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DILJA/08: Headhunter ( 6) - Die Konfrontation (SB)


HEADHUNTER

Teil 6: Die Konfrontation

Science-Fiction-Story


"Was mich ein bißchen wundert, sind die vielen Transportcontainer. Wo fahren die bloß hin? Du hast mir doch erzählt, das Grenzgebiet wäre wie ausgestorben", sinnierte Clarissa und sah zu Sergio hinüber, der neben ihr auf dem Beifahrersitz des gestohlenen Alfa Romeos saß. Die fahle Morgensonne tauchte am Horizont auf, es mochte etwa halb acht sein. Die karge und öde Landschaft - hier und da kleine Gruppen kahler Bäume, ansonsten brachliegende, verdörrte Felder - bot den Lampurtinis keinen schönen Anblick.

Ihr Mann gab keine Antwort, er blätterte in einem technischen Handbuch und schien ihre Frage gar nicht gehört zu haben.

"Sergio?" hakte sie nach. "Du hörst mir ja gar nicht zu!"

"Äh, was?" Der ehemalige Hochenergie-Ingenieur unterbrach seine Tätigkeit und wandte sich ihr zu. "Hast du eben was gesagt?"

"Ich sagte", gab Clarissa leicht gereizt zurück, "daß ich mich über die vielen Container-Transporte wundere. Es ist doch ganz offensichtlich, daß sie auch in Richtung der Demarkationsgrenze fahren. Ich frage mich nur, wozu - wenn die Grenze doch hermetisch abgeriegelt ist. Was also hat das zu bedeuten?"

"Ja, so recht weiß ich das auch nicht ...", begann Sergio gedehnt und sah zu Boden.

"Was heißt das denn - `so recht weiß ich das auch nicht'?" unterbrach ihn seine Frau unwirsch und bedachte ihn mit einem seltsamen Blick. "Weißt du, was es damit auf sich hat oder weißt du es nicht?" Sie wollte ihm keinen Raum für weitere Ausflüchte lassen.

"Nun, `wissen' wäre zuviel gesagt", antwortete Sergio etwas unwillig. "Nichts weiter als ein paar Gerüchte, die mir mal zu Ohren gekommen sind. Es soll in der Nähe der Sperranlagen, natürlich noch auf unserer Seite, recht umfangreiche Produktionsanlagen geben."

"Davon habe ich ja noch nie etwas gehört." Clarissa gab sich gar nicht erst die Mühe, ihr Befremden zu verbergen. "Und was, bitte schön, wird da produziert? Das ist doch wohl hochgradig irrational, in einer verlassenen Gegend, wo kaum noch ein Mensch wohnt, Industrieanlagen hochzuziehen. Das sieht doch hier schon aus wie im Niemandsland!"

"Ja, gerade das könnte der Grund für die Standortbestimmung dieser Anlagen gewesen sein."

Wieder fiel Clarissa ihrem Mann ins Wort. "Aber Sergio, nun sag' doch endlich mal, worum es eigentlich geht! Kannst du nicht mal Klartext reden?"

"Nun sei doch nicht so ungeduldig", suchte er sie zu besänftigen. "Ich weiß ja schließlich auch nichts Definitives."

"Macht gar nichts, ich höre mir auch gerne alles `Nicht- Definitive' an" - der beißende Spott in Clarissas Stimme war nicht zu überhören, doch Sergio ließ sich dadurch nicht beirren.

"Damals, als ich hier in der Gegend beschäftigt war, da kursierten wie gesagt bei den Leuten vom Bau - oder bei den Fahrern, die uns mit Material belieferten, das erinner' ich nun wirklich nicht mehr so genau - Gerüchte über diese Anlagen. Gesehen hatte niemand etwas, denn schon damals wurde das entsprechende Gelände vollständig abgeriegelt, also schon zu einer Zeit, als die Sperranlagen der späteren Demarkationsgrenze noch längst nicht fertig waren."

"Warum das denn?" Clarissa konnte ihre Neugier kaum bezähmen.

"Warum, warum!" Sergio, dem es sichtlich unangenehm war, über diese Angelegenheit überhaupt zu sprechen, ahmte sie nach. "Wenn das stimmt, was die Leute so erzählten, dann erübrigt sich die Frage nach dem Warum."

Diesmal war Clarissa klug genug, ihm nicht gleich wieder in die Parade zu fahren, denn sie spürte, wie schwer es ihm fiel, überhaupt Worte zu finden.

"Na ja", setzte er nach einem kurzen Augenblick wieder an. "Mal so 'rum gesagt: Hast du dich eigentlich nie gefragt, woraus die Konzentratnahrung hergestellt wird, wenn es doch so schlecht um die Landwirtschaft bestellt ist?"

"Was, um Himmels willen, willst du denn damit andeuten?" fragte Clarissa, die bei diesen Worten etwas bleich um die Nase geworden war.

"Also nun mach mal 'n Punkt", entgegnete Sergio und sah ihr direkt ins Gesicht. "Ich weiß ja, wie weit verbreitet diese sicherlich sehr bequeme Naivität ist, aber von dir hätte ich das eigentlich nicht gedacht. Muß ich dir nun wirklich 'ne Antwort darauf geben, wie es angehen kann, daß einerseits so viele Menschen auf Nimmerwiedersehen verschwinden, auf den wenigen verbliebenen Feldern kaum noch etwas wächst - so wenig, daß schon seit langem kaum noch Viehzucht betrieben werden kann - und andererseits immer noch Konservendosen in den Regalen stehen? In was für einer Welt lebst du eigentlich?" Sergio war heftiger geworden, als ihm eigentlich lieb war, doch er fühlte sich durch ihre hartnäckigen Fragen provoziert und in die Enge getrieben.

"Nein, das mußt du nicht. Ich würde allerdings gerne wissen, warum du mir in all den Jahren nichts davon erzählt hast."

Sergio wich erneut ihrem Blick aus. "Na ja, warum hätte ich denn? Es war doch nur so Gerede, wozu also hätte ich dich damit belasten sollen?" Seine Stimme klang etwas heiser.

"Merkst du eigentlich, was du da tust? Erst wirfst du mir meine Naivität und Weltfremdheit vor, und dann wiegelst du wieder ab und tust so, als wäre es eine Lappalie, daß du diese Geschichte seit über 15 Jahren für dich behalten hast."

"Nun, als wir uns kennenlernten, hatte ich sicher anderes im Sinn, als über solche Horrorgeschichten zu spekulieren. Und später - na ja, das hat nicht lange gedauert, und ich habe da auch nicht mehr dran gedacht. Ich bin ja in all den Jahren auch nicht wieder in dieser Gegend gewesen, deshalb komme ich erst jetzt wieder drauf."

Daraufhin sagte Clarissa nichts mehr, was ihr Mann, der ihr in diesem Moment wie ein Fremder erschien, mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Für ihn war das Thema damit für's erste erledigt, schließlich würden sie in kürzester Zeit vor konkreteren Problemen stehen, die sein ganzes Können und Know how erforderten - und darauf wollte er sich in der verbleibenden Zeit optimal vorbereiten.

Seine Frau hingegen war entsetzt. Gar nicht einmal darüber, was Sergio von diesen `Produktionsanlagen' - allein schon dieser Begriff! - gesagt hatte, denn sie wußte sehr wohl, in was für einer Welt sie lebte. Nein, was sie vielmehr schockierte, war die Tatsache, daß Sergio, den sie wie aus dem Effeff zu kennen glaubte, nach so vielen Jahren eine völlig fremde Seite offenbarte. Seine Argumente waren doch sehr fadenscheinig gewesen. Und wer weiß, ob er nicht mehr darüber wußte, als er jetzt bereit war zuzugeben? Was, wenn er sogar daran beteiligt gewesen war? Sein Unwillen, überhaupt ein Wort darüber zu verlieren, sprach doch Bände! Und jetzt? Was war jetzt? Längst blätterte er wieder emsig in seinem geliebten Handbuch und pfiff dabei leise vor sich hin. Keine Frage, daß er mit den Gedanken längst wieder woanders war, ihn schien das alles gar nicht weiter zu berühren.

Clarissa seufzte. Konnte sie ihm seine Haltung in dieser Situation wirklich verübeln? Schließlich hing die Frage, ob sie die elektronischen Sicherungen der Sperranlagen neutralisieren und anschließend die Demarkationslinie durchbrechen konnten, ausschließlich von seinem technischen Geschick ab - und das würde, mag es auch noch so pathetisch klingen, eine Frage auf Leben und Tod sein. Doch den nagenden Stachel in ihrer Seele, ausgelöst durch dieses böse Erwachen, ließ sich auf diese Weise nicht zum Schweigen bringen - und das an einem Tag, der der wohl folgenschwerste in ihrem Leben sein würde.

Fast kam es schon einem Wunder gleich, daß bislang von ihren Verfolgern weit und breit nichts zu sehen war. Clarissa war keineswegs so naiv - mit einiger Verbitterung erinnerte sie sich an Sergios Worte -, wirklich zu glauben, sie könnten unerkannt entkommen und so mir-nichts-dir-nichts in der Hungerzone Zuflucht suchen.


*


Der Headhunter konnte sich ausrechnen, daß er in einer knappen Stunde seine Opfer stellen könnte, wenn sie ihre gegenwärtige Richtung und Geschwindigkeit beibehielten. So ganz war Mike mit seinen Gedanken allerdings nicht bei der Sache. Seit er diesen Job übernommen hatte, beschäftigte ihn in zunehmendem Maße eine ganz andere Frage, die möglicherweise mit der Ausführung seines gegenwärtigen Auftrags in Verbindung stand. Sein ausgeprägter und geradezu untrüglicher Jagdinstinkt ließ ihn normalerweise wissen, wenn eine Sache einen Haken hatte - beispielsweise, wenn die Erledigung zu einfach zu sein schien, was nach seiner Erfahrung als sicheres Indiz dafür gelten konnte, mögliche Komplikationen nicht bedacht oder Querverbindungen nicht erkannt zu haben.

Doch dieser Fall lag anders; er unterschied sich in gewisser Hinsicht von all seinen recht zahlreichen Vorgängern. Das lag weniger an den Zielpersonen oder den konkreten Begleitumständen dieses Auftrags als an ihm selbst bzw. den Erinnerungsschüben, die ihn innerhalb der letzten 24 Stunden nun schon dreimal übermannt hatten. Der Headhunter schien sich nicht einmal darüber im klaren zu sein, wie sehr er, gemessen an seinen eigenen Maßstäben und bisherigen `Erfolgen', die Ausführung dieses Jobs schon hinausgezögert hatte. Hätte es jemals ein Publikum für seine Arbeit gegeben - er wäre für den sprichwörtlich `kurzen Prozeß' berüchtigt und gefürchtet gewesen. Nun war ihm ob dieser ungewöhnlichen Ereignisse der sportliche Ehrgeiz, mit dem er ansonsten seine Aufträge in Rekordzeit zu erledigen pflegte, abhanden gekommen, was er jedoch nicht einmal zur Kenntnis nahm, geschweige denn als Problem ansah.

`Was kann es schon schaden, wenn ich mich 'ne Stunde aufs Ohr hau', überlegte Mike, nachdem er die EURO 5, eine von Südeuropa nach Norden ins frühere Polen führende Schnellautobahn, verlassen und eine kleine Ortschaft angesteuert hatte. Er wußte, daß Bretow nur wenige Kilometer vor dem Niemandsland lag, hier würde ihn niemand stören. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, der Bio- Scanner des Ferraris zeigte an, daß sich im Umkreis von fünf Kilometern kein humanoides Wesen aufhielt. Das hatte Mike auch nicht anders erwartet, er kannte die Verhältnisse in dieser Grenzregion, im Niemandsland und sogar auf der anderen Seite ganz genau und wußte deshalb, daß diese Ortschaft schon seit Jahren nicht mehr bewohnt war.

Ein streunender Hund strich an einem der dem Verfall anheimgegebenen Gebäuden vorbei, ohne den Ankömmling zu beachten. Ein paar Krähen stoben laut krächzend aus einem verdörrten Baum auf, als der Ferrari langsam an ihnen vorbeifuhr. Danach herrschte wieder eine gespenstische Stille, die noch bedrückender wurde, als der Headhunter neben einer alten Scheune anhielt und den Motor abstellte. `Ein herrlicher Platz für ein kleines Schläfchen', dachte Mike und stieg aus, um sich ein bißchen die Beine zu vertreten. Ein leicht metallischer Geschmack lag in der Luft, am Himmel zogen düstere Wolken auf. Wieder im Ferrari programmierte er das automatische Sicherheitssystem, bevor er es sich endgültig in seinem Liegesessel bequem machte.

Sobald die Lampurtinis mit ihrem gestohlenen Wagen, dessen Impulse dem Headhunter längst zur Verfügung standen, eine Distanz von zehn Kilometern unterschritten, würde die Bordautomatik ihn wecken; schließlich mußte auch dieser Auftrag einmal erledigt werden. Das letzte Geräusch, das der Headhunter vernahm, war das durchdringende Krächzen der schwarzen Krähe, die nicht weit vom Ferrari entfernt auf einem Baumstumpf hockte und ihn zu fixieren schien - für Mike eine vertraute Seele.


*


Etwa 30 Kilometer von der Demarkationslinie entfernt bog Clarissa Lampurtini von der EURO 5 ab. Die Abbiegerspur mündete an einer kleinen Abzweigung. Farblose Ortsschilder kündigten in nordöstlicher Richtung eine Ortschaft namens Plenkow an. Kurzentschlossen bog die Italienerin ab, denn dieser Ort lag nur zwei Kilometer entfernt. Sergio rechnete damit, daß die wenigen Dörfer, die es in diesem Gebiet noch gab, so gut wie menschenleer waren - und deshalb, so seine Kalkulation, spielte es auch keine Rolle, wo sie anhielten, um auch an diesem Wagen den Impulsgeber zu entfernen. Ihren eigenen hatten sie in der Nähe von Corina stehen lassen, nachdem sie dessen Impulsgeber ausgebaut hatten. Das war in gewisser Weise der Testfall gewesen, um die Funktionsweise von Sergios selbstkonstruierten Geräten auszuprobieren. Alles hatte reibungslos geklappt, deshalb waren die Lampurtinis nun recht zuverzichtlich, daß es Sergio auch diesmal gelingen würde, den verräterischen Impulsgeber aufzuspüren und unschädlich zu machen. Es wurde höchste Zeit, diese Spuren zu verwischen, denn die italienische Polizei würde eher früher als später den Zusammenhang zwischen ihnen und den beiden Spaniern aufdecken.

"Alles klar?" wollte Sergio sich vergewissern und warf seiner Frau einen kurzen Seitenblick zu. "Ja", antwortete Clarissa recht einsilbig, doch der ehemalige Hochenergie-Ingenieur achtete nicht weiter auf sie. Er hielt sein Impulsmeßgerät in der Hand. Clarissa fuhr langsam durch eine kleine Dorfstraße. Die Häuser sahen zerfallen aus, nirgends waren Menschen oder Fahrzeuge zu sehen. "Mach schnell, halt doch an", zischte Sergio ungeduldig. Noch bevor sie den Motor ausgeschaltet hatte, sprang er aus dem Wagen und aktivierte den Hochenergiemeter. Langsam umkreiste er den gestohlenen Alfa Romeo des Spaniers - einmal, zweimal, doch nichts geschah. Verflucht noch mal, was hatte das zu bedeuten?

"Was ist los?" fragte Clarissa besorgt, "funktioniert dein Gerät nicht?"

Sergio stand der Schweiß auf der Stirn. "Ich kann keine Fehlfunktion entdecken. Es sieht so aus, als hätte dieser Wagen keinen Impulsgeber, aber das ist völlig unmöglich."

"Vielleicht nicht", rätselte die Italienerin. "Warum sollte nicht auch ein Impulsgeber mal eine Störung haben?"

"Du weißt, wie verschwindend gering die Versagerquote bei diesen Geräten ist. Statistisch gesehen haben drei von tausend Geräten in hundert Jahren ..."

"Ja, ja", unterbrach Clarissa, "das mag ja alles sein. Hast du eine andere Erklärung?"

"Nun, ich wüßte zwar nicht, womit das alles zusammenhängen könnte. Doch angesichts dessen, daß es schon einem Wunder gleichkommt, daß wir überhaupt so weit gekommen sind, ohne geschnappt zu werden, würde ich annehmen, daß der Impulsgeber keine Impulse mehr aussenden soll."

"Was?? Du meinst, daß uns jemand hilft? Was bist du doch für ein Träumer!"

"Das habe ich nicht gesagt", entgegnete Sergio. "Ich sage nur, daß die Wahrscheinlichkeit eines technischen Versagers bei diesen Geräten verschwindend gering ist. Ich kann nicht einmal ausschließen, daß es nicht doch am Meßgerät liegt - es zeigt beim besten Willen keine Impulse an."

"Dann laß' uns doch weitermachen wie geplant", schlug Clarissa vor. "Wenn wir hier noch länger stehen und spekulieren, verlieren wir nur Zeit."

Sergio sah auf die Uhr. "Du hast recht. Gehen wir einfach davon aus, daß dieser Wagen keine Impulse mehr aussendet. Wenn sich das als Irrtum herausstellen sollte, haben wir eben Pech gehabt." Er holte einmal tief Luft. "Drück' mir bloß die Daumen, daß die Anlagen noch so bestehen, wie wir sie damals gebaut haben. Wenn nicht, war alles umsonst."

Clarissa lächelte, obwohl ihr noch immer nicht danach zumute war. "Wenn alle Stricke reißen, haben wir immer noch die Kapseln", sagte sie mit tonloser Stimme.

Sergio runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Er erinnerte sich nicht gern daran, daß Clarissa kurz vor ihrer überstürzten Flucht aus Corina zwei Kapseln Brymol besorgt hatte, Giftkapseln also, mit denen sie sich binnen weniger Minuten töten konnten. Nur widerstrebend hatte er seine eingesteckt, er war sich dabei über seine Gefühle nicht ganz im klaren gewesen. Möglich, daß in seinem Unwillen eine Prise Eifersucht enthalten war; schließlich hatte Clarissa den Chemiker, von dem sie diese Kapseln - illegal natürlich - erhalten hatte, einmal gut gekannt, für Sergios Geschmack viel zu gut.

Ohne zu zögern, fuhr Clarissa los. Noch immer war genug Benzin im Tank, um die Demarkationslinie zu erreichen, das zumindest war kein Problem. Die Italienerin spürte Sergios Anspannung und versuchte noch einmal, den Druck zu mildern, der auf ihm lasten mußte - schließlich würde die nächste Stunde über Leben und Tod entscheiden. "Sieh es doch mal so", murmelte sie. "Wir können alles gewinnen, haben aber nichts zu verlieren."

Sergio lächelte schief. "Gib dir keine Mühe. Ich weiß ja, daß du mir Mut machen willst. Aber manchmal frage ich mich, was uns da drüben erwartet - wenn es uns denn gelingt, die Sperren zu durchbrechen. Vielleicht wäre doch ein schnelles Ende das beste."

Clarissa wußte nichts zu entgegnen, denn mit diesen Worten traf Sergio ihrer Meinung nach voll ins Schwarze. Es berührte sie eigentümlich, daß ihr Mann ihre Befürchtungen auf einmal teilte, denn bislang war sie es gewesen, die immer wieder ihre Zweifel an einem besseren `Drüben' zum Ausdruck brachte. Ohnehin war bei der Frage, wie es in der Hungerzone tatsächlich aussieht, den wildesten Spekulationen Tür und Tor geöffnet, denn seit der hermetischen Abriegelung bei der Errichtung der hochenergetisch gesicherten Demarkationsanlagen vor nun 15 Jahren wurde in den Medien über diese Zone, die immerhin die überwiegende Fläche der Erde umfaßte, schlichtweg nicht mehr berichtet.

"Sag mal, Sergio", hakte Clarissa, der der scheinbar plötzliche Meinungsumschwung ihres Mannes zu denken gab, mit leiser Stimme nach. "Hast du damals im Arbeitscamp vielleicht auch Gerüchte über die andere Seite gehört, die du bislang nicht erwähnenswert fandest?"

Der leise Spott in ihrer Stimme war, zumindest nach ihrem eigenen Empfinden, unüberhörbar, doch Sergio zog es wieder einmal vor, diese indirekte Kritik zu ignorieren.

"Na ja, wenn du mich so fragst ...", begann er, sichtlich unzufrieden über diese erneute Unterbrechung. "Du weißt doch, wie das in solchen Arbeitscamps ist. Im Winter sind die Abende lang, da wird viel erzählt, und da blühen solche Geschichten."

"Was für Geschichten?" wollte sie wissen.

"Daß es in der Hungerzone keine Nahrung mehr gäbe, vor allem keinerlei Landwirtschaft. Der Boden wäre so verdörrt, daß nichts mehr wächst. Tiere gäbe es auch nicht, höchstens vielleicht Schlangen, Wüstenratten oder Schakale. Wenn überhaupt, ist nur noch eine Handvoll Menschen am Leben, und ..." Hier zögerte Sergio noch einmal und fuhr fort, als Clarissa ihn fragend ansah. "Manche erzählten, drüben gäbe es Kannibalen. Und daß die letzten Überlebenden Krieg führten um jeden Liter Wasser."

Einen Moment lang herrschte Schweigen, während sie in Richtung Norden weiterfuhren. Überall bot sich ihnen hier das gleiche Bild, von einer Landschaft konnte kaum noch die Rede sein.

"Warum hast du mir das nicht erzählt, als es darum ging, ob wir versuchen wollten, in die Dürrezone zu fliehen?"

"Warum sagst du das so vorwurfsvoll?" fragte Sergio zurück. "Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, daß es völlig unabsehbar ist, was wir da drüben vorfinden werden. Wir waren uns doch darüber einig, daß es für uns auf dieser Seite keine Möglichkeit mehr gibt."

"Ich frage mich nur, wie solche Geschichten zustandekommen", fuhr Clarissa fort. "Es hieß doch immer, daß kein Mensch die Grenzen je überquert hätte, selbst damals nicht, als die Bauarbeiten noch nicht fertiggestellt waren."

"Offiziell jedenfalls nicht", pflichtete er ihr bei. "Wenn du schon annimmst, daß in diesem Gerede ein wahrer Kern enthalten ist, wird dich vielleicht noch etwas interessieren. Die alten Frauen in der Küche, ich glaube, es waren Polinnen, erzählten von sogenannten Grenzgängern. Das waren richtig unheimliche Geschichten damals, das kannst du mir glauben. Diesen Leuten, aber bitte, das darfst du nicht für bare Münze nehmen, schienen der Minenstreifen und später die hochenergetischen Sperrfelder nichts auszumachen. Die Alten behaupteten, es gäbe Wesen in menschlicher Gestalt, die die Grenzen beliebig durchqueren könnten."

"Und? Ist da was dran? Hast du je so jemanden gesehen?"

"Nein", antwortete Sergio bedächtig. "Und darüber bin ich ehrlich gesagt auch ganz froh. Denn es hieß, daß diese Menschen, die immer nur allein auftauchten, den Tod bringen würden."

Clarissa verzichtete darauf, ihren Mann auf den logischen Bruch aufmerksam zu machen, der in seinen letzten Sätzen enthalten war. Wenn es so wäre - wie er sie wohl glauben machen wollte -, daß an diesen Geschichten nichts dran sei, warum in drei Teufels Namen war er dann froh, niemals einem dieser `Wiedergänger' begegnet zu sein?


*


Jack Clifton zog die Stirn kraus. Noch immer - und seit der letzten Überprüfung waren schon wieder Stunden vergangen - lag keine Vollzugmeldung von Mike Rosefield vor. Wo steckte der Kerl eigentlich, und warum hatte er die Lampurtinis immer noch nicht erledigt? Als der Koordinator die entsprechenden Daten von Xavier, der zentralen, nur ihm zur Verfügung stehenden Recheneinheit des Sicherheitssystems, abfragte, zischte er leise durch die Zähne. Durfte das denn wahr sein? Sollten diesen beiden eigentlich recht harmlosen Italiener seinen besten Mann ausgetrickst haben?

An den Fakten gab es nichts zu rütteln: Seit zwanzig Minuten sendete der von den Lampurtinis gestohlene Alfa Romeo keine Impulse mehr aus. Der Headhunter befand sich ca. 20 Kilometer vom letzten Aufenthaltsort seiner Zielpersonen entfernt. Wo die beiden Italiener inzwischen steckten, konnte der Koordinator nicht ermitteln - sie waren der `lückenlosen' Überwachung durch die Lappen gegangen. Ein untragbarer Zustand! Zudem hatte sich der Headhunter noch immer nicht in Bewegung gesetzt, seit über einer Stunde kamen die Impulse seines Wagens aus einer kleinen Ortschaft namens Bretow. Jack Clifton konnte sich auf diese merkwürdigen Umstände keinen Reim machen, und nichts war ihm so sehr verhaßt wie undurchschaubare Zusammenhänge.

Der Koordinator erhob sich von seinem Schreibtisch und ging in seinem geräumigen Büro nervös auf und ab. Keine Frage, bei diesem Auftrag lief nichts, aber auch rein gar nichts, `wie am Schnürchen', und das konnte nicht länger geduldet werden. Doch was aber war zu tun? Sollte er mit Mike Kontakt aufnehmen? Jack blieb unschlüssig stehen und sah aus dem Fenster, ohne die Silhouette der Brüsseler Innenstadt überhaupt wahrzunehmen. Wie immer, wenn er nicht weiter wußte, wünschte er sich einen Berater herbei - doch sein Job brachte es nun einmal mit sich, daß er niemals einen anderen Menschen ins Vertrauen ziehen durfte. Andererseits war er auch niemandem Rechenschaft schuldig; er hatte, wenn man so will, keinen Chef.

Die Vorstellung, direkt mit Mike Rosefield zu sprechen, und sei es via abhörgeschütztem Hochenergiefunk, behagte dem obersten Kontrollbeamten der Verwaltungsregion Beta-Nord gar nicht. Er wollte diese Leute nur von weitem dirigieren, sie waren für ihn Marionetten, an deren Fäden er zog. Solche Figuren brauchten nichts von dem zu wissen, der sie tanzen ließ! Daß es für Jack gute Gründe gab, gerade um Mike Rosefield einen weiten Bogen zu machen, war ihm nach all den Jahren nicht einmal mehr bewußt. Dieser Jäger war einer der wenigen Headhunter, die dem Koordinator jemals von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatten.

Mit einem Ruck wandte Jack sich um und ging zielstrebigen Schrittes auf seine Konsole zu. Wenige Handgriffe nur, und er hatte eine Null-Level-Verbindung zu Mikes Wagen hergestellt. Wenn der Headhunter nicht gerade unterwegs war, müßte er sich jetzt melden ...

"Hier HY-C05. Wer ist'n da?" Mikes Stimme klang ganz eindeutig verschlafen. Jack Clifton war perplex - und so irritiert, daß er gar nicht daran dachte, den Stimmverzerrer zu aktivieren.

"Zentrale 25-DX. Gibt's Probleme?" Die Bemühungen des Koordinators, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen, waren vergeblich. Nach seinem Dafürhalten war es grundsätzlich ein Fehler, irgendeine menschliche Regung zu zeigen - und das galt erst recht für den Umgang mit Headhuntern.

"Nö." Ganz offensichtlich war Mike Rosefield an einem Gespräch mit ihm nicht interessiert.

"Dann möchte ich wissen, wieso Sie die Ausführung Ihres Auftrags derartig verzögern. In meinen Augen grenzt das an Sabotage", ließ sich der Koordinator vernehmen, und nun strahlte seine Stimme die nüchterne Kälte aus, die er für angemessen hielt.

"Verzögern? Wenn Ihnen meine Arbeitsweise nicht paßt, können Sie mir ja kündigen." Der Headhunter gab sich nicht einmal die Mühe, seine bisherige Erfolglosigkeit zu erklären; Jack fühlte sich schlichtweg nicht ernstgenommen.

"Sie wissen ganz genau, daß es in diesem Geschäft keine Kündigung gibt. Ich gebe Ihnen noch drei Stunden. Haben Sie wenigstens eine Ahnung, wo die Zielpersonen zur Zeit stecken?"

Der Koordinator registrierte sehr wohl die kleine Verzögerung, bevor der Headhunter antwortete. "Kümmern Sie sich um Ihre Arbeit, dann erledige ich meine."

Jack Clifton hegte nicht den geringsten Zweifel daran, daß Mike in diesem Moment ebensowenig wußte, wo die Lampurtinis abgeblieben waren. Was war bloß los mit diesem Kerl? Sollte er nach all den Jahren, in denen er hervorragende Arbeit geleistet hatte, nun plötzlich versagen? Wie konnte das angehen? Diese plötzliche Konfrontation mit einem derartig eklatanten Fall von Insubordination brachte sein Blut in Wallung. Was fiel diesem Typen, den er vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, eigentlich ein?

"Ich glaub', mein Schwein pfeift! Du hast wohl vergessen, mit wem du es zu tun hast!" brach es aus ihm heraus. "Wenn die Lampurtinis in drei Stunden noch leben, bist DU ein toter Mann!"

Bevor Jack Clifton noch einmal Luft holen oder etwas sagen konnte, hatte der Headhunter die Verbindung bereits unterbrochen. Der Koordinator starrte auf die Sprechmuschel seines Kommunikators, so als könne sie ihm Antwort auf seine Fragen geben. `Warum habe ich mich nur so gehenlassen?' grübelte er, unzufrieden mit sich und dem Verlauf der Dinge.


*


Mike lehnte sich in seinem Sessel zurück und gähnte, dann nahm er einen kräftigen Schluck `Bloody Mary'. Allmählich wäre der Zeitpunkt für ein kräftiges Frühstück gekommen, doch außer recht geschmacklosen Konzentratwürfeln hatte der Headhunter nichts dabei. Ein wenig wunderte es ihn schon, daß ihn sein sonstiges Jagdfieber diesmal so kräftig im Stich ließ. Ein Blick auf die Instrumente hatte ihn noch während des Funkkontakts mit der Zentrale darüber in Kenntnis gesetzt, daß der gestohlene Wagen, mit dem die Lampurtinis zur Zeit unterwegs waren, keine Impulse mehr aussendete. Sollte es diesem verflixten Italiener tatsächlich gelungen sein, seine Spur zu verwischen?

Mike setzte sich auf und betätigte die Startautomatik seines Ferraris. Innerhalb von zehn Minuten würde er den ihm zuletzt bekannten Aufenthaltsort der Lampurtinis, eine kleine Ortschaft namens Plenkow in knapp 30 Kilometer Entfernung, erreicht haben. Wenn die Gegend dort ebenso gottverlassen war wie hier - und den Angaben des geographischen Informationsystems war nichts anderes zu entnehmen -, würde er mit Hilfe seines Infrarot- Restlichtverstärkers die Fährte der Gesuchten aufnehmen können. Ihr bisheriges Verhalten deutete darauf hin, und Mike war sich dessen ziemlich sicher, daß sie an der nahegelegenen Demarkationslinie eines der vielen Hochenergie-Aggregate ansteuern würden.

Als der Ferrari die Schnellstraße erreicht hatte, beschleunigte Mike, inzwischen mit manueller Steuerung, auf annähernd 230 km/h. Zehn Sekunden später hatte der Wagen die Höchstgeschwindigkeit erreicht. In diesem Moment, als seine Aufmerksamkeit voll beansprucht wurde, schoß dem Headhunter eine Formulierung durch den Kopf, die der Koordinator soeben verwendet hatte. Wie hatte er doch gleich gesagt? "Ich glaub', mein Schwein pfeift"? Mike trat auf die Bremsen. Die Beharrungskräfte waren so stark, daß ein leises Summen das Einsetzen der Andruckabsorber anzeigte. Wäre auf der Straße ein Fahrzeug hinter ihm gewesen, es hätte unweigerlich einen Zusammenprall gegeben. Doch Mike nahm von all dem nichts wahr; mit mechanischen Handgriffen fuhr er an den Straßenrand und würgte den Motor ab.

Irgendwann hatte er diese eigentümlich-antiquierte Formulierung schon einmal gehört, und er wollte unbedingt, sofort und auf der Stelle wissen, bei welcher Gelegenheit das gewesen war. Mike grübelte und grübelte - und dann, als er mit einem Schlag die Szene wieder vor sich sah, in der er genau diese Worte schon gehört hatte, erlebte er einen Erinnerungs-Flash von nie gekannter Intensität. Der Begriff `Déjà-vu', in seinen Augen ohnehin eine psychologische Phrase übelster Machart, hatte nicht die geringste Verwandschaft mit dem, was der Headhunter jetzt durchlitt - es war, als müßte er den Tod seiner Frau noch einmal mitansehen.


*


"Gib mir mal das Kabel rüber", rief Sergio Clarissa zu. "Ich muß hier noch eine Überbrückung bauen, sonst gibt's gleich einen Kurzen."

Sergio Lampurtini hatte die Verkleidung eines der versiegelten Hochenergieaggregate geöffnet, die sich im Abstand von zehn Kilometern an der Demarkationsgrenze befanden. Er war darüber sehr erleichtert, wollte es sich ihr gegenüber jedoch nicht anmerken lassen. Schließlich hatte er nicht wissen können, ob die Sicherungsschaltungen noch dieselben waren wie damals. Wenn nicht, hätte es eine hochenergetische Entladung gegeben, die sie beide sofort getötet hätte. Sergio wischte sich den Schweiß von der kalten Stirn - so müssen sich im letzten Jahrhundert Sprengmeister und Bombenentschärfer gefühlt haben, wenn sie nicht wußten, welches Kabel das richtige war.

Er konnte Clarissa natürlich nichts vormachen; sie gab sich ebenfalls den Anschein, als wäre es das Einfachste von der Welt, sich an solch einem Aggregat zu schaffen zu machen.

"Das Problem wird sein", hob Sergio an zu erklären, "eine zeitliche Überschneidung zu vermeiden. Wird der Hauptstromkreis an irgendeiner Stelle unterbrochen, sendet die nächstliegende Relaisstation einen Alarm-Impuls an die Zentrale aus. Automatisch werden dann in dem betreffenden Streckenabschnitt Sperrfeuer aktiviert und Minenfelder zur Explosion gebracht. Die Konstrukteure gingen damals davon aus, daß jede Unterbrechung der Stromversorgung auf einem Sabotageakt oder Fluchtversuch basieren würde. Parallel dazu wird ein Notstromnetz aktiviert, das die hochenergetischen Sperrfelder, wenn auch mit geringerer Leistung, sofort reaktiviert.

"Und wie", fragte Clarissa seelenruhig, "stellst du dir dann vor, daß wir da lebend rüberkommen könnten?"

"Nun, garantieren kann ich das natürlich nicht, das habe ich ja auch nie behauptet", entgegnete Sergio mit einem scharfen Unterton in der Stimme. Er hielt einen Moment inne, räusperte sich und fuhr dann, nun wieder etwas ruhiger, fort: "Unser Vorteil liegt darin, daß ich diese hochenergetischen Alarmanlagen mitkonstruiert habe, und deshalb weiß ich auch, wie ich bestimmte Funktionen deaktivieren kann - vorausgesetzt natürlich, daß nachträglich keine wesentlichen Änderungen an diesen Anlagen vorgenommen wurden. Um heil nach drüben zu kommen, müssen wir die Stromzufuhr im Hauptenergiesystem lahmlegen, dann den Alarm- Impuls zur Aktivierung der Minenfelder und Sperrfeuer abkappen und schließlich noch die Notstromversorgung unterbrechen. Selbst wenn uns das gelänge, bliebe, wie du weißt, nicht viel Zeit, denn wir müßten die zwei Kilometer durch den Todesstreifen zu Fuß zurücklegen - und in der Zeit kann viel passieren. Was zum Beispiel willst du auf freier Strecke tun, wenn sie mit Hubschraubern kommen?

Ich werde nicht verhindern können, daß die Sicherheitszentrale den Ausfall der Hauptversorgung registriert und für diese Region Alarm gibt. Soweit ich weiß, gibt es in solchen Fällen keine Abfrageroutinen, die automatisch kontrollieren, ob die sekundären Grenzsicherungen - ich sprech' jetzt von den konventionellen Sperrfeuern und Minenfeldern - auch wirklich aktiv werden. Doch ausschließen kann ich so etwas nicht, und das könnte unser Ende bedeuten. Mein Plan beruht darauf, die Verbindung zwischen den Kontrollsensoren der Sekundäranlagen und dem Alarmsystem zu unterbrechen. Unsere einzige Chance besteht darin, daß die Verantwortlichen sich auf die Sekundärsicherung verlassen und deshalb denken, daß da ohnehin keiner lebend durchkommen kann."

"Kannst du dich eigentlich auf das konzentrieren, was du da tust?" fragte Clarissa ihren Mann, der währenddessen an den Schaltungen weitergearbeitet hatte.

"Ja, ja, natürlich. Die Vorbereitungen sind zwar recht umfangreich, doch für mich ist das alles Routine. Und noch ist es auch ganz ungefährlich." Sergio machte eine kurze Pause und sah Clarissa verschmitzt lächelnd an.

"In zehn Minuten etwa bin ich soweit. Ich erklär' dir jetzt genau, was du dann tun mußt, denn ich kann mit der Überbrückungsschaltung den Alarmimpuls nur für 20 Sekunden unterdrücken. In dieser Zeitspanne mußt du diesen Signalgeber anschließen, der dann für mindestens eine Stunde der Alarmautomatik die Daten liefern wird, die ihr einen ordnungsgemäßen Ablauf vortäuschen. So können wir die Aktivierung der Sekundäranlagen unterbinden."

"Eine Stunde? Das ist doch eine lange Zeit!" fragte Clarissa erstaunt. "Ich hatte dich so verstanden, als ließe sich die Unterbrechung der Hauptstromversorgung nicht verheimlichen."

"Das ist richtig, was das Sicherungssystem der Gesamtanlagen betrifft. Wir können lediglich die Reaktion vor Ort ausschalten. Alles klar? Ich zeig' dir jetzt, wo du die Klemmen ansetzen mußt, wenn ich dir das Zeichen gegeben habe. Das ist eigentlich kinderleicht ..." Und Sergio fing an, Clarissa die entsprechenden Handgriffe zu zeigen. In diesem Moment dachte sie nicht mehr daran, wie fremd er ihr noch vor kurzem erschienen war. Auch die Frage, was sie auf der anderen Seite der Demarkationslinien vorfinden würden, hatte sie weit von sich geschoben, denn nun ging es einzig und allein darum, Sergios aberwitzigen Plan in die Tat umzusetzen.


*


Fünf Jahre nach seiner Anwerbung, wenn man das denn so nennen wollte, hatte Mike sich längst an seine Tätigkeit als Headhunter gewöhnt und eine Vielzahl solcher Aufträge erledigt. Er hatte es längst aufgegeben, sie zu zählen oder über das Warum nachzudenken. Diese `Arbeit' unterschied sich nicht wesentlich von seinem früheren Leben als Soldat in einer Spezialeinheit der Aufstandsbekämpfungstruppen - wenn man einmal davon absieht, daß er nun immer allein und sozusagen `im Geheimen' tätig war.

Der wesentlichste Unterschied bestand allerdings darin, daß die Opfer in der Regel Bürger der Verwaltungsregion Nord-Beta waren, die spurlos und auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Im Gegensatz zu den Einsätzen, der er als Soldat vor allem in Afrika zu befehligen hatte, ging es hier jedoch nicht um `Mengenbewältigung', wie es im Jargon der Militärbürokratie zynisch umschrieben wurde. Angesichts dessen, wieviele Menschen ohnehin in der Nord-Region verschwanden, wo auch schon ganze Landstriche verwaist waren, konnte seine Arbeit quantitativ nicht von Bedeutung sein. Die Verhältnisse im Norden näherten sich denen in der sogenannten Todeszone in zunehmendem Maße an.

Mike Rosefield hatte Mittel und Wege gefunden - schließlich standen ihm umfangreiche Informationen über jede seiner Zielpersonen zur Verfügung -, um sich einen Reim darauf zu machen, was es mit diesen verdeckten Liquidierungen auf sich hatte, die parallel zur Mengenbewältigungsmaschinerie der offiziellen Verwaltungsbehörden abliefen. Auf einen kurzen Nenner gebracht waren die Zielpersonen seiner Aufträge Menschen, die nach den ehernen Kriterien des Zentralen Sicherheitssystems eine Gefährdung eben dieses Systems darstellten oder hätten darstellen können.

Zu Mikes Arbeit als Headhunter gehörte seit einigen Jahren eine Legende, wie sie normaler und unauffälliger kaum sein konnte: Er war Handelsvertreter einer großen Brüsseler Immobilienfirma und lebte im belgischen Gent. Diese Legende ermöglichte ihm ein Höchstmaß an Eigeninitiative, er konnte schlichtweg tun und lassen, was er wollte - solange er die ihm zugeteilten Aufträge unverzögert und ohne Spuren zu hinterlassen erledigte. Oft war er wochen- und monatelang nicht in seiner Genter Wohnung, zumal dann nicht, wenn ihn seine Arbeit `im Dienste der internationalen Sicherheit' in die Dürrezone verschlug.

Mike hatte, wie es so schön hieß, `mit dem Leben abgeschlossen', deshalb war es ihm auch egal, womit er sein Geld - er blieb auch nach Abschaffung direkter Zahlungsmittel bei diesem Sprachgebrauch - verdiente. Als er dann im November 2003 in einem Genter Supermarkt eine Frau kennenlernte, die sich durch seine düstere Art nicht im mindesten beeindrucken ließ, entwickelte er Gefühle, derer er sich nicht mehr für fähig gehalten hatte. Fast wider besseren Wissens ließ er sich, in konsequenter Ergänzung seiner Pseudo-Identität, sogar auf eine Ehe mit Darja Woytilowa, einer Exil-Russin, ein. Sie fragte nicht viel nach seinem Woher und Wohin; sie wußte lediglich, daß er früher Soldat gewesen und dann seinen jetzigen Beruf ergriffen hatte. Ihr Zusammenleben, das in unregelmäßigen Abständen durch seine mehr oder minder langen Reisen unterbrochen wurde, entwickelte sich mit einer eigentümlichen Dynamik. Darjas herbes Wesen - sie neigte nicht im mindesten zu emotionalen Ausbrüchen - machte es Mike leicht, sein Doppelleben nicht einmal als solches zu empfinden.

Als er dann, nach anderthalb Jahren, ihren Tod mitansehen mußte, war es mit der trügerischen Idylle seines quasi-normalen Lebens endgültig vorbei. Ohne jede Vorwarnung war Darja ermordet worden, und der Schmerz darüber fraß sich tief in seine längst verlorengeglaubte Seele. Mehr noch, all seine Bemühungen, ihre Mörder zur Verantwortung zu ziehen, verliefen im Sande. Mit eiskalter Wut ging er seiner Arbeit nach; er erledigte seine Aufträge rigoroser und unbarmherziger denn je, denn mit Darja war der letzte Rest Menschlichkeit in ihm gestorben. Über ihre Vergangenheit hatte er ebensowenig gewußt wie sie von seiner, doch daß sie aus demselben Holz geschnitzt war wie er, hatte sich eines Tages herausgestellt.

(Ende des 6. Teils)


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Während der Headhunter mehr und mehr von quälenden Erinnerungen heimgesucht wird, geht es für die Lampurtinis bald ums Ganze: Der Übergang in die Todeszone steht unmittelbar bevor. Daß sie ihren Verfolger damit nicht abschütteln werden, können sie nicht ahnen. Die Geduld des Koordinators, ihre Liquidierung durch Mike Rosefield abzuwarten, ist zudem bald erschöpft.

Lesen Sie weiter in der nächsten Headhunter-Folge: Teil 7: Alles oder nichts


Erstveröffentlichung am 30. Januar 1996

29. Dezember 2006