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DILJA/06: Headhunter ( 4) - Einer bleibt zurück (SB)


HEADHUNTER

Teil 4: Einer bleibt zurück

Science-Fiction-Story


"Sag mal, Sergio", begann Clarissa Lampurtini leise und sah zu ihrem Mann hinüber, der neben ihr auf dem Beifahrersitz des Alfa Romeo saß und längst wieder mit seinen hochenergetischen Gerätschaften beschäftigt war.

"Ja, was ist denn?" fragte Sergio beiläufig zurück, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.

"Nun hör' mir doch mal zu!" Die 33jährige gebürtige Italienerin wurde nun schon etwas energischer. "Weißt du, ich wollte mal was mit dir besprechen, wozu wir einfach noch keine Gelegenheit hatten, seit wir unterwegs sind. Und möglicherweise kommen wir in absehbarer Zeit auch nicht mehr dazu."

"Nun mach's mal nicht so spannend." Ihr Mann sah zu ihr hinüber, denn er spürte, daß sie etwas auf dem Herzen hatte. "Machst du dir immer noch Sorgen wegen der beiden Spanier?"

"Nein, das ist es nicht. Ich mach' mir Sorgen um uns."

"Um uns?" Sergios Gesicht war ein einziges Fragezeichen. "Wieso das denn?"

"Nun, ich denke seit gestern darüber nach, was uns in der Dürrezone wohl erwarten mag. Kein Mensch, weder du noch ich, kann wissen, ob wir nicht geradewegs in die Hölle marschieren."

"Ja, das ist richtig", pflichtete Sergio ihr bei. "Wenn ich nicht so sicher wüßte, daß wir hier buchstäblich nichts mehr zu verlieren haben, würde ich auch an unserer Idee zweifeln."

"Du verstehst immer noch nicht, worauf ich hinaus will." Clarissa machte eine kurze Pause, als wollte sie sich sammeln. "Ich denke auch nicht darüber nach, ob unser Plan wohl gut ist oder nicht, welche Chancen wir haben oder ähnliches."

"Ja, was ist es denn?" fragte Sergio, der nun neugierig geworden war.

"Nun, was ich sagen will, ist folgendes: Da wir auch in der Dürrezone mit dem Schlimmsten rechnen müssen, meine ich, daß wir bestimmte Vorkehrungen treffen sollten. Schließlich, nun ja, also" - Clarissa rang sichtbar nach Worten -, "ich kann mir jedenfalls genug Dinge ausmalen, die schlimmer sind als der Tod."

Der 43jährige gebürtige Italiener zögerte kurz und sagte dann: "Ja, das ist wohl wahr. Möchtest du doch lieber umkehren?"

"Nein. Ich wollte dir lediglich sagen, daß ich hier zwei Kapseln Brymol habe; eine für dich, eine für mich. Für alle Fälle, wenn's hart auf hart kommt."

Unwillkürlich mußte Sergio schlucken. Brymol war ein in Sekundenschnelle tödlich wirkendes Gift, das auf normalen Wegen überhaupt nicht erhältlich war. Nicht einmal die Gesundheitsdienste verfügten über solche Mittel, die einer biologischen Waffe gleichkamen. "Woher hast du die denn, und wieso hast du mir bislang nichts davon erzählt?"


*


Mit der Dienstwaffe im Anschlag schlich Francesco Borgio in den kleinen Wald hinein. Bis auf die Geräusche der Nacht - das leise Flirren der Blätter im Wind, das `Atmen' der Bäume, das Zirpen der Grillen - herrschte eine fast beängstigende Stille. Sollte er sich doch geirrt haben in der Annahme, die Lampurtinis hätten sich in diesem Wald versteckt? Im fahlen Dämmerlicht der Nacht - es war mittlerweile 1.30 Uhr - konnte er durchaus die Konturen der Bäume erkennen, nachdem seine Augen sich an die unbestimmte Schwärze des Waldes gewöhnt hatten. Aufmerksam spähte er in alle Richtungen, wohl wissend, daß sich aus jedem der dunklen Schatten ein Gegner herausschälen und ihn angreifen könnte. Bislang hatte er von den Gesuchten noch nicht einmal Spuren entdeckt, was aber bei der trockenen Härte des Weges nicht viel besagte.

Plötzlich hörte er hinter sich ein leises Knacken, so als wäre ein Mensch oder ein Tier auf einen kleinen Ast getreten. Doch als der 28jährige Polizeioffizier sich umwandte, entdeckte er nur eine schwarze Krähe, die sich laut flatternd aus einem nahen Gebüsch heraus in die Höhe schwang. "Jetzt nur nicht die Nerven verlieren", murmelte Francesco und drehte sich erleichtert wieder um. Er vermochte sich kaum einzugestehen, wie unheimlich ihm die nächtliche Atmosphäre hier war. Schließlich hatte er schon ganz anderen Gefahren getrotzt, da würde er sich doch wohl nicht fürchten wie ein Kind im dunklen Wald? Noch dazu, wo er alles auf eine Karte gesetzt hatte! Es kam für ihn jedenfalls nicht in Frage, jetzt auf halbem Wege kehrtzumachen! Ungeachtet seiner ungebrochenen Entschlossenheit, diese Sache zu Ende zu bringen, pochte sein Herz unverhältnismäßig laut. Er umklammerte mit schweißnasser Hand seinen Revolver, der ihm in dieser Situation kein Gefühl der Sicherheit vermitteln konnte.

Nein, ohne die Lampurtinis würde er nicht nach Corina zurückkehren, soviel stand fest. Wie er sich überhaupt sein weiteres Vorgehen vorstellte, konnte er ohnehin erst nach der Festnahme dieser Kriminellen entscheiden - dann also, wenn er herausgefunden hatte, inwiefern sein Chef, der Commissioner Adriano Capertino, in diese Machenschaften verstrickt war. Doch um das herauszufinden, mußte er ihrer erst einmal habhaft werden, und bislang hatte er sie noch nicht einmal ausfindig gemacht.

Immer tiefer drang Francesco in die Dunkelheit ein. Er ließ sich Zeit, blieb immer wieder stehen, um zu lauschen. Erst wenn es eine Weile still geblieben war, traute er sich wieder ein kleines Stück vorwärts. Doch war war das? Er meinte, schräg vor sich im Gebüsch etwas schimmern zu sehen. Noch behutsamer als zuvor schlich er voran. Wenn er jetzt einen Infrarotrestlicht- Verstärker bei sich gehabt hätte! Doch so einfache Polizisten wie er wurden ja kaum mit dem Nötigsten ausgerüstet, dachte der mutige Polizist mit einer gewissen Verbitterung. Ganz zu schweigen von einem Bio-Detektor, der ihm jedes Lebewesen aufgrund der spezifischen Temperatur auch auf hundert Meter Entfernung angezeigt hätte! Aber nein, er stand hier allein auf weiter Flur und mußte sehen, wie er zurecht kam.

Die Widersprüchlichkeit dieser Argumentation wurde ihm nicht so recht bewußt. Seine Nerven waren so angespannt, daß er keinen Augenblick daran dachte, daß er sich auf eigene Faust und ohne Wissen seines Vorgesetzten von seinem eigentlichen Aufgabenbereich entfernt hatte, um hier im Alleingang zwei flüchtige Kriminelle zu stellen. Mittlerweile hatte sich Francesco dem Gebüsch, in dem es so verdächtig schimmerte, bis auf wenige Meter genähert. Er glaubte, die Umrisse eines am Boden liegenden Menschen ausmachen zu können, vielleicht waren es sogar zwei.

Ob sich die beiden Lampurtinis hier einfach schlafen gelegt hatten, weil sie erst bei Tagesanbruch weiterfahren wollten? Vorstellen konnte Francesco sich das eigentlich nicht, schließlich schienen diese Leute zu wissen, daß es für sie ums Ganze ging. Immer wieder - und das stellte inzwischen einen nicht unerheblichen Anteil der Polizeiarbeit dar - oblag es der Guardia Civil, der zentralen Verwaltung Menschen zuzuführen, die sich dem Gang der Ereignisse entziehen wollten. In dieser Situation sich einfach schlafen zu legen - das war nicht sehr plausibel, andererseits hatte Francesco schon die merkwürdigsten Dinge erlebt bei Menschen, die keinen Ausweg mehr sahen.

`Länger warte ich jetzt nicht mehr', dachte der junge Beamte, nachdem er fast zehn Minuten lang reglos ausgeharrt hatte, `ich will's jetzt wissen'. Und er löste sich aus seiner Erstarrung und schlich gebückt vorwärts. Nach ein paar Schritten hatte er besagtes Gebüsch erreicht - und tatsächlich, hier lagen, wie er jetzt deutlich erkennen konnte, zwei Menschen. Waren sie etwa tot? Oder schliefen sie so fest, daß sie ihn nicht einmal bemerkten und schutzlos der dunklen Nacht preisgegeben waren?

Francesco bog die Äste des Gebüschs auseinander, um dicht an die am Boden liegenden Menschen herantreten zu können. Sollten die beiden sich nur schlafend gestellt haben - er wäre ihnen in diesem Moment in die Falle gelaufen. Doch nach wie vor rührten sie sich nicht. Der junge Polizeibeamte steckte seine Waffe wieder ein, um die Hände frei zu haben. Dann beugte er sich zu dem Mann herunter, um dessen Herzschlag zu prüfen, konnte aber nichts feststellen. Vorsichtig faßte Francesco nach der Hand des Reglosen, dessen Gesicht kaum zu erkennen war. Die Haut fühlte sich relativ kalt an - war er etwa schon tot? Doch dann konnte der Adjutant des Polizeichefs von Corina einen ganz schwachen Puls fühlen. Warum habe ich bloß die Taschenlampe im Wagen liegen lassen? fragte sich Francesco leicht verärgert, weil er immer noch nicht wußte, was es mit diesen Menschen auf sich hatte. Nach einem Schlafenden sah der Mann, der immer noch wie ein Toter da lag, nun wirklich nicht aus, also befand er sich in einer tiefen Bewußtlosigkeit, vielleicht sogar im Koma. Francesco durchsuchte mit flinken Händen die Jackentaschen des Unbekannten, den er immer noch für den gesuchten Sergio Lampurtini hielt, fand aber weder Kennkarte noch Autoschlüssel.

Der junge Beamte holte tief Luft. Die ganze Sache war ja noch mysteriöser, als er bislang angenommen hatte. In dieser Verfassung konnte er seine beiden Verdächtigen wohl kaum verhören, da half auch kein Wahrheitsserum. Was blieb ihm anderes übrig, als sie in medizinische Behandlung zu übergeben? Ob er danach allerdings noch Gelegenheit haben würde, die Festgenommenen zu verhören, stand in den Sternen. Er hielt es für viel wahrscheinlicher, daß er selbst einem sehr peinlichem Verhör unterzogen werden würde, denn wie sollte er dem Commissioner plausibel machen, warum er an einer weit von Corina entfernten Service Station zwei bewußtlose Kriminelle im Gebüsch gefunden hatte?

Doch nun galt es, keine Zeit mehr zu verlieren, schließlich wollte er nicht den Tod der beiden zu verantworten haben. Francesco beugte sich zu der Frau hinüber, um festzustellen, ob sie noch am Leben war. Es war das gleiche Bild: ein ganz schwacher Puls, sonst keine erkennbaren Lebenszeichen. In diesem Moment - er wollte sich gerade wieder aufrichten - meinte er, im Nacken einen kalten Windhauch zu spüren.

"Na, Sergeant, da haben Sie ja einen Fund gemacht", erklang plötzlich eine joviale Stimme ganz in seiner Nähe. Francesco sprang auf und fuhr herum - und sah sich einem Mann gegenüber, der nur drei Meter von ihm entfernt stand.

"Ich, also, äh, das sind ...", fing Francesco an zu stottern, denn er fühlte sich von diesem Unbekannten, der wie aus dem Nichts heraus aufgetaucht war, auf frischer Tat ertappt. `Wieso habe ich ihn nicht kommen hören', schoß es ihm durch den Kopf. Der junge Polizeioffizier konnte seine Nervosität kaum verbergen. Wer war dieser Mann überhaupt, dessen Gesicht Francesco im dunklen Schatten des Waldes nicht ausmachen konnte? Den Umrissen nach zu urteilen, mußte es ein großer und auch recht kräftiger Mensch sein. Könnte es ein Beamter sein, der ihn festnehmen sollte?

Die Selbstsicherheit und Selbstverständlichkeit, die der Unbekannte an den Tag legte, als wäre er ihm gegenüber eine Autorität, irritierte Francesco zutiefst. Aber das war absurd, kein Beamter, erst recht kein Vorgesetzter, würde nachts allein an solch einem Ort auftauchen, um ihn zur Verantwortung zu ziehen! Die beiden Bewußtlosen, die direkt neben ihm lagen, rührten sich noch immer nicht. Um sie würde er sich erst später kümmern, erst einmal galt es zu klären, ob und inwiefern dieser unbekannte Dritte mit den Lampurtinis in Verbindung stand.

"Wieso nennen Sie mich überhaupt `Sergeant', Mister? Ich bin kein Sergeant, ich bin Commander Borgio von der Polizeipräfektur Corina." Mit diesen Worten ging Francesco, der wieder etwas Mut gefaßt hatte, einen Schritt auf den Unbekannten zu. "Und ich wüßte auch nicht, was Sie das überhaupt angeht ..."

Der Fremde kam ebenfalls etwas näher und trat dabei in den Lichtkegel des fahlen Mondlichts. Als der junge Polizeibeamte dessen Gesicht gewahr wurde, durchfuhr ihn ein eiskalter Schrecken, denn der Blick, mit dem der Unbekannte ihn fixierte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.


*


Viel Verkehr herrschte zu dieser späten Nachtstunde auf der EURO-5, einer in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Kernstrecke Zentraleuropas, nicht mehr.

"Nun, ich habe die Kapseln seit gestern. Und du brauchst gar nicht so mißtrauisch zu fragen, warum ich bislang nichts davon erzählt habe, schließlich hatten wir noch keine ruhige Minute." Clarissa warf einen Blick auf das Armaturenbrett des Alfas, doch es war alles in Ordnung. "Nachdem wir uns gestern auf dem Jahrmarkt getrennt hatten, habe ich noch einen kleinen Abstecher ins Labor von `Pharma Futura' gemacht."

Sergio saß stirnrunzelnd neben ihr, seine Miene verfinsterte sich zusehends. "Wieso das denn? Das hatten wir doch überhaupt nicht besprochen!"

"Nun reg' dich doch nicht schon wieder auf", versuchte Clarissa ihren Mann zu beschwichtigen, wußte sie doch, wie empfindlich Sergio in gewisser Hinsicht reagierte. "Es ging doch alles so schnell, wir haben ohnehin nur das Nötigste besprochen. Und als ich die Idee mit den Kapseln hatte, warst du schon weg. Mir blieb nur die Wahl, entweder sofort ins Labor zu gehen oder auf diesen `letzten Ausweg' gänzlich zu verzichten."

"Und weiter?"

"Nun, ich hatte Glück, Rinaldo hatte noch Dienst."

Sergio konnte nicht verhehlen, daß ihm die bloße Erwähnung dieses Namens einen Stich versetzte.

"Und dem hast du brühwarm erzählt, was wir vorhaben?"

Clarissa sah ihren Mann mit blitzenden Augen an. "Nein. Ich habe ihm gesagt, was ich brauche, und ihn gefragt, ob er mir helfen würde."

"Und er wollte nicht wissen, was du damit vorhast?"

"Nein. Vielleicht hat er gehofft, ich würde meinen Mann umbringen wollen", antwortete sie trotzig, denn Sergios Eifersucht verletzte sie zutiefst.

Der ehemalige Hochenergie-Ingenieur lehnte sich in seinem Sitz weit zurück und pfiff durch die Zähne. Er war sich darüber im klaren, daß er ihr unrecht tat, aber ein leises Unbehagen blieb. Er empfand diese ganze Geschichte irgendwo als Vertrauensbruch. Warum mußte sie sich ausgerechnet an Rinaldo wenden? Andererseits, so mußte er zugeben, war dieser verfluchte Chemiker der einzige Mensch, bei dem überhaupt die geringfügige Chance bestand, an solche Sachen heranzukommen.

Sergio ließ das Seitenfenster herunter, und sofort fegte eine herbe Brise ins Wageninnere, was bei einer Geschwindigkeit von circa 180 km/h kein Wunder war. Er wollte sich im wahrsten Sinne des Wortes etwas abkühlen, denn bei nüchterner Überlegung wußte er sehr wohl, daß es für ihn keinen triftigen Grund gab, an Clarissa zu zweifeln oder ihren Fluchtplan ernsthaft in Frage zu stellen.


*


`Sicher ist sicher', dachte Francesco und bewegte langsam und seiner Meinung nach unauffällig die rechte Hand zum Gürtel, wo seine Dienstwaffe steckte.

"Das würde ich an Ihrer Stelle bleiben lassen." Die unheilschwangere Stimme des Unbekannten klang so bestimmt, daß Francesco unwillkürlich innehielt.

`Warum gehorche ich ihm eigentlich, er ist doch nicht einmal bewaffnet'? fragte er sich irritiert und achtete sorgfältig darauf, keine Handbewegung zu machen, die der andere als Griff zur Waffe interpretieren könnte. Obwohl der Fremde keine Anstalten machte, gegen ihn vorzugehen, fühlte Francesco sich mehr als unbehaglich.

"Wer sind Sie eigentlich?" wollte er schließlich wissen. Der Fremde ging einen weiteren Schritt auf ihn zu und verzog keine Miene, als er leise antwortete: "Du willst wissen, wer ich bin?" Und als Francesco ihn nur stumm ansah, fuhr der Unbekannte fort: "Ich bin dein Tod."

Und im Bruchteil einer Sekunde wußte der junge Italiener, daß dies alles andere als ein makabrer Scherz war. Blitzschnell griff er nach seiner Pistole. Doch sein Gegner, der durch diese Bewegung nicht im mindesten überrascht zu sein schien, kam ihm zuvor. Aus den Augenwinkeln heraus sah Francesco noch ein kurzes metallisches Blitzen, dann spürte er einen stechenden Schmerz an der Kehle - und brach zusammen.


*


Bislang hatten sie mehr Glück als Verstand gehabt, es hatte alles wie am Schnürchen geklappt. Auch die Erbeutung eines neuen, unverfänglichen Autos war ein voller Erfolg gewesen. Zudem war der Fahrzeugwechsel auf dem Parkplatz reibungslos verlaufen, ihr eigener Wagen stand nun mit unbrauchbar gemachtem Impulsgeber in der Nähe der Service Station, und sie waren mit einem Alfa Romeo unterwegs, dessen Impulse sie nicht verraten konnten.

Jedenfalls so lange nicht, wie dessen eigentlicher Inhaber - ein spanischer Geschäftsmann, den sie mit seiner Begleiterin ganz in der Nähe des Autobahnparkplatzes überwältigt hatten, nicht gefunden wurde. Diese beiden lagen, so war jedenfalls zu hoffen, nach wie vor in jenem an den Parkplatz angrenzenden Waldstück.

Zu jener späten Nachtstunde hatte an der Tankstelle wenig Betrieb geherrscht, dennoch hatten sie auf Anhieb zwei Menschen entdeckt, die für ihre Pläne in Frage kamen. Natürlich sah weder Sergio diesem Geschäftsmann noch Clarissa der Sekretärin ähnlich, doch das würde bei der bloßen Benutzung ihrer Chipkarten - etwa beim Tanken - nicht weiter auffallen. Sobald allerdings jemand Verdacht schöpfte und eine genauere Überprüfung vornehmen wollte, würde der ganze Schwindel sofort auffliegen. Das gleiche galt für den Fall, daß die Zentralverwaltung, aus welchen Gründen auch immer, einen Abgleich der Individualgehirnwellenmuster verlangte. Es war ein sehr schmaler Grat, auf dem die Lampurtinis sich nun bewegten.

Früher oder später würden ihre Täuschungsmanöver ohnehin offenkundig werden. Spätestens, wenn man das von ihnen paralysierte Paar im Wald fand, wäre es mit ihren Fluchtplänen aus und vorbei. Die Lampurtinis hatten die beiden Spanier zwar - so gut es eben ging - in einem recht dichten Gebüsch versteckt, doch mit der Entdeckung der Bewußtlosen mußte in jedem Fall gerechnet werden. Die entscheidende Frage war einzig und allein, ob ihnen genug Zeit bliebe, die Dürrezone zu erreichen.

Es würde für ihre Verfolger ein leichtes sein, die Verbindung von den beiden Spaniern zu ihnen herzustellen - noch dazu, da sie ihren eigenen Wagen ganz in der Nähe stehengelassen hatten. Sergio und Clarissa hatten lange darüber diskutiert, ob sie ihren Fiat Fitore nicht doch lieber weiter weg fahren sollten, in eine 30 Kilometer entfernt liegende Ortschaft vielleicht, um die Spuren besser zu verwischen. Die Idee war nicht schlecht, doch dazu hätten sie sich trennen müssen - und das Risiko, sich dabei buchstäblich auf Nimmerwiedersehen aus den Augen zu verlieren, war einfach zu groß gewesen.

Sollten sich die Fahnder ruhig den Kopf darüber zerbrechen, warum sie den Impulsgeber des Fiats zerstört hatten. So schnell würde wohl keiner ahnen, daß es sich dabei lediglich um eine Generalprobe für das eigentliche Manöver handelte. Früher oder später würden sie den Impulsgeber des erbeuteten Alfa Romeo ebenfalls zerstören, denn Sergios Hochenergie-Destruktor hatte sich als brauchbar erwiesen. Sie waren sich nur noch nicht schlüssig darüber, wann und wo sie das tun wollten, und diese Entscheidung hing mit der schwer einzuschätzenden Frage zusammen, wann man die Paralysierten entdecken würde - noch in der Nacht oder erst, was für sie das Günstigste wäre, in den Morgen- oder Vormittagsstunden?

Bis zu diesem Zeitpunkt X mußten sie ausgiebig von den erbeuteten Chipkarten Gebrauch gemacht haben, denn danach wären die geklauten Identitätskarten keinen Pfifferling mehr wert. Andererseits würden sie nach dem Zeitpunkt X keine Gelegenheit mehr haben, zu tanken oder sich Lebensmittel und Trinkwasser zu besorgen, denn sie konnten nicht davon ausgehen, dasselbe Manöver noch einmal durchführen zu können. Also mußten ihre Vorräte bis zur Demarkationslinie reichen - und was danach kam, stand ohnehin in den Sternen.

Nach dem Zeitpunkt X würde der Impulsgeber des Alfa Romeo ihren konkreten Aufenthaltsort sofort offenbaren. Wenn sie bis dahin die Quelle dieser verräterischen Signale ausgeschaltet hatten, bliebe ihnen noch eine Galgenfrist. Andererseits, je früher sie diesen Mikrochip vernichteten, umso größer würde die Gefahr werden, bei einer zufälligen Fahrzeugkontrolle aufzufallen, denn ein Auto ohne Impulse war für sämtliche Ordnungskräfte ein rotes Tuch, weil es sich dem Überwachungssystem entzogen hatte.


*


Mike Rosefield hatte die Service Station hinter sich gelassen und fuhr gen Norden. Es hatte ihm keinerlei Mühe bereitet, den Hergang der Ereignisse im kleinen Wäldchen zu rekonstruieren. Die Lampurtinis waren schließlich keine Profis, auch wenn sie sich alles andere als dumm anstellten. Vor umso mehr Rätseln würden allerdings die regulären Polizeikräfte stehen, sobald neben den beiden paralysierten Spaniern nun auch noch die Leiche eines jungen Polizeioffiziers aus Corina gefunden wurde.

Der Headhunter schaltete die Steuerung seines Ferraris auf Automatik um, um ungestört seinen Gedanken nachhängen zu können. Den Wagen der Lampurtinis hatte er unangerührt auf dem Parkplatz stehenlassen. Ihm war ohnehin klar, daß die Lampurtinis die Spanier nur außer Gefecht gesetzt hatten, um sich ihres Autos zu bemächtigen. Interessanter war da schon die Frage, woher die Waffe stammte, mit der sie das bewerkstelligt hatten.

Da sich die Identität der Spanier und damit die Impulsfrequenz ihres Wagens nicht ohne weiteres ermitteln ließ, war Mike auf seinen ursprünglichen Plan, seine Opfer an der Demarkationslinie abzufangen, zurückgekommen. Der Ferrari würde mit relativer Höchstgeschwindigkeit den anvisierten Zielbereich noch in den Morgenstunden erreichen, darum brauchte Mike sich nicht zu kümmern. Er streckte sich aus, nachdem er den Sitz heruntergestellt hatte, und gönnte sich ein herzhaftes Gähnen.

An den jungen Italiener verschwendete er keinen Gedanken mehr, nachdem er sich vergewissert hatte, keine Spuren hinterlassen zu haben. Solche Dinge waren für den Headhunter längst Routine geworden. Wenn es in diesen Zeiten immer noch Dummköpfe gab, die ihre Nase in Sachen steckten, die sie nun wirklich nichts angingen, hatten sie sich die Folgen selbst zuzuschreiben.

Nein, was Mike jetzt viel mehr interessierte, war die merkwürdige `Vision', die er in dem kleinen Straßencafé von Corina erlebt und als Warnung aufgefaßt hatte. Und scheinbar übergangslos sah der Headhunter sich in die Vergangenheit zurückversetzt und durchlebte eine entscheidende Situation aus seinem Leben zum zweiten Mal.


*


"Also, wo wollen wir tanken?" fragte Clarissa noch einmal und sah zu ihrem Mann hinüber, der schon wieder seine Instrumente vor sich ausgebreitet hatte und über einem technischen Problem zu grübeln schien.

Sergio hangelte nach einer Landkarte und wies noch einmal auf die rotmarkierten Stationen, die in Frage kamen. "Der Alfa ist ungefähr noch halb voll, das dürfte für ungefähr 100 Kilometer reichen. Da wir uns kein unnötiges Risiko leisten können, würde ich vorschlagen, daß wir spätestens an dieser Station" - er wies auf einen circa 80 Kilometer entfernt liegenden Rastplatz - "tanken und unsere Wasservorräte auffüllen."

Clarissa war damit einverstanden. In einer knappen halben Stunde würden sie die anvisierte Tankstelle erreichen - und dann sollte sich herausstellen, ob ihr Plan, mit den Chipkarten von Fernando Cesare und Nadine Sanchez aufzutreten, aufgehen würde. "Es kann ja nichts schaden", fügte Clarissa hinzu, "wenn wir uns die Daten genau einprägen". Sie wendete die Karten wieder und wieder in ihren Händen, wußte sie doch, daß ihrer beider Leben von diesen unscheinbaren Chips abhängen konnte. "Du wirst sehen", versuchte Sergio sie zu beruhigen, "kein Mensch wird sich um uns kümmern. Das einzige, was schiefgehen könnte", ergänzte er mit einem etwas gequälten Lächeln, "wäre, daß dieser Spanier kein gedecktes Konto hat." Fernando Cesare - Sergio mußte sich an diesen Namen schnellstens gewöhnen - machte zwar den Eindruck eines wohlsituierten Geschäftsmannes, doch was hieß das schon?


*


Auch über die Brüsseler Innenstadt hatte sich längst eine fahle Schwärze gelegt, gekoppelt mit der trügerischen Ruhe einer nächtlichen Großstadtatmosphäre.

Jack Clifton wälzte sich in seinem Bett hin und her. Nach einem Blick auf den Digital-Chronometer, der 1.17 Uhr am 15.05.2013 anzeigte, stand er kurz entschlossen auf. Was hätte es für einen Sinn gehabt, noch länger liegenzubleiben, wenn er ohnehin keine Ruhe fand?

Nach einem herzhaften Gähnen wandte der Koordinator sich der Küche seines kleinen im Sicherheitshauptamt gelegenen Appartements zu. Seine eigentliche Wohnung war das nicht, denn er konnte eine kleine Villa in einem Brüsseler Vorort sein eigen nennen. Doch in der Praxis kam es häufig vor, zumal er alleinstehend war, daß Jack die Nacht in der Zentrale verbrachte. In seinem Wohn- und Arbeitszimmer befand sich ein Nebenanschluß zu `Xavier', der zentralen Recheneinheit des Sicherheitssystems, und deshalb konnte Jack auch von seinem Appartement aus jederezit auf die neuesten Daten zugreifen.

Nachdem er sich einen Cappuccino gemixt hatte, schlenderte er weiter durch die Wohnung und setzte sich schließlich mit mäßiger Neugier vor den Xavier-Terminal. Wie immer erfolgte seine Identifizierung in Sekundenbruchteilen, jeder Nicht- Zugangsberechtigte wäre sofort getötet worden. Niemand außer ihm war befugt, mit Xavier zu kommunizieren!

Und weil der Koordinator wußte, wie elementar wichtig seine Arbeit war, hatte er sich ihr auch mit Leib und Seele verschrieben, ein `Privatleben' im Sinne einer Unterscheidung zwischen Beruf und Familie gab es für ihn nicht.

Sein gelindes Interesse zu dieser nächtlichen Stunde galt seinem `besten Mann', dem Headhunter Mike Rosefield, und dem Verlauf seines neuesten Auftrags. Jack Clifton ließ sich die aktuellsten Daten einspielen - und war baß erstaunt.

Eine Vollzugsmeldung über die Erfüllung des Auftrags lag immer noch nicht vor. Schlimmer noch, das Informationssystem hatte `zur Zeit keine verfügbaren Daten' über den Aufenthaltsort der Zielpersonen. Mit anderen Worten: die Lampurtinis waren zur Zeit unauffindbar. Das mußte zwar nicht unbedingt heißen, daß auch der Headhunter nicht wüßte, wo sie steckten oder zu suchen waren, aber ...!

Der Koordinator konnte mit dieser Entwicklung nicht zufrieden sein. Nicht, daß die beiden eine ernsthafte Gefährdung der Sicherheit darstellten, doch es ging, salopp gesagt, ums Prinzip. Die Komplikationen, die es bei der Eliminierung der Zielpersonen bislang gegeben hatte, empfand Jack bereits als Störung des Verwaltungsablaufs, der gerade wegen seiner Empfindlichkeit und Vielschichtigkeit reibungslos zu funktionieren hatte.

Doch damit nicht genug, zudem lag eine Meldung vor, daß ein Beamter der Guardia Civil in Corina sich unerlaubt von seinem Einsatzort entfernt hatte. Den Impulsen seines Dienstwagens nach zu urteilen, hatte er sich auf eigene Faust daran gemacht, die Lampurtinis zu verfolgen. Was war das für eine Scheiße! Hatte er - Jack - denn nicht den ausdrücklichen Befehl an jene Polizeidienststelle gegeben, von den Lampurtinis die Finger zu lassen? Einen solchen Affront, einen solchen Akt der Insubordination - daran konnte kein Zweifel bestehen - würde der Koordinator im Interesse der weltweiten Sicherheit nicht dulden können. Mit einem Schlag war er hellwach und begann, die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten.

Was den eigentlichen Auftrag betraf, dessen Erfüllung nun dringender wurde als je zuvor, war Jack Clifton heilfroh, daß er Mike Rosefield losgeschickt hatte. Wenn einer der Headhunter die Gewähr bot, Leute aufzuspüren, die sich dem Überwachungssystem entzogen hatten, dann war es dieser Kerl.


*


Es war bei einem dieser unzähligen Einsätze in Afrika gewesen, in einem dieser erbärmlichen Hungerländer, die damals - es muß vor über 15 Jahren, also vor der Großen Verwaltungsreform gewesen sein - noch den formalen Status von Nationalstaaten hatten. Ob es nun in Somalia oder Kenia war, konnte Mike, der diese `Vision' ganz bewußt erlebte, beim besten Willen nicht ausmachen, es spielte aber auch keine Rolle. Tatsache war, daß er mit einer `Mobilen Aufruhr-Bekämpfungseinheit' an einem Einsatz teilnahm, bei dem es um die `Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung' ging, wie es im Jargon der Militärbehörden hieß. In der Praxis sah das bei diesem Einsatz - wie bei vielen anderen auch - so aus, daß sie mit einer Hundertschaft Soldaten einflogen, von den Hubschraubern absprangen und solange in die Menschenmenge feuerten, bis sich keiner mehr rührte.

Diesmal ging es wohl um die Befriedung von Unruhen, die sich in der Wüste an einer Wasserstelle zwischen dem örtlichen Militär und einer großen Menschenmenge entbrannt hatten. Worum es dabei konkret ging, entzog sich Mikes Kenntnis. Die Soldaten gingen ohne zu zögern zu Werke, denn sie wollten schnell fertig werden; es war sehr heiß und trocken, die Sonne brannte am Himmel. Mike - er war damals Sergeant - stand inmitten seiner Leute und hörte plötzlich auf zu schießen. Einen Moment lang stand er regungslos in der gleißenden Sonne und sah noch einmal zu den schreienden Menschen hinüber. Dann machte er auf dem Absatz kehrt, ging etwa zehn Meter auf seinen Vorgesetzten, einen belgischen Hauptmann, zu, hob sein Schnellfeuergewehr und schoß. Der Hauptmann war unfähig, auf diesen völlig unvorhersehbaren Angriff überhaupt zu reagieren und starb auf der Stelle, von mehreren Salven frontal getroffen.

Danach herrschte Totenstille. Die Soldaten seiner Einheit stellten das Feuer ein und starrten ihn an. Mike wurde von den Nächststehenden überwältigt und entwaffnet, was er widerstandslos mit sich geschehen ließ. Das alles vollzog sich in einem fast unheimlichen Schweigen, selbst von den sterbenden Menschen an der Wasserstelle war nichts mehr zu hören. Keiner der umstehenden Soldaten hätte sich gewundert, wenn einer der Gefolgsleute des Belgiers dessen Tod auf der Stelle gerächt hätte. Doch niemand rührte sich.

Mike erlebte diese unwirkliche Szene noch einmal in voller Intensität. Er war nicht so weit weggetreten, daß er den Sinn für die Realität gänzlich verloren hätte - so wußte er, daß er den Autopiloten seines Ferraris aktiviert hatte und sich deshalb getrost dieser merkwürdigen Eingebung überlassen konnte. Der Headhunter kannte sich gut genug, um zu wissen, daß es einen konkreten Anhaltspunkt geben mußte, der ihn diese folgenschwere Situation erneut durchleben ließ - und diesem vermuteten Zusammenhang zu aktuellen Ereignissen galt sein ungemindertes Interesse.


*


Adriano Capertino wischte sich die Tränen aus den Augen. Dem Himmel - oder in diesen Zeiten wohl besser der Hölle - sei Dank, daß er allein in seinem Büro war, als um 4.15 Uhr in einer kurzen Meldung die Nachricht vom Tod seines Adjutanten über den Ticker kam. Als Polizeichef durfte Adriano sich keine sentimentalen Schwächen erlauben, deshalb betätigte er die automatische Türverriegelung. Sicher, es waren schon etliche Beamte, die unter seinem Kommando gestanden hatten, in `Ausübung ihres Dienstes' zu Tode gekommen. Doch mit Francesco, das war noch etwas anderes.

Der Commissioner hatte sich natürlich ihm gegenüber niemals zu Vertraulichkeiten hinreißen lassen - ganz im Gegenteil, oft hatte er ihn hart anfassen müssen, weil dieser junge Hitzkopf sich sonst mit seiner Sturheit schon viel früher den Schädel eingerannt hätte. Und nun war genau das geschehen, was Adriano immer verhindern wollte, weil Francesco ihm ans Herz gewachsen war wie ein Sohn, den er nie gehabt hatte. Und er hatte sich in ihm wiedererkannt, wie er selbst mit 20, 25 Jahren gewesen war, doch damals konnte man sich gewisse Eigenheiten noch erlauben.

`Wer weiß, ob der Dummkopf noch leben würde, wenn ich mit ihm Klartext geredet hätte', grübelte Adriano, während er mit seinen schweren Stiefeln im Büro auf und ab ging, ohne sich der Sinnlosigkeit seines Tuns bewußt zu werden. "Verdammte Scheiße!" Mit diesen Worten versuchte er sich Luft zu machen, denn ihm war klar, daß er die nächsten Schritte nicht länger hinauszögern durfte. Dabei war alles Routine, die Spurensicherung war längst unterwegs, die Ermittlungen bereits eingeleitet.

Adrianos eigentliches Problem bestand eher darin, diese Aktivitäten so zu koordinieren, daß sie nicht zu Ergebnissen führten, die für alle Beteiligten gefährlich werden konnten. Er mußte vor allem dafür sorgen, daß nicht weitere seiner jungen Beamten ins offene Messer liefen. Wie aber sollte er ihnen ins Gewissen reden, ohne ihren Respekt zu verlieren - zumal er den Wunsch nach Rache nur zu gut nachempfinden konnte?

Ein schier unlösbarer Konflikt, doch das Schwierigste stand ihm noch bevor, sobald er die Routine abgewickelt und seiner Verpflichtung, in solchen Fällen persönlich `präsent zu sein', in ausreichendem Maße nachgekommen war. Dabei gehörte diese schwere Aufgabe nicht einmal zu seinen festgelegten Pflichten, denn im Laufe der Jahre hatte sich die Praxis durchgesetzt, Angehörigen die Nachricht vom Tod eines Verwandten per Datenleitung zukommen zu lassen. Doch in diesem Punkt war Adriano Capertino altmodisch und dachte nicht daran, sich dem Diktat der neuen Zeit zu beugen. Er würde Francescos Mutter, einer aus Palermo stammenden Witwe, die seit zehn Jahren in Corina lebte, persönlich aufsuchen. Gut möglich, daß ihm die Worte im Hals stecken bleiben würden, dennoch war dies das einzige, was er für Francesco noch tun konnte.

Warum hatte dieser Idiot bloß nicht begriffen, was es bedeutet, wenn ein direkter Befehl aus der Sicherheitszentrale in Brüssel kommt, noch dazu per Urgent-Fax? Was mochte in seinem unausgereiften Hirn bloß vor sich gegangen sein? Adriano Capertino blieb abrupt an seinem Schreibtisch stehen und aktivierte den Kommunikator. Er hatte sich wieder völlig in der Gewalt, seiner Stimme war nicht die geringste Rührung anzumerken, als er mit gewohnt knappen Worten seine Befehle gab.


*


Unterdessen saß der Headhunter immer noch im Liegesitz seines Ferraris, der ihn unaufhaltsam in Richtung Norden brachte. Von seiner Umgebung nahm Mike kaum etwas wahr, denn nach einer kurzen Besinnungsphase hatte die Vision, wie er seine Eingebung in Ermangelung präziserer Begriffe nannte, ihn wieder gefangen genommen. Und sein `Deja vu' setzte bei derselben Geschichte wieder ein, die sich vor über 15 Jahren zugetragen und sein Leben von Grund auf verändert hatte. Allerdings mit einer Zeitverzögerung von fast siebzig Stunden - so lange, wie er damals nach seiner Festnahme durch umstehende Soldaten und der Übergabe an den nächsten ranghöheren Offizier in völliger Isolation gehalten worden war. Man hatte ihn von Somalia aus in mehreren Etappen nach Brüssel gebracht - und zwar direkt in die Nervenzentrale des heutigen Sicherheitshauptamtes.

Damals war Mike völlig ruhig geblieben und hatte auf die ihn in seiner Isolationszelle akustisch und optisch überwachenden Beamten geradezu teilnahmslos gewirkt. Dabei war er nicht im mindesten apathisch. Ihm war klar, daß sein Leben keinen Pfifferling mehr wert war; ihn wunderte nur der Aufwand, der mit ihm betrieben wurde. Warum hatten sie das nicht gleich im Wüstensand erledigt? Mike hatte trotz des weitgehenden Reizentzugs, dem er fast ununterbrochen ausgesetzt war, feststellen können, daß man ihn nach Mitteleuropa gebracht hatte. Doch wozu?

Und nun erlebte er den Moment noch einmal `live', in dem er aus dieser engen Zelle wieder herausgelassen wurde, ihm also im übertragenen Sinne die Augen wieder geöffnet wurden. Und unvermittelt sah er sich wieder einem Mann gegenüber, dessen Gestalt und Gesicht offensichtlich durch einen Opto-Verzerrer unkenntlich gemacht worden war.

Das hatte Mike als ein für ihn günstiges Zeichen gewertet, denn wegen eines Toten würde man keine solchen Vorsichtsmaßnahmen treffen. Also wollte sein Gegenüber etwas von ihm, etwas so Wichtiges, daß Mike am Leben geblieben war - bislang jedenfalls. Diese unerwartete Wendung hatte der Gefangene gelassen aufgenommen, denn er wußte, daß er nicht jeden Preis für sein Leben zahlen würde. Doch was dann folgte, war die wohl denkwürdigste Unterhaltung, die der heutige Headhunter je geführt hatte.

(Ende des 4. Teils)


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Werden die Lampurtinis unangefochten die Dürrezone erreichen? Oder werden sie Mike Rosefield in die Quere kommen, der noch nie einen einmal angenommenen Auftrag unerledigt ließ? Was aber hat es mit den `Visionen' des Headhunters auf sich, der nun wirklich alles andere als ein Träumer ist?

Lesen Sie weiter in der nächsten Headhunter-Folge: Teil 5: Ein böses Erwachen


Erstveröffentlichung am 24. Juli 1995

18. Dezember 2006