die Brennelemente sollen vor Ort in Castorbehältern zwischengelagert werden, bis es dann irgendwann einmal ein Endlager für hochradioaktive Stoffe gibt.

Weiter gibt es Materialien, insbesondere diejenigen, die in der Nähe des Reaktordruckbehälters der Neutronenstrahlung ausgesetzt waren, die mehr oder weniger hoch radioaktiv belastet sind. Die sollen in ein eigenes Zwischenlager nur für diese Stoffe. Die Betreiber, Behörden, Politiker und vielleicht auch wir hoffen, daß es demnächst ein Endlager dafür gibt, das soll der Schacht Konrad sein. Allerdings ist mittlerweile klar, daß das viel zu klein ist, insbesondere wenn die Fässer aus der Asse geborgen werden und auch noch dort eingelagert werden sollen.

Darüber hinaus gibt es vergleichsweise gering belastete Materialien: Beton, Stahl, Kabel, Setzsteine, Öle, Isolationsmaterialien und so weiter. Für diese Materialien liegen seit 2001 Freigabegrenzwerte vor, das heißt, wenn die Aktivität unterhalb dieser Werte bleibt, können die Materialien freigemessen werden. Dann dürfen sie auf Deponien, in Müllverbrennungsanlagen oder in Stahlschmelzen als konventionelle Schadstoffe "entsorgt" werden.

Manche Materialien, für die nochmals geringere Grenzwerte gelten, dürfen sogar uneingeschränkt freigemessen werden. Betriebe, Entsorgungsunternehmen, aber auch Privatpersonen können dann zum Akw fahren und anfragen, ob sie beispielsweise Beton oder Mutterboden haben oder ob sie das Gras abernten dürfen. Das wird dann freigegeben, ohne daß darüber eine Dokumentation angelegt wird, so daß hinterher niemand mehr weiß, wer was genommen hat und wo es wieder eingesetzt wurde. Das sehe ich alles in allem als das größte Problem an. Es werden radioaktive Stoffe in die Umgebung entlassen und beaufschlagen dort Menschen, Tiere, Umwelt und Nahrungsmittelprodukte gering, aber immerhin nachweisbar radioaktiv.

Die Behörde und die Betreiber verweisen auf die geltende Verordnung und darauf, daß die Strahlenbelastung durch die freigemessenen Stoffe unterhalb von einem Prozent derjenigen, die durch die natürliche Radioaktivität verursacht wird, liegen muß. In Deutschland sind durch die natürliche Radioaktivität etwa 15.000 Tote als Folge von Krebs und anderen Krankheiten zu beklagen. Ein Prozent davon wären immer noch 150, wenn die Radioaktivität aus dem freigemessenen Material über Deutschland gleichverteilt würde. Davon ist selbstverständlich nicht auszugehen, was bedeutet, daß sich die Zahl der betroffenen Personen nochmals deutlich verringert.

Dennoch ist das problematisch, da bei der Festlegung dieser Grenzwerte nicht berücksichtigt wird, daß selbst offizielle Stellen die Gefährlichkeit von radioaktiver Strahlung heute ungefähr um einen Faktor zehn höher einschätzen als damals, als die Strahlenschutzverordnung in Kraft getreten ist. Zudem heißt es darin: Die Strahlenbelastung sollte so gering wie irgend möglich sein. Das gilt auch weiterhin für alle möglichen Tätigkeiten mit radioaktiven Stoffen, aber bei den freigemessenen ist das Minimierungsgebot außer Kraft gesetzt.

Ich halte das für völlig überflüssig, weil die Materialien auf dem Gelände liegen, die meisten davon sogar im Reaktorgebäude und im Maschinenhaus - warum will man sie da rausnehmen und in der Umgebung verteilen? Würde es einen Super-GAU oder einen anderen Störfall geben, dann müßten die Leute fliehen und Vater Staat würde versuchen, möglichst viel von diesen freigesetzten Stoffen wieder einsammeln, damit eines Tages Menschen in den kontaminierten Gebieten leben könnten. Und wir sind so bekloppt und setzen Radionuklide mutwillig frei!

Beim Freimessen gibt es nur einen Begünstigten, das ist der Akw-Betreiber. Das Material müßte ja in Fässern oder Containern gelagert werden, was das Endlagervolumen erhöhen würde. Er braucht also weniger Container und weniger Endlagervolumen - das ist eine reine Subvention für die Betreiber. Diese freigemessenen Materialien gelten dann nach dem Gesetz als ganz normaler Abfall und werden nach dem Kreislaufwirtschaftsgesetz behandelt. Auch wenn die zusätzliche Strahlenbelastung noch so gering wird, es widerspricht den Prinzipien der Strahlenminimierung.

SB: Zumal sich Strahlung addiert. Wenn man von "ein Prozent der natürlichen Strahlung" spricht, dann wäre das die natürliche Strahlung als 100 Prozent plus zusätzlich ein Prozent oben drauf.

KH: Genau, die natürliche Strahlung fällt ja nicht weg. Meiner Ansicht nach kann man sowieso nicht mehr vertreten, daß das freigemessene Material nur zu einer Strahlenbelastung in Höhe von einem Prozent der natürlichen Strahlung führt. Wenn man neuere Risikobewertungen heranzieht, dann käme man womöglich auf ein zehnmal so hohes Risiko, und wer weiß, wie die Risikoeinschätzung in zwanzig Jahren aussieht. Dann aber sind die Materialien bereits verteilt worden.

Diese Freimessung ärgert mich besonders. Daß man die Brennstäbe herausholt und die Materialien, die hoch kontaminiert sind, dann in ein Zwischenlager bringt, um sie von dort aus in ein Endlager zu befördern, finde ich unklug und unnötig kostenintensiv. Warum läßt man das Material nicht vor Ort? Man würde zwar die Gebäude entkernen, weil jetzt noch die Fachkenntnis vorhanden ist und man weiß, wo man vorsichtig sein muß und wie man da herankommt. Aber dann würde man sie dort 30 Jahre lang liegen lassen. Die kurzlebigen Nuklide wären dann ein Stück weit zerstrahlt, so daß auch die Mannschaft, die das entsorgen muß, weniger belastet würde.

Der Betreiber darf auch Material, das nicht so sehr hoch kontaminiert ist, dekontaminieren, indem er mit Schrubben, Sägen, Fräsen oder dem Einsatz von Chemikalien insbesondere die Nuklide von der Oberfläche dieser Materialien freiputzt. Damit bin ich einverstanden, weil die Alternative, die Anlagenteile ohne Dekontamination zu zersägen, auf eine stärkere Belastung hinausliefe.

SB: Bei Räumarbeiten im japanischen Akw Fukushima Daiichi wurden mitunter radioaktive Staubwolken freigesetzt, die kilometerweit vom Wind davongetragen wurden. Wie schätzt du die Staub- und Gasentwicklung beim Rückbau deutscher Akws ein?

KH: Beim Rückbau werden radioaktive Aerosole mobilisiert, die unter anderem über einen Schornstein abgegeben werden. Die verfügen zwar über Filter, aber die können nicht alles zurückhalten. Das Problem ist folgendes: Die Betreiber haben für den Rückbau die gleichen Emissionswerte beantragt wie ursprünglich für die Erlangung der Betriebsgenehmigung. Die Werte wurden damals durch ein Aktivitätsflußschema begründet. So eine Rechnung ist fragwürdig, aber für den Rückbau hat man nicht einmal eine eigene Rechnung aufgestellt, sondern man hat einfach die alten, viel zu hohen Werte aus den Betriebsgenehmigungen übernommen.

Es gibt ein weiteres Problem: Die Emissionen, die laut den Betriebsgenehmigungen erlaubt sind, verteilen sich über das Jahr und werden vom Wind mal hierhin, mal dahin getragen. Die Emissionsfahnen verschmieren sich sozusagen über die ganze Umgebung und verstrahlen dann die Einzelperson natürlich längst nicht so stark, als wenn die ganze genehmigte Jahresemission auf einmal auf einer Wiese oder in einem Vorgarten landet, wie es beim Rückbau geschehen könnte. Das ist einer der Gründe, weshalb ich sage, daß der Rückbau für die Bevölkerung zu einer höheren Strahlenbelastung führen wird als der - Gott sei Dank - einigermaßen glimpflich verlaufene Betrieb hier in Deutschland.

SB: Kann es bei den freigemessenen und in Umlauf gebrachten Materialien zu Aufkonzentrationen von Radionukliden kommen, beispielsweise über eine Kette wie Mutterboden - Gras - Kühe - Milch?

KH: Ja, man versucht, das zu begrenzen. Bei den uneingeschränkt freigemessenen Stoffen kann man das letztlich nicht verhindern. Es soll darauf geachtet werden, daß nicht nur die Freigabewerte unterschritten werden, sondern auch der Freisetzungspfad eingehalten wird. Das heißt beispielsweise, daß Müllfahrer, die 20 Tonnen pro Fuhre vom Akw zur Mülldeponie fahren, das nur zehn Stunden im Jahr machen dürfen, falls pro Jahr nur 100 Tonnen freigemessen werden. Das heißt, ein Fahrer darf pro Jahr nur fünf Fuhren machen, und jede Fuhre darf nicht länger als zwei Stunden dauern. Die Einhaltung dieser zeitlichen Begrenzung haben die Beamten der Atomaufsichtsbehörde auf einer Veranstaltung im Bildungszentrum für Natur, Umwelt und ländliche Räume in Flintbek so erklärt: "Wir wissen ja, daß die Deponien ganz in der Nähe sind." Daraufhin meinten ein paar schlaue Leute auf unserer Seite: "Und was ist, wenn die Fahrer auf der Autobahn in einen Stau geraten?" Darauf die Beamten: "Dann lassen wir ein zweites Fahrzeug hinterherfahren, in dem noch ein weiterer Fahrer sitzt." (lacht) So etwas Realitätsfremdes kann man sich überhaupt nicht vorstellen! Von solchen Beispielen gibt es zahlreiche.


Luftbildaufnahme mit Akw Brokdorf und östlicher Umgebung - Foto: Ra Boe/Wikipedia, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 (de) [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode], Link des Originalfotos: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Luftaufnahmen_Nordseekueste_2012-05-by-RaBoe-434.jpg

Die Ortschaft Wewelsfleth an der Stör (am oberen Bildrand) liegt in Hauptwindrichtung des Akw Brokdorf
Foto: Ra Boe/Wikipedia, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 (de) [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode], Link des Originalfotos:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Luftaufnahmen_Nordseekueste_2012-05-by-RaBoe-434.jpg

SB: In der Nähe und in Hauptwindrichtung des Akw Brokdorf liegt die Gemeinde Wewelsfleth. Laut dem schleswig-holsteinischen Krebsregister hat es hier eine deutlich erhöhte Krebsrate gegeben, was auch schon einmal untersucht wurde. Sind dazu Folgeuntersuchungen geplant, nachdem die Ursache der höheren Rate an bestimmten Krebsarten nicht festgestellt werden konnte?

KH: Nein, die Landesregierung war sowieso von Anfang an der Meinung, daß man überhaupt nichts untersuchen muß, weil es keinen Störfall im Akw gab und es deshalb gar nicht sein kann, daß der Krebs vom Akw Brokdorf ausgelöst wurde. Der Betreiber hat ins selbe Horn gestoßen, und in den ersten Verlautbarungen hatte es in etwa geheißen: Die Leute in Wewelsfleth rauchen und saufen zuviel.

Nach sieben Jahren - sieben Jahren hintereinander! - hatte sich die Anzahl der Krebsneuerkrankungen wieder dahingehend normalisiert, daß sie im Landesdurchschnitt zu liegen kam. Hinsichtlich der Erhöhung der Krebsrate war noch von den Behörden argumentiert worden, daß die Zeit viel zu kurz sei, daraus könne man nichts schließen. Aber kaum war die Krebsrate wieder runter, sagten die gleichen Leute: Seht ihr, ist doch alles in Ordnung!

SB: Sollte es nicht eigentlich die Funktion eines Krebsregisters sein, im ersten Schritt festzustellen, in welchen Gebieten höhere Krebsraten verzeichnet werden, aber im zweiten Schritt dann herauszufinden, woran es liegt und wie man es abstellen kann?

KH: Ja, so steht es in der Aufgabenbeschreibung des Krebsregisters. Wenn es signifikante Unterschiede gibt, müssen weitere Untersuchungen folgen. Allerdings hatte das Bundesamt für Strahlenschutz detaillierte Forschungen abgelehnt, weil die Fallzahlen für die einzelnen Krebsarten zu gering seien.

SB: Hintergrund der Frage ist auch die KiKK-Studie [2], die ja vor kurzem zu einem gewissen schriftlichen Disput zwischen dir und dem Leiter des Akw Brokdorf geführt hat. Vor rund zehn Jahren war in einer epidemiologischen Untersuchung des Deutschen Kinderkrebsregisters festgestellt worden, daß im Umkreis von fünf Kilometern um deutsche Kernkraftwerke eine deutlich erhöhte Leukämie-Rate unter Kindern bis zum Alter von fünf Jahren zu beobachten ist. Die Ursache konnte nicht ermittelt werden. Aber es wird anscheinend auch nicht weiter an der Frage geforscht. [3]

KH: Wie so eine Nachfolgestudie aussehen sollte, weiß ich zwar nicht. Aber man müßte es begrüßen, wenn dazu eine neue Studie mit gleichem Aufwand durchgeführt würde, um die statistische Sicherheit noch zu erhöhen.

SB: Zumal in der Europäischen Union eigentlich das Vorsorgeprinzip gilt: Wenn der Verdacht aufkommt, daß eine Substanz der Bevölkerung schadet, muß man Abstand davon nehmen, die Substanz in Umlauf zu bringen. Bei Akws besteht der Verdacht, sie seien krebserregend, deswegen wurde die KiKK-Studie durchgeführt, auch wenn sie im Ergebnis den Verdacht nicht bestätigen konnte. Aber die Auffälligkeit gibt es immer noch.

KH: So eine Forderung würde ich unterstützen. Eine Beweisführung über epidemiologische Studien ist mit hundertprozentiger Sicherheit nicht möglich. Aber wenn bei den 17 Atomkraftwerken in Deutschland dieser Effekt aufgetaucht ist, halte ich die Wahrscheinlichkeit für vergleichsweise gering, daß es ein anderes Agens gibt, einen schädlichen Stoff, der merkwürdigerweise an allen Atomkraftwerken auftaucht.

SB: Vor kurzem hat die Bergung von durchgerosteten Fässern mit Atommüll im Akw Brunsbüttel begonnen. Bilder zeigen, daß die Gebinde teilweise völlig zerstört sind und auseinanderfallen. Wie hat man sich so eine Bergung vorzustellen?

KH: Wo es geht, werden die Fässer mit speziellen Greifern, die das ganze Faß umschließen und auch von unterwärts stützen, bewegt. Wenn so ein Faß herausgehoben wurde, wird der Inhalt entweder direkt in ein anderes Faß gestellt oder umgefüllt oder erst noch getrocknet. Ist der Inhalt trocken genug, wird er mit einer Pulverumsauganlage in Container umgefüllt. Die Genehmigung, die die Behörde dafür erteilt hat, liegt uns nicht vor, sondern nur die Presseerklärung dazu. Und darin rühmt sich die Behörde damit, daß sie den Betreiber so weit geknebelt hat, daß die Materialien nur eine Restfeuchte von 20 Prozent enthalten dürfen. Wir haben daraufhin eine Anfrage gestellt, man möge uns erklären, ob das ausreicht. Denn da laufen Prozesse ab, bei denen möglicherweise die Restfeuchte austritt und der gleiche Prozeß wieder von vorne losgeht, wie er bereits seit 30, 40 Jahren in den Kavernen des Akw Brunsbüttel stattfindet. Wir wissen zu wenig, wie die Bergung durchgeführt wird, und sind darüber nicht sehr glücklich.

SB: Vielen Dank, Karsten, für das Gespräch.


Das Akw, von Zaun, Stacheldraht und breitem Graben umgeben - Foto: © 2016 by Schattenblick

Akw Brokdorf - Repräsentant einer Technologie, die wie eine Festung gesichert wird
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Eindrücklich geschildert wurden diese Ereignisse von Tatjana Semenchuk, einer ehemaligen Einwohnerin Prypjats, auf dem Internationalen IPPNW-Kongreß "5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl", der vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin, veranstaltet und vom Schattenblick durch eine Reihe von Berichten und Interviews, unter anderem mit jener Tschernobyl-Betroffenen, nachbereitet wurde:
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0208.html

[2] https://doris.bfs.de/jspui/bitstream/urn:nbn:de:0221-20100317939/4/BfS_2007_KiKK-Studie.pdf

[3] Der Physiker Dr. Alfred Körblein, durch dessen Berechnungen letztlich jene KiKK-Studie angeregt worden war, erklärte im dritten Teil eines Interviews mit dem Schattenblick, warum sich das Gefahrenbewußtsein für Niedrigstrahlung noch nicht allgemein in Wissenschaft und Politik durchgesetzt hat.
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0212.html

Bisher zur 4. Protest- und Kulturmeile im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT erschienen:

BERICHT/114: Brokdorf, Memorial und Mahnung - ein dünner Faden ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0114.html

INTERVIEW/217: Brokdorf, Memorial und Mahnung - wer A sagt ...    Dirk Seifert im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0217.html

12. Mai 2016


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