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PSYCHO/019: ... und tief ist sein Schein (19) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Ohne anderen Menschen zu begegnen, setzte Merle seinen Gang durch den abendstillen Park fort. Er war dem Seeufer gefolgt, obwohl dort keiner der breiten Spazierwege verlief, sondern nur ein schmaler, ausgetretener Pfad, der vorwiegend von spielenden Kindern benutzt wurde. In einer von schlanken Birken umstandenen Einbuchtung blieb Merle stehen, steckte sich eine neue Zigarette an und setzte sich dann kurzentschlossen ins trockene Ufergras.

Die Abendsonne färbte die weißen Birkenstämme rosarot und über dem Wasser summten die Mückenschwärme leise und monoton vor sich hin. Merle bließ Rauchringe in die Luft, die gemächlich in die Baumkronen stiegen. Die Ruhe und Beschaulichkeit der Umgebung fing an, ihn schläfrig zu machen. Zwar hatte er für die Schönheit der Natur ringsum keinen Blick, doch wußte er Plätze, die warm, trocken und zudem noch menschenleer waren, durchaus zu schätzen. Er lehnte sich an einen Baumstamm und döste vor sich hin. Nachdem er die Zigarettenkippe ins Wasser geschnippt hatte, wo sie mit empörtem Zischen verlosch, schlief er ein.

In seinem Traum befand er sich in dem alten Holzschuppen neben den Spülfeldern, und er war wieder der Junge von einst, der mit unmenschlicher Entschlossenheit ein grausames Ritual vollzog. Die Luft war wieder erfüllt von graugelblichem Qualm und dem übelkeiterregenden Gestank nach verbranntem Fell und verbranntem Fleisch. Mit versteinertem Gesicht warf Merle eine neue Ratte in den schwarzen Topf, der auf dem gekachelten Kohleofen stand. Alles schien genau wie damals. Nur war er diesmal nicht allein.

Direkt neben ihm stand Dämonenschmidt, sein Lehrmeister aus dem Erziehungsheim, in das er nicht lange nach der Begebenheit im Holzschuppen gebracht worden war. Hin und wieder nickte der verwachsene Mann anerkennend, wenn Merle trotz der schrillen Todesschreie der Tiere ohne zu zögern das nächste aus seinem Kasten nahm. So fuhr der Junge fort, das wenige, das ihm überhaupt etwas bedeutet hatte, auszubrennen wie faulendes Fleisch. Er glaubte fest daran: wenn die Wunden, die er sich beibrachte, geschlossen waren, würden nur gefühllose Narben zurückbleiben.

Merles Gesicht war im Schlaf verzerrt, während er noch einmal durchlebte, was er sich angetan hatte, um der Welt endlich gewachsen zu sein. Doch bevor er seine Lieblingsratte, die stummelschwänzige, die ihm damals entkommen war, aus ihrem Kasten nahm, geschah etwas Unvorhergesehenes. Sein Lehrer, der ihm bisher nur stumm und beifällig zugesehen hatte, zischte plötzlich verachtungsvoll: "Du machst einen Fehler, Merle. Du läßt sie mit Absicht entwischen. Du wirst schwach. Du läßt dich gehen." Er schaute Merle an, als habe dieser gerade ein gelungenes Kunstwerk verdorben.

Dann zeigte er bezichtigend mit dem Finger auf Merle, als wollte er ihn damit aufspießen. Wie eine Filmhandlung, die ungeachtet der Umstände weiterlief, holte Merle die stummelschwänzige Ratte aus ihrem Kasten hervor. Genau wie früher sah sie ihn mit ihren schwarzbraunen, klugen Augen vertrauensvoll an. Und wieder spürte Merle die Übelkeit in sich aufsteigen, weswegen er damals zur Tür hinausgestürzt war. Doch diesmal, unter Dämonenschmidts spöttischem Echsenblick, wurde ihm klar, daß er sich einfach nur gehenließ. Daß er einen Vorwand brauchte, es nicht tun zu müssen.

Er hatte bei jeder seiner Ratten dieselbe Qual verspürt, denselben brennenden Wunsch, seinem Gefühl nachzugeben und das Grauen zu beenden. Doch bei ihnen hatte er sich erbarmungslos darüber hinweggesetzt. Sein Lehrmeister hatte recht, bei der letzten Ratte war er schwach geworden. Er hatte sie mit Absicht entkommen lassen. Daher war er mit einem Makel behaftet, der sich durch nichts mehr beheben ließ. Denn er hatte durch sein einmaliges Nachgeben einen verletzlichen Punkt zurückbehalten. Einen Punkt, an dem er verwundbarer sein würde als jeder andere Mensch. Eine unerträglich schutzlose Stelle inmitten einer glatten Fläche der Unberührbarkeit.


*


Sübeydes Eltern hatten mit ihrer kleinen Tochter einen Ausflug zum Stadtpark unternommen, weil die Nationalgefühle, die bei einer Fußballweltmeisterschaft zelebriert wurden, ihnen zutiefst zuwider waren. Als Türken bekamen sie genug zu spüren, daß es für viele Leute hier immer noch minderwertige Rassen gab. Außerdem sollte die kleine Sübeyde nicht immer nur die grauen, trostlosen Hinterhöfe der Altstadt sehen, sondern sich an dem üppigen Grün des Parks, den blühenden Büschen und den Schwänen auf dem See erfreuen.

Voller Tatendrang verschwand Sübeyde immer wieder zwischen den Sträuchern, stöberte eine fortgeworfene, leere Geldbörse auf, fand eine ganze Familie rotbrauner Pilze mit breiten Schlapphüten und eine aufgeweichte Zigarettenschachtel, auf der eine dicke schwarze Schnecke saß. Sübeydes Mutter nahm die Entdeckungslust ihrer Tochter zum Anlaß, ihren Mann darauf hinzuweisen, wie klug das Mädchen war und daß sie später unbedingt eine höhere Schule besuchen müsse. Natürlich war er strikt dagegen, aber sie war zuversichtlich, ihn mit den Jahren überzeugen zu können. Schließlich war Sübeyde jetzt erst drei Jahre alt und die Zeit, die sie noch in Deutschland verbringen würden, hatte sicherlich einen mildernden Einfluß auf seine konservativen Ansichten.

Die große Rasenfläche am Seeufer lud zur Rast ein und Sübeydes Mutter breitete die Decke aus, die sie vorsorglich mitgenommen hatte. Während sie sich mit ihrem Mann darauf niederließ und beide sich immer mehr in ein Gespräch über Sinn oder Unsinn einer höheren Bildung für Frauen vertieften, schaute Sübeyde zunächst der alten Frau zu, die ganz in der Nähe die Schwäne fütterte. Dann lief sie am Ufer entlang und schaute unentwegt in das flache Wasser, denn dicht über dem schlammigbraunen Boden konnte man winzig kleine grausilbrige Fische entdecken, wenn man ganz genau hinsah. Sübeydes Mutter warf ab und zu einen Blick zur Tochter hinüber, aber sie wußte, daß der See sehr flach war und für das Kind keine ernste Gefahr darstellte.

Nachdem Sübeyde das Beobachten der kleinen Fische, die blitzartig davonschossen, sobald man mit seinem Stöckchen die Wasseroberfläche berührte, langweilig geworden war, entdeckte sie am Ende der Rasenfläche einen schmalen Pfad, der sich dicht am Ufer entlang zwischen Schilfgras und Bäumen hindurchwand. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß die Eltern immer noch auf der Decke saßen und sich angeregt unterhielten, machte sie sich auf, den geheimnisvolle Pfad zu erkunden. Ihr war vollkommen unbegreiflich, wie man angesichts der vielen Dinge, die es zu entdecken gab, lieber auf einer Decke sitzen und reden konnte.

In der weichfedernden Erde des Seeufers fand Sübeyde einen lachsroten Stein, in dem unzählige staubkorngroße Silberpünktchen glitzerten. Beglückt über den wertvollen Fund, hob sie ihn auf und steckte ihn in die Tasche ihres bunten Kleidchens, das sie immer trug, wenn sie sonntags mit dem Vater spazierengingen. In der Woche trug sie meistens Hosen, denn das sah der Vater nicht, der erst von der Arbeit kam, wenn sie schon schlief und bereits am Morgen in aller Frühe wieder das Haus verließ. Sübeyde wollte schon wieder umkehren, um den Eltern ihren Stein zu zeigen, als sie ein Stückchen weiter zwischen den Bäumen in den letzten Sonnenstrahlen etwas aufblitzen sah.

Sie lauschte einen Moment, ob die Mutter schon nach ihr rief, doch als sie nichts hörte, lief sie zu der Stelle hin, an der sie das Aufblinken gesehen hatte. Sübeyde war zunächst ein wenig enttäuscht, als sie sah, daß es die Armbanduhr eines Mannes gewesen war, der an einem Baumstamm lehnte und schlief. Doch dann musterte sie ihn ohne die geringste Scheu. Er hatte schwarzes Haar und dunkle Haut und sah eigentlich genauso aus wie die Onkel, die zu Besuch kamen, wenn der Vater zu Hause war und bei denen man die vertrauten Worten gebrauchen konnte, die auf der Straße keiner verstand. Der Vater war immer sehr stolz, wenn Sübeyde diesen Leuten, die oft ein wenig besorgt oder traurig dreinblickten, ein Lächeln entlocken konnte. Auch dieser Mann schien von etwas geplagt zu werden, denn er knirschte im Schlaf mit den Zähnen. Vielleicht hatte er einen bösen Traum. Mitleidsvoll trat Sübeyde vor ihn hin und zupfte ihn vorsichtig an der Jacke.


*


Ohne genau zu wissen, was ihn geweckt hatte, fuhr Merle erschrocken auf. Unverwandt sah er in ein braunes Kindergesicht, das von einem Paar großer, schwarzbrauner Augen beherrscht wurde, die ihn arglos forschend musterten.

"Hast du schlecht geträumt, Onkel?" fragte eine süße Stimme mit soviel echter Anteilnahme, wie Merle sie nie kennengelernt hatte. Mit starrem Blick schaute er in die dunklen, verständigen und doch so vertrauensvollen Augen hinein.

"Soll ich dir mal meinen Edelstein zeigen?" wollte Sübeyde zu dem Fremden, dessen Gesicht so seltsam reglos erschien, eine Brücke schlagen. Doch die völlig unvoreingenommene Art, mit der sie ihm Vertrauen entgegenbrachte, hatte eine verheerende Wirkung. Plötzlich explodierte in Merle ein Schmerz, der sein Innerstes zu zerreißen drohte. Wie die Summe all dessen, was er sich angetan hatte, nur um nichts mehr fühlen zu müssen, brach er über ihn herein. Innerhalb von Sekundenbruchteilen gab es für Merle nur noch die Entscheidung zwischen zwei Leben. Und er entschied sich für sein eigenes.


*


In einem unspektakulär kurzen Verfahren wurde Volker Götting alias Merle wegen Mordes zu lebenslangem Gewahrsam in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt verurteilt. Es war einer der wenigen Fälle, bei dem der zuständige Staatsanwalt bedauerte, daß man in diesem Land Steuergelder für psychiatrische Gutachter und nicht für Henker ausgab.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 2. September 1997

12. Februar 2007