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INTERVIEW/275: Landwirtschaft 4.0 - Tierhaltungs- und Gebrauchsalternativen ...    Dr. Martina Stephany im Gespräch (SB)



Mit "Willkommen im Jahr 2025 - Perspektiven der Nahrungsmittelproduktion" hatten die Veranstalter des 5. Zukunftsdialog Agrar und Ernährung, DIE ZEIT und "agrarzeitung" einen Titel gewählt, bei dem alles offen blieb. Ein Punkt schien jedoch von Beginn an unbestritten und wurde von Andreas Sentker (DIE ZEIT) ins Vorwort des Programms geschrieben: "Essen ist nicht nur Alltag. Essen ist Psychologie. Essen wird zur Ideologie. Vor allem aber: Es bleibt überlebensnotwendig."

Nun hat sich die Anzahl der Menschen auf diesem Planeten in den vergangenen 50 Jahren verdoppelt - die Fleischproduktion verdreifacht. Laut einer Analyse der Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) werden schon heute 70 Prozent der Anbauflächen der Welt gebraucht, um jedes Jahr 50 Milliarden Tiere auf den Tisch zu bringen. Wenn die Weltbevölkerung weiter so wächst wie bisher, wird es bis zum Jahr 2030, in dem bereits 70 Prozent mehr Lebensmittel auf der Welt erzeugt werden müßten, schon nicht mehr genug Land geben, um Fleischmengen im gleichen Verhältnis auf die Teller zu bringen. Darüber hinaus hat der Trend laut FAO fatale Auswirkungen: Er fördert Hunger und Armut, erschwert Klima- und Artenschutz. Qualitativ hochwertiges Fleisch können sich ohnehin nur Wohlhabende leisten. Die Gemüseangebote folgen diesem Trend: mehr Qualität zu höheren Preisen. Was aber ißt 2025 der unprivilegierte Rest?

In der 5. Gesprächsrunde des 5. Zukunftsdialogs Agrar und Ernährung kam die jüngere Generation zu Wort, auf der man dieses Vermächtnis des hemmungslos konventionellen Wirtschaftens gewissermaßen abgeladen hat. Der Moderator und stellvertretende Chefredakteur der Lebensmittel Zeitung, Bernd Biel, hatte zwei junge Unternehmer, Verena Balsen und Johann-Michel Claßen [1] sowie die Tierschutzaktivistin Dr. Martina Stephany auf das Podium geholt, um zu dem vermeintlichen Paradoxon: "Die Zukunft auf dem Teller - Visionen zwischen Genuß und Gewissen" Stellung zu nehmen. Schon bald wurde klar, daß die Delikatessen, die sich Jungunternehmer auf den Tisch von Morgen wünschen, auch nicht alle sättigen werden. Nachhaltigkeit ist "sexy", erklärte Verena Balsen frei heraus, und sie verkauft sich gut. Das macht Jungunternehmer nicht ad hoc zu Klima- oder Umweltaktivisten, denn den Genuß innovativer Lebensmittel, verbunden mit der Aussicht, damit noch etwas Gutes für die Menschheit zu tun, weil irgendetwas an diesen Produkten wassersparender, umwelt- oder klimafreundlicher als in konventionellen Erzeugnissen ist, muß der Kunde teuer bezahlen. Im Hinblick auf die bevorstehenden unausweichlichen Veränderungen sind diese Beiträge zum Klimaschutz jedoch bestenfalls marginal. Die immer noch berechtigten Fragen, wovon denn alle anderen Menschen 2025 oder 2050 satt werden sollen, ob es überhaupt zu schaffen ist, trotz alledem ausreichend Nahrung zu produzieren, und wer letztlich im Kampf gegen den Hunger auf der Strecke bleibt, wurden von der Begeisterung über pseudowohltätige Geschäftsideen und Facebook- oder Instagram-gestütztes Marketing von Gesundem, Leckerem und Weltrettendem ein bißchen an den Rand gedrängt.


Abgemagerte Hochleistungskuh in Tansania - Foto: 2017 by Welttierschutzgesellschaft e.V. als CC-BY-ND 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/]

Hochgezüchtete Nutztiere verhungern in kargen Regionen als erstes.
Foto: 2017 by Welttierschutzgesellschaft e.V. als CC-BY-ND 3.0
[https://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/]

Die Perspektive der Tierschutzaktivistin und Nicht-Unternehmerin Dr. Martina Stephany (VIER PFOTEN [2]), die Menschheit könnte ihr Fleisch, wenn sie schon nicht darauf verzichten mag, doch im Labor "selbermachen", hat im Vergleich zu den anderen Vorschlägen tatsächlich Potential über den eigenen Tellerrand hinaus, auch wenn die Vorstellung für viele gewöhnungsbedürftig sein mag. Laut Mark Post, der als erster eine "Clean Meat-Frikadelle" auf den Tisch brachte, könnte das aus Schweine-, Rinder- oder Geflügel-Stammzellen gezüchtete Muskelzellgewebe das Welternährungsproblem zu lösen: Dank entsprechender Labortechnik und Nährlösungen ließen sich mit nur einer einzigen Rinderherde der Fleischhunger der gesamten Welt stillen, ohne daß ein Tier sterben müsse.

Zwar würde die Entwicklung zur Massenware einige Millionen Dollar erfordern, doch eine Studie der Universität Oxford zeigte bereits 2013, daß die Massenproduktion von In-Vitro-Fleisch den Verbrauch von Wasser, Land und Energie maßgeblich senken könnte. Auch Emissionen von Methan, Ammoniak und anderen Treibhausgasen fielen im Vergleich zur herkömmlichen Viehzucht weit geringer aus. Zudem könnten im Laborfleisch die gesundheitsgefährdenden Anteile von Fett und Cholesterin künstlich gesenkt werden.

Allerdings läßt sich das derzeit extrem teure Kunsterzeugnis nur dann als billige Massenware anbieten, wenn es sich auch verkaufen läßt. Doch Fleisch aus dem Bioreaktor [3] ist für die meisten Konsumenten ebenso inakzeptabel wie Insekten als Eiweißquelle zu nutzen, gentechnisch verändertes Gemüse oder auch nur Analogkäse. Auch scheinen Zweifel an der Verträglichkeit angebracht. Nicht nur das Nährsubstrat, tierisches Blutserum, löst Ekel und Unbehagen aus. Wer kann schon genau sagen, welche Mittel oder Reagenzien dem quasi totem Zellgewebe den Impuls eingeben, weiterzuleben und sich zu vermehren, ob diese Stoffe anschließend im Kunstfleisch verbleiben, und was sie nach Verzehr mit den lebenden Zellen im menschlichen Körper anrichten...


Gänse 2012 in Stopfmast - Foto: by L214 - Ethique & animaux [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

Langes Warten auf den Folterknecht.
Foto: 2012 by L214 - Ethique & animaux [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons


Porträt von Kühen in Anbindehaltung, die auf einem Gitter im Betonboden liegen, ohne sichtbare Bewegungsmöglichkeit - Foto: © 2017 by Gisela Krohn via WTG (freigegeben zur Nutzung in Medien)

Die Not von Nutztieren wird in der Öffentlichkeit immer noch kaum wahrgenommen.
Foto: © 2017 by Gisela Krohn via WTG (freigegeben zur Nutzung in Medien)

Dr. Martina Stephany studierte in Münster Soziologie und schrieb ihre Doktorarbeit über die Beziehung von Mensch und Tier. 2009 gab sie den interdisziplinären Sammelband "Die Frage nach dem Tier" heraus. Nach einem Volontariat bei den Ruhr Nachrichten startete sie 2011 zunächst als Programmleiterin bei der Tierschutzorganisation VIER PFOTEN Deutschland. Seit 2015 ist sie Abteilungsleiterin für Nutztiere und Ernährung bei VIER PFOTEN International und koordiniert mit ihrem Team von Hamburg und Wien aus Kampagnen und Unternehmenskooperationen in sieben Ländern. Nach der Veranstaltung in Berlin war sie bereit, dem Schattenblick ihre Vorstellungen über verbesserte Beziehungen zwischen Mensch und Tier und die Aufgaben, die ihre Organisation wahrnimmt, zu erläutern.


Die Tierschutzaktivistin auf dem Podium des 5. Zukunftsdialogs - Foto: © 2017 by Schattenblick

'Lebenshof statt Nutztierfabrik!' (Dr. Martina Stephany)
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Die Zahl der Nutztierhalter geht jährlich drastisch zurück. Tausende von Milchbetrieben, Schweinezüchtern und Geflügelbetrieben schließen. Ist das eine gute Nachricht für VIER PFOTEN?

Martina Stephany (MS): Das ist selbstverständlich ein Zeichen dafür, daß immer mehr Großkonzerne die Nutztierhaltung übernehmen, es gibt ja nicht weniger Nutztiere, sondern mehr. Ich würde sagen, eine gute Tierhaltung ist nicht davon abhängig, wie viele Tiere in dem Betrieb gehalten werden. Ich sehe aber auch, daß es im Moment vor allem die konventionellen Großbetriebe sind, die zum Beispiel Schweinehochhäuser errichten und das ist natürlich überhaupt nicht im Tierschutzsinne.

SB: Hat der Rückgang der kleinen Betriebe und der Mangel an Nachwuchs möglicherweise schon damit zu tun, daß immer mehr junge Menschen die Praktiken in Mast- und Zuchtbetrieben ablehnen oder sogar vegan leben?

MS: Das wäre schön, aber ich glaube das nicht. Der Beruf Landwirt ist für junge Leute nicht so wahnsinnig attraktiv. Viele wollen in Ballungszentren wohnen und etwas "Cooles" im Bereich "Social Media" oder "Marketing" machen. Meiner Ansicht nach haben alle handwerklichen Berufe Nachwuchs-Probleme. Darüber hinaus kämpfen viele kleinere Landwirte wirtschaftlich ums Überleben, so daß oft die Kinder aus landwirtschaftlichen Betrieben, die traditionell den Familienbetrieb übernehmen sollen, keine Zukunft darin sehen.

SB: VIER PFOTEN setzt sich für Tiere in Not ein. Meist hört man von Wildtieren, die von Ihrer Organisation gerettet werden. Seit wann setzt sich Ihre Organisation auch für Nutztiere ein?

MS: Ziemlich von Anfang an. VIER PFOTEN wurde vor 30 Jahren in Wien gegründet, und zwar von Aktivisten, die gegen die Pelztierfarmen in Österreich protestiert haben. Das war sehr erfolgreich, so daß tatsächlich alle Pelztierfarmen in Österreich geschlossen wurden. Diese Gruppe hat sich irgendwann den Namen "VIER PFOTEN" als Arbeitstitel gegeben und dabei ist es dann geblieben. Mittlerweile gibt es VIER PFOTEN in über 10 Ländern. Gearbeitet wird zum einen an vielen unterschiedlichen Rettungsprojekten, zum Beispiel unsere Bärenwälder oder in Südafrika das Projekt "Lionsrock", wo Löwen leben dürfen, die eigentlich zum Abschuß freigegeben waren. Es gibt auch eine Affenschule in Borneo, in der verwaiste Affenkinder lernen, wie sie in der Natur alleine leben können, um später ausgewildert werden zu können. Wildtierprojekte sind ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit, aber wir arbeiten auch im Bereich Heimtiere, zum Beispiel machen wir Streunerhunde-Kastration in Osteuropa und es läuft eine Kampagne gegen Welpenhandel auf Ebay-Kleinanzeigen. Ich leite seit 2015 die Abteilung Nutztiere bei VIER PFOTEN, aber Nutztiere waren immer schon ein Thema für uns. Käfigeier haben uns lange beschäftigt und VIER PFOTEN hat immer wieder Recherchen zu Stopfmast veröffentlicht. Nutztierhaltung ist für VIER PFOTEN insofern kein neues Thema, nur werden in den Medien unsere Rettungen meist stärker in den Vordergrund gestellt, somit sind wir in der Öffentlichkeit damit präsenter als mit unserem Einsatz für Nutztiere.


Zwangsfütterung in einem französischen Gänsemastbetrieb. Der Mäster geht von Tier zu Tier, um sie an die Stopfmaschine anzuschließen. - Fotos: 2012 by L214 - Éthique & animaux [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons Zwangsfütterung in einem französischen Gänsemastbetrieb. Der Mäster geht von Tier zu Tier, um sie an die Stopfmaschine anzuschließen. - Fotos: 2012 by L214 - Éthique & animaux [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

Stopfarbeit - ohne Mensch nicht möglich!
Kein Tier würde freiwillig so viel fressen, daß seine Leber verfettet.
Fotos: 2012 by L214 - Éthique & animaux [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

SB: Werden Sie auch von engagierten Menschen außerhalb Ihrer Organisation auf Mißstände aufmerksam gemacht, um die sich VIER PFOTEN dann kümmert?

MS: Jein! Es melden sich zwar immer mal wieder Leute, die uns darauf aufmerksam machen, daß sie etwas in ihrem eigenen Umfeld beobachtet haben. Aber wir leisten dann vor allem Hilfe zur Selbsthilfe. Das heißt, wir beraten sie, wie sie am besten mit dem Problem umgehen und was sie als Nächstes machen sollten: Fotos aufnehmen, Dokumentieren, die Dokumente an die Veterinärämter schicken, den Vorfall bei der Polizei anzeigen. In der Regel ist es so, daß wir es ressourcentechnisch mit den Mitarbeitern, die wir haben, nicht schaffen, einzelne Sachverhalte nach und nach abzuarbeiten. In ganz besonders schlimmen Fällen verweisen wir auch gerne auf andere Organisationen, die ihren Standort in einer größeren Nähe zum Ort des Geschehens haben. Wir kümmern uns vor allem um die generellen Probleme der Nutztierhaltung, weniger um Einzelfälle.

SB: Der Welt stehen massive Umbrüche bevor. Der Klimawandel und seine Folgen mit Hungersnöten, Dürren, Überschwemmungen oder neuen Infektionskrankheiten in den Ländern des armen Südens wird in Zukunft große Not auch für viele Tiere mit sich bringen. Hat Ihre Organisation bereits mit solchen Opfern zu tun?

MS: Ja, sogar ganz konkret. Wir haben eine sogenannte "Disaster Relief Unit". Das ist ein Team, das ausschließlich Tiere in Katastrophengebieten betreut, die durch Überschwemmungen, Waldbrände oder andere Desaster bedroht waren. Und da geht es zum einen darum, die Heimtiere der Leute mit Tierfutter zu versorgen oder zu schauen, ob der vermißte Hund noch im Haus ist, aber zum anderen auch darum, kleine Bauern zu unterstützen und ihnen zu helfen, daß eben nicht ihr gesamter Viehbestand, um einmal bei diesen eigentlich sehr unschönen Begriff zu bleiben, dahingerafft wird. Denn gerade in Ländern, die jetzt schon viel von diesen Umweltkatastrophen heimgesucht werden, gibt es noch kleine bäuerliche Strukturen, die erstmal so erhalten bleiben sollten. Wir arbeiten aber darüber hinaus mit den Regierungen zusammen und versuchen durchzusetzen, daß auch der Nutztierschutz Teil des Katastrophenplans wird. Es muß konkrete Vorgaben für den Feuerschutz geben. Man braucht Einfälle dazu, was genau bei einem Hochwasser passieren wird und was man dann für seine Tiere tun kann. Das alles sollte vorher schon von den Regierungen als präventive Maßnahmen festgelegt worden sein, damit es im Falle eines Desasters nicht allein die Aufgabe von Tierschützern bleibt, zu kommen und alle zu retten.


Ziegenherde in Tansania - Foto: 2017 by Welttierschutzgesellschaft e.V. als CC-BY-ND 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/]

Hitze, Dürre, graslose Weiden - die Zukunft vieler Nutztiere bei global ansteigenden Temperaturen.
Foto: 2017 by Welttierschutzgesellschaft e.V. als CC-BY-ND 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/]

SB: Heute wurde hier viel über Tierhaltung gesprochen. Gehört auch zu den präventiven Maßnahmen, die Sie erwähnen, daß insgesamt in der EU die Tierhaltungsstandards hinsichtlich des Klimawandels stärker angepaßt oder nachgebessert werden müßten? Ich denke da an mehr Unterstände oder Sonnenschutz auf den Weiden oder Fluchtmöglichkeiten, wenn die Gelände plötzlich unter Wasser stehen.

MS: Auf jeden Fall! Allerdings haben wir augenblicklich eine Situation, in der die meisten Nutztiere in ihrem ganzen Leben gar nicht nach draußen kommen und keine Sonne sehen. Einen nennenswerten Anteil an Weidehaltung haben wir dagegen in Rumänien. Dort setzen wir uns vor Ort schon lange dafür ein, daß die Tiere mehr Schatten und mehr Rückzugsmöglichkeiten auf den Weiden brauchen. In Deutschland ist das bisher kein Thema. Wir befürworten Freilandhaltung nur unter den Bedingungen, daß die Tiere neben der Möglichkeit, Auslauf zu nutzen, auch einen strukturierten Stall bekommen, in den sie sich zurückziehen können - verbunden mit dem Enrichment, daß das Tier braucht, also Beschäftigungsmaterial und zum Beispiel für Hühner erhöhte Ebenen.

SB: Sie erwähnten auf dem Podium, daß Sie selbst vegan leben. Ist das die logische Konsequenz aus Ihrer Arbeit, beziehungsweise ist es auch ein Ziel Ihrer Organisation, daß alle Menschen ihren Fleischkonsum einschränken oder gar kein Fleisch mehr essen?

MS: Unser erstes Ziel ist die starke Verbesserung der Tierhaltung und da spreche ich nicht nur von etwas mehr Platz oder mal einem Stückchen Holz, mit dem die Schweine spielen können, sondern wir setzten uns dafür ein, daß beispielsweise keine schmerzhaften Eingriffe, keine Qualzuchtrassen mehr zugelassen werden, dafür aber mehr Freilauf stattfindet. Darüber hinaus ist unser erklärtes Ziel: Bis 2050 muß die Welt 50 Prozent weniger Tiere produzieren. Es ist nicht nachhaltig, Getreide in Tiere zu stecken, die wir dann essen, weil wir auf diese Weise viel weniger Kalorien bekommen. Berechnungen zur Folge sind es etwa ein Drittel des Getreides, das dabei zu Gülle wird. Das ist eine Situation, die in den nächsten Jahren noch weniger als jetzt haltbar sein wird. Deswegen vertreten wir auch das "3R-Prinzip", das heißt "reduce", "refine", "replace". Damit kann jeder seinen Fleischkonsum reduzieren. Wir finden es super, wenn mehr Leute Vegetarier oder Veganer werden. Aber vor allem ist es wichtig, daß alle Menschen weniger Fleisch und Tierprodukte essen, dadurch wäre schon sehr viel gewonnen. Wenn man schon Fleisch ißt, dann sollte man auf Tierschutz- oder Biosiegel achten. Das wäre dann "Refinement". Und schließlich im Sinne von "Replacement" immer wieder neu überlegen: Kann ich nicht auch Alternativen nutzen. Vielleicht bin ich ja gar nicht so ein Kuhmilch-Fan und mag Reismilch viel lieber. Dann kann ich schon einen Beitrag leisten, die konventionelle Milchindustrie nicht weiter zu unterstützen. "Jeder Schritt in die richtige Richtung ist ein guter Schritt", ist unsere Message.

SB: Heißt nicht "weniger" Fleisch letztlich auch "weniger" Tiere. Könnte es Tierfreunde geben, die hierin einen Widerspruch sehen und Ihr Anliegen so verstehen, daß VIER PFOTEN auf der ganzen Welt weniger Tiere haben will?

MS: Nein, absolut nicht! Wir wollen gerne mehr Tiere haben, die ein tiergerechtes Leben führen können. Im Moment ist das bei Milliarden von Tieren nicht der Fall. Unsere Vision geht auch nicht von der kompletten Abschaffung von Nutztieren aus, sondern sie setzt sich für kleinere Strukturen ein.

Nehmen Sie beispielsweise die Idee von "Clean Meat", dem Fleisch, das außerhalb eines Tierkörpers und ohne den Tod eines Tieres wächst. Meiner Vorstellung nach könnte jede Stadt oder jede Gemeinde ihren eigenen Hof haben, in dem Tiere in Frieden leben, und nur dann und wann mal gepiekst werden, um ein paar Zellen abzugeben, aus denen dann Fleisch gezüchtet wird. Das wäre eine Vision. Ich stelle immer wieder fest, daß bei vielen eine große Sehnsucht nach einem größeren Kontakt zu den Tieren besteht, die uns Menschen seit Jahrhunderten oder auch seit Jahrtausenden ganz nah waren. Heute bekommt ja fast niemand mehr mit, wo die Millionen von Schweinen, die es in Deutschland gibt, eigentlich leben. Ich glaube, daß der Trend dahin gehen wird, daß wir wieder eine größere Nähe zum Tier bekommen, aber auch, daß es einfach leben gelassen werden kann und nicht unbedingt einen Auftrag erfüllen muß. Also: Lebenshof statt Nutztierfabrik!

SB: Ist dieses aus Stammzellen gezüchtete Kunstfleisch, von dem Sie sprechen, nicht unglaublich teuer? Ich habe es das erste Mal 2015 in dem Film von Valentin Thurn gesehen, und sollte damals nicht eine einzige Frikadelle ungefähr eine halbe oder ein viertel Million Euro kosten?

MS: Das, was daran so teuer war, soll die Nährlösung gewesen sein, in der es wachsen kann. Aber wie bei allen Produkten ist es auch hier so: Je mehr ich davon produziere, desto günstiger wird der Preis. Das heißt, diese erste Frikadelle des Pioniers von Clean Meat, Mark Post, hat 300.000 Euro gekostet. Doch er ist selbst davon überzeugt, daß sie nur noch zehn Euro kosten wird, wenn er Clean Meat, wie er plant, in den nächsten zwei bis drei Jahren für bestimmte Burger-Restaurants auf den Markt bringt. Dieser Preis wäre schon erheblich geringer und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis Clean Meat theoretisch genausowenig kostet wie heutiges Billigfleisch. Darin sehe ich eine Riesenchance. Denn richtig toll fühlt sich ja heute niemand, wenn er Billigfleisch kauft. Als Ersatz für dieses Billigsegment wäre Clean Meat eine gute Idee und vielleicht auch für viele Arten von Fleisch, bei denen es geschmacklich keine große Rolle spielt, wie Bolognese Soße.

SB: In der Podiumsdiskussion über Digitalisierung auf dem Acker wurden auch Innovationen wie Robotik im Stall diskutiert. Ich habe mich gewundert, daß ganz offen darüber gesprochen wurde, wie sich Futterzusatzstoffe individuell für jedes Tier mit einem Roboter mischen lassen und man durch Stickstoffreduktion und bestimmte Zusatzstoffe eine umwelt- und klimafreundlichere und zudem wassersparende Fleischproduktion schaffen könne. Kann man auf diese Weise über Tiere und ihren Stoffwechsel verfügen, ohne daß ihr Wohlbefinden beeinträchtigt wird?

MS: Für mich ist das der falsche Hebel. Ich könnte zwar nicht sagen, daß es per se falsch ist, Maschinen im Stall einzusetzen. Doch, selbst wenn man den Vorteil der geringeren Umweltbelastungen berücksichtigt, könnte ich nicht vertreten, daß alle Rinder im Stall stehen müssen, damit ich die Möglichkeit bekomme, ihnen das Methan, das sie produzieren, in irgendeiner Weise abzupumpen. Ich will einfach die Tiere auf der Wiese sehen, ganz gleich wieviel sie pupsen und rülpsen. Bei dem Thema digitalisierte Landwirtschaft wäre für mich allerdings bei den landwirtschaftlichen Maschinen, die autonom die Felder mähen, eine wichtige Frage, ob die gegebenenfalls auch anhalten und umdrehen können, wenn sie auf eine Maus oder einen Igel treffen, und ob sie so programmiert werden können, daß die Wildtierwelt, die auf dem Feld existiert, geschützt ist.

Eine Maschine kann aber keinen Menschen ersetzen. Gerade wenn ich an Milchkühe denke und an Melkroboter, die an ihnen saugen, muß regelmäßig jemand nachschauen, wie das Euter aussieht und ob das alles gut läuft. Es kann nämlich auch ganz schnell mal etwas aus dem Ruder laufen und sehr schmerzhaft sein. Irgendeine Form von Überwachung ist somit erforderlich.

SB: Wir haben im Schattenblickformat "Thementreff" verschiedenen Tierschützern in einer Diskussionsrunde einmal die Frage gestellt: "Ist eine gewalt- und raub- bzw. verwertungsfreie Koexistenz zwischen Mensch und Tier vorstellbar?" Was wäre Ihre Antwort oder Ihre Vision für eine zukünftige Gesellschaft und ihren Umgang mit ihren Mitlebewesen?

MS: Ich persönlich halte das für vorstellbar. Ich war sogar schon bei Seminaren, wo es darum ging, ob wir als Menschen nicht sogar den Auftrag haben, die Gewalt innerhalb der Tierwelt zu reglementieren oder ganz zu unterbinden. Theoretisch wäre eine vegane Welt überhaupt kein Problem und eine sehr schöne Zukunftsvision. Sie ist nur sehr weit weg von der Realität, in der wir im Moment gerade leben.


Zufriedenes Schwein in der Suhle - Foto: 2013 by Myrabella [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

'Tiere einfach leben lassen, ohne daß sie einen Auftrag erfüllen müssen.' (Dr. Martina Stephany)
Foto: 2013 by Myrabella [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

SB: Arbeitet VIER PFOTEN mit andern Tierbefreiungs-, Tierschutz- oder Tierrechtsorganisationen zusammen, und in welcher Form unterscheidet sie sich von Organisationen wie PeTA oder anderen?

MS: Es gibt einige Bündnisse, in denen wir uns mit anderen Organisationen sehr regelmäßig austauschen und auch gemeinsame Forderungen stellen oder Pressemitteilungen veröffentlichen. Aber selbstverständlich gibt es auch Unterschiede in unserer Arbeit. Wir setzen uns als Tierschutzorganisation für eine Verbesserung der Situation für die Tiere ein, die jetzt in den Ställen leiden und haben ja gleichzeitig auch das Ziel, die Tierzahl um fünfzig Prozent zu reduzieren. Tierrechtsorganisationen wie PeTA möchten die Tierhaltung ganz abschaffen, was auch ein super Ziel ist, nur vermutlich zeitlich noch etwas weiter entfernt. Persönlich habe ich PeTA viel zu verdanken. Ich konnte mit Anfang zwanzig dort ein Praktikum machen, direkt, nachdem ich selbst vegan geworden bin. Das hat mein Leben sehr geprägt. Ich war von dem Augenblick an Tierschutzaktivistin. Auch in meinem Studium hat mich das Thema "Mensch-Tierbeziehung" ständig begleitet. Ich habe sogar darüber promoviert. Und schließlich bin ich über diesen Weg auch bei VIER PFOTEN angekommen.

SB: Haben Sie vielen Dank Frau Stephany, daß Sie sich die Zeit für uns genommen haben.


Anmerkungen:


[1] Verena Balsen (Gründerin und Geschäftsführerin, Herrmann's GmbH)
https://www.hermanns.com/

und Johann-Michel Claßen (Mitinhaber von Claßen & Winter Goosies Wurstwaren-Manufaktur)
http://www.goosies.de/

[2] Mehr über VIER PFOTEN und Nutztierhaltung finden Sie hier:
https://www.vier-pfoten.de/themen/tierschutzpolitik/haltungskennzeichnung/

[3] https://www.tagesschau.de/ausland/clean-meat-101.html


Bisher sind zum "5. Zukunftsdialog Agrar und Ernährung 2018" im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT erschienen:

BERICHT/138: Landwirtschaft 4.0 - die Stickstoffalle ... (SB)
BERICHT/139: Landwirtschaft 4.0 - Besserungen verlangen und geloben ... (SB)
INTERVIEW/274: Landwirtschaft 4.0 - Ökolandbau, warum nicht ...    Silvia Bender im Gespräch (SB)
INTERVIEW/275: Landwirtschaft 4.0 - Tierhaltungs- und Gebrauchsalternativen ...    Dr. Martina Stephany im Gespräch (SB)
INTERVIEW/276: Landwirtschaft 4.0 - Akutantworten ...    Prof. Dr. Matin Qaim im Gespräch (SB)


18. Juni 2018


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