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PLATTDÜÜTSCH/065: "Ünner de Melkwohld" - Hörspielbesprechung (SB)


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Platt vom Feinsten: Ünner de Melkwohld


Es gibt nicht wenige, die Platt mit platt gleichsetzen. Für sie taugt die niederdeutsche Sprache zu kaum mehr als der Verständigung zwischen wortkargen Bauern oder Fischern, die ihre Gespräche in dieser an Stürmen reichen Gegend auf knappe, möglichst einsilbige Laute reduzieren. Diese dann auch noch literarisch zu verarbeiten, bedeutet dementsprechend, den Leser mit volkstümlich derbem Schnack zu unterhalten oder mit den obligatorischen Döntjes, ein Wort, das von 'dröhnen' abstammt.

Daß Plattdeutsch viel mehr zu bieten hat, wissen alle, die sich näher mit dieser Sprache beschäftigen oder noch zu jenen gehören, die sie von Haus aus sprechen. Einen weiteren Beweis dafür liefert das von Radio Bremen und dem NDR 2006 produzierte Hörspiel 'Ünner de Melkwohld' unter Regie von Hans Helge Ott, eine Übersetzung von 'Under Milk Wood' des walisischen Dichters und Schriftstellers Dylan Thomas. Im Sommer 2015 gab es diesen Hörgenuß ein weiteres Mal in vielen norddeutschen Radiosendern - ein regelrechtes Kleinod unter den niederdeutschen Hörspielen, das einem Vergleich mit dem erfolgreichen und preisgekrönten Original von 1954 nicht zu scheuen braucht.

Eigentlich ist es eine Bilderbuchidylle: Über ein kleines, im Schatten eines Waldes gelegenen Küstenstädtchen hat sich die dunkle Decke der Nacht gelegt. Alles schläft. Es ist still. Still? Keineswegs. Der Hörer wird quasi an die Hand genommen und hineingeführt in diese dunkle und doch so farbenfrohe Welt. Denn trotz nachtschlafender Zeit ist alles voller Leben. Als klammheimlicher Beobachter beschreitet er die kopfsteinpflasternen Straßen, lugt in die Fenster, sieht unruhig Wachende oder wirr Träumende in ihren Betten, die Kleidung des Tages sorgfältig über den Stuhl gehängt, an der Wand züchtig die christlichen Gebote 'Du sollst nicht...' - und dringt schließlich sogar in die Köpfe der Leute vor ...

Kumm näher nu. [...] Blots du kannst in de blindmookt Sloopkomern sehn. Dat Ünnertüüch un Ünnerröck op de Stöhl. De Waterkröögen un Waschbötten. De Glöös mit de Teen. Dat 'Du schass nich...' an de Wand un de verschoten "Kiek, hier kummt de Vogel"- Biller vun de Dooden. Blots du kannst achter de Minschen eer Oogen hörn un sehn. Dat Hin un Her un Binn' un Buten, un sick Verloten- un Nich-glööven-Köön, un Regenbogens un Melodien un Wünschen, un Fleegen un Falln un Nich-wieder-Weeten. Un de grooten Swall vun jüm eer Drööm. Vun dor, 'nem du steihst, kannst du jüm eer Drööm hörn...

Daß diese Übersetzung so gut gelang, ist umso bemerkenswerter, da sich Geschichten im allgemeinen, und 'Under Milk Wood' mit seinen zahlreichen Metaphern und Assoziationen im besonderen, sprachlich nie eins zu eins übertragen lassen, sondern der Inhalt mitsamt Lebensgefühl, der Mentalität der Menschen und der Charakteristik des Ortes übertragen und in diesem Fall dabei auch noch die zeitliche Distanz von einem halben Jahrhundert berücksichtigt werden muß.

Und hier prallen die Gegensätze nur so aufeinander. Sagt man etwa den Walisern nach, sie seinen nervöse, leicht reizbare, redselige Gesellen, gelten die Norddeutschen als ein sturer, wortkarger, nicht aus der Ruhe zu bringender Menschenschlag. Und ließ sich Dylan Thomas damals von der schroff-felsigen walisischen Landschaft seiner Heimat inspirieren, soll sich der Hörer beim niederdeutschen Äquivalent einen kleinen verschlafenen Ort an der Nordseeküste vorstellen.

Das renommierte Übersetzergespann Hartmut Cyriacks und Peter Nissen hat sich an diesen schwierigen Stoff herangewagt und bei aller Verschiedenheit das Gemeinsame herausgearbeitet: Über ein Küstendorf an der "fischerbootwüppen See" hat sich die dunkle Decke der "bibelswatten, kreihenswatten" Nacht gelegt. De Höker, de Scholmeester, de Kuhlengräver un Snieder offenbaren dem Hörer hier auf typisch norddeutsch charmante Weise die ganze Bandbreite des sozialen Miteinanders.

Es ist eine Schilderung voller kreativer Wortschöpfungen, denen man am besten folgt, läßt man den Bildern, die dabei im Kopf entstehen, freien Lauf, ohne lange nach Logik und Bedeutungszusammenhang zu fragen. Schließlich sind hier größtenteils Träume beschrieben, und man weiß, sofern man sich an solche am nächsten morgen noch erinnert, sind sie oft wirr, wirken aber währenddessen bei aller Absurdität folgerichtig und "völlig normal". Auch kann der Hörer teilhaben an Gesprächen und Gedanken, die im Traum vielleicht skurril anmuten, oft aber ehrlicher und offener sind als vieles, das tagsüber hinter der Maske aus Anstand und guter Erziehung versteckt wird.

Eine Idylle im Sinne eines friedvollen Alltags einfacher Leute auf dem Lande entlarvt sich dabei alsbald als verklärende Außenbetrachtung, die sie eigentlich immer ist. Geht diese Distanz verloren, tritt offen allzu Menschliches zutage: Schuldgefühle, heimliche Sehnsüchte, gar Mordgelüste, die zänkische Gattin endlich für immer zum Schweigen zu bringen. Manchen lassen die längst verstorbenen Gestalten aus der Vergangenheit nicht los, etwa den blinden Kaptein Katt, der in der Koje schläft und Seemannslüüd aus seiner Vergangenheit trifft. Oder die Witwe Mrs. Ogmore-Pritchard, hier vernorddeutscht als Weetfru Osmos-Peters. Sie hat bereits zwei Ehemänner zu Grabe getragen, doch diese scharwenzeln noch immer um sie herum und tanzen auch im Traum - genauso wie einst zu Lebzeiten - nach ihrer Pfeife. Oder sind sie vielleicht als Geister tatsächlich zugegen?

Man lauscht dem Pastor, der gerade salbungsvoll ein Abendgedicht rezitiert; belauscht die nervtötende Ehefrau von Schoolmeester Poch, die ihn so sehr triezt, daß man seine Mordlust ('hier kummt dien Arsen, mien Söten, un dien E 605-Wittbroot' denkt er beim Servieren des Abendbrots) nur allzugut nachvollziehen kann, vernimmt den Singsang des leichten Mädchens Janne Hoosband, während sie über ihre Verflossenen sinniert, hört die meist verächtlichen Gedanken der Nachbarn untereinander und vieles mehr.

Die Idee, solcherlei Facetten bürgerlicher Doppelmoral zu schildern ist gewiß nicht neu, und man braucht normalerweise auch nicht einmal das eigene soziale Umfeld zu verlassen, um seine Neugier daran zu befriedigen. Nein, das besondere an Dylans Werk ist diese bildreiche Beschreibung dessen. In den Köpfen der Hörer werden die Figuren lebendig, sie trällern, jammern, zicken herum, baggern an 'un wat nich aans'. Diesem zu lauschen ist besonders in der plattdeutschen Version ein Genuß, wobei sich Nissen/Cyriacks gleichermaßen die dieser Sprache eigene Melodie als auch den im plattdeutschen vorhandenen Bildreichtum zunutze gemacht haben. Was in der hochdeutschen Übersetzung von Erich Fried schlicht Babys sind, sind hier die 'Tittkinner', die Prostituierte ist die 'Allmannsdeern' und der Briefträger wird auf dem Lande schmunzelnd der 'Postbüdel' genannt. Der Hörer kommt aus dem 'Smustergrien' kaum noch heraus, wenn Fru Osmos-Peters, diese 'püükfeine Huusfru', die mindestens einen ihrer beiden Ehemänner mit ihrer Putzsucht in den Wahnsinn getrieben hat, 'nu in eern blankspöölt Droom spaddelt', Janne Hoosband mit dem Tunichtgut Dedel Dagdeef 'den Dag verdödeln deit'; wenn 'de sünnig un sinnig vör sick hinlullern Nomeddach sick jappt un muult' und 'de See sick to Roh platscht un pladdert' ...

Daß dieses "Spiel für Stimmen", wie Dylan Thomas sein Hörspiel untertitelte, soviel Vergnügen bereitet, ist allerdings nicht nur Verdienst der Übersetzer, sondern auch der zahlreichen Stimmen, neben Schauspieler Walter Kreye als Erzähler von Mitgliedern des Ohnsorg-Theater-Ensembles gesprochen. Heidi Mahler, Jochen Schenck, Ursula Hinrichs, Peter Kaempfe, Heino Stichweh, Jasper Vogt, Sandra Keck und viele mehr sind es, die dem wilden nächtlichen Treiben mit mal lüsternen, mal boshaft keifenden, dann wieder naiven Tönen Leben einhauchen.

Und wenn schließlich das kleine Städtchen unter dem Milchwald erwacht, taucht auch der Hörer schlaftrunken wie aus einem Traum auf und muß sich erst wieder in der Wirklichkeit einfinden. Für eine Weile war er Teil dieses Ortes, welcher 'für Manny Ann Seefahrer, die weiß, daß der Himmel auf Erden ist [...], ein von Gott erbauter Garten ist, für die Knechte am Kirmesabend hingegen das wollüstige, unbedachte Bethaus voller Brautbetten und für Ehrwürden Eli Jenkins eine grünbelaubte Predigt von der Unschuld des Menschengeschlechts.'

Oder, auf plattdeutsch: 'Een Goorn, de Gott sülvs anleggt hett, denn se weet, dat givvt een Heben op de Eer, dat givvt een Sudden um't Land, dat Füer för de utwählte Vulk, de em liek sünd.' Für die Tagelöhner, 'de Daglöhners', ist sie nicht mehr als 'een bumsfideel Kark vull Brutbetten' und Paster Elias Jepsen sieht darin 'een gröön opbläddert Predigt över de Unschuld vun de Minschen'.

Vom Original 70 Minuten auf die heute bei Hörspielen üblichen gut 50 Minuten gekürzt, beschleicht einen denn am Ende fast schon so etwas wie Wehmut, wenn es viel zu schnell mit einem wunderbar poetischen 'De Wohld, de nu miteens von de Wind dat tweete düster Mol wookweiht ward an düssen een Vörjohrsdach' ausklingt ...

6. Oktober 2015


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