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PSYCHO/021: ... und tief ist sein Schein (21) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Einen Tag nachdem Dr. Kalwin bei Dr. Egbrecht in der Praxis erschienen war und ihm von dem gescheiterten Versuch berichtet hatte, seine Gesichtsrose besprechen zu lassen, befand er sich wieder in seiner Wohnung. Dr. Egbrecht wollte für ihn auch außerhalb der Stadt Nachforschungen nach einer weiteren seriösen Adresse anstellen, was sich offenbar als nicht ganz einfach erwies. Den Vorschlag, er möge sich einstweilen in eine Spezialklinik einweisen lassen, hatte Dr. Kalwin barsch zurückgewiesen.

Als das Telefon klingelte, dachte er zunächst, es wäre Dr. Egbrecht, der ihm den Stand seiner Bemühungen mitteilen wollte. Doch es war Dr. Beck von Station E, der dort seine Vertretung übernommen hatte.

"Sagen Sie bitte gleich, wenn ich störe", begann der junge Neurologe ein wenig verlegen. "Aber Sie hatten ja gesagt, daß ich Sie anrufen kann, wenn ... ."

"Sicher", bemühte sich Dr. Kalwin, den Schmerz in seiner Stimme durch Wortkargheit zu verbergen. "Was gibt's?"

Dr. Beck schilderte ihm die widersprüchlichen Symptome, die plötzlich bei einem der älteren Patienten aufgetreten waren, der nun von Krämpfen geschüttelt wurde. In militärisch knappen Worten gab Dr. Kalwin ihm einige Ratschläge, was Dr. Beck jedoch nicht davon abhielt, eine persönlichere Ebene anzusteuern, denn dazu gab ihm sein Chef, seit er ihn mehr oder weniger gezwungen hatte, bei seiner letzten E- Schock-Behandlung zugegen zu sein, kaum noch Gelegenheit. Wahrscheinlich war er schon länger krank, als er zugab, hatte Dr. Beck vermutet.

"Darf man erfahren, was Ihnen fehlt? Ehrlich gesagt überrascht es mich nicht, daß Sie mal kürzer treten müssen. Sie sahen in letzter Zeit ziemlich mitgenommen aus. Ich dachte, es wäre der Streß."

Dr. Kalwin kam dieses Gesprächsthema zwar mehr als ungelegen, aber um sich die Qual vieler Worte zu ersparen, erwiderte er nur abweisend: "Zoster, oder in meinem Fall eine Gesichtsrose, falls Ihnen das etwas sagt."

"Und ob", entgegnete Dr. Beck erfreut darüber, daß sein Chef ihn ins Vertrauen gezogen hatte. "Während Ihres letzten Urlaubs hatten wir sogar hier auf Station einen solchen Fall. Es sah ziemlich schlimm aus, weil der Patient es wohl schon eine Weile für sich behalten hatte", berichtete er eifrig.

"Ach ja?" war Dr. Kalwins einziger Kommentar, obwohl er sich unter anderen Umständen darüber geärgert hätte, nicht informiert worden zu sein.

"Nun, der Fall löste sich innerhalb weniger Stunden sozusagen in Nichts auf", spielte Dr. Beck, dem erst jetzt wieder einfiel, daß sein Chef von der ganzen Sache nichts wußte, die Angelegenheit hastig herunter.

Damals hatte Preacher, als er zufällig von der Krankheit des anderen erfuhr, Dr. Beck angeboten, den Patienten zu heilen. Aus reiner Neugier hatte Dr. Beck eingewilligt, denn er war immer wieder fasziniert von dem großen Einfluß, den die Psyche auf den Körper besaß und daher durchaus offen für unkonventionelle Methoden. Und tatsächlich hatte Preacher, der den Betroffenen nur angesehen und ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, einen erstaunlichen Heilungsprozeß bei dem Mann ausgelöst. Aber weil Dr. Beck wußte, daß Dr. Kalwin derartigen Phänomenen äußerst skeptisch gegenüberstand und ihn ohnehin nicht ganz für voll nahm, hatte er es vorgezogen, die Angelegenheit stillschweigend auf sich beruhen zu lassen. Nun hatte sein Mitteilungsbedürfnis ihn wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht.

"Löste sich in Nichts auf?" drang es auch schon streng und fordernd an sein Ohr.

"Nun ja, nachdem der Patient mit Preacher, also mit Karsten Lerche, gesprochen hatte, war am selben Abend von der Rose kaum noch etwas zu erkennen. Weil ich keine plausible Erklärung dafür hatte, habe ich die Begebenheit als neurotische Störung angesehen und bald einfach vergessen. Mir fiel es nur gerade wieder ein, weil Sie ja sagten..."

"Ja, ja, schon gut", unterbrach Dr. Kalwin ihn brüsk. "Hatten Sie sonst noch Fragen?" Er schien an Weiterverfolgung der Angelegenheit nicht interessiert zu sein und Dr. Beck atmete erleichtert auf.

"Nein, das war alles. Vielen Dank für Ihren Rat. Ich werde den Pflegern gleich entsprechende Anweisungen geben."

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, saß Dr. Kalwin lange Zeit da, das schmerzende Gesicht in die Hände gestützt. Schließlich stand er abrupt auf, ging in sein Arbeitszimmer und studierte eine ganze Weile aufmerksam den Dienstplan von Station E. Dann ging er ins Badezimmer, nahm ein starkes Schmerzmittel, hinterließ bei der Sprechstundenhilfe von Dr. Egbrecht die Nachricht, daß er heute abend nach 22 Uhr nicht mehr zu sprechen sei und legte sich wieder hin.


*


Es war gegen 23 Uhr und auf Station E hatte Paul Kaminsky vor einer Stunde die Nachtwache übernommen. Dr. Beck, der zusätzlich zu seinem nächtlichen Bereitschaftsdienst auch noch die Frühschicht bewältigen mußte, hatte sich im Bereitschaftsraum für ein paar Stunden hingelegt. Kaminsky würde ihn wecken, wenn es notwendig war.

Paul Kaminsky saß im Pflegerzimmer, blätterte in einer Illustrierten und rauchte. Als Dr. Kalwin plötzlich vor ihm stand, riß er erschrocken die Füße vom Tisch.

"Dachte, Sie wären krank, Chef", stammelte der korpulente Mann erschrocken, der sein dunkles Haar so kurz trug, daß die Kopfhaut weißlich hindurchschimmerte.

"Deswegen muß ich ja nicht wimmernd im Bett herumliegen", entgegnete Dr. Kalwin schulterzuckend. Er hatte gerade so viele Medikamente eingenommen, daß er nicht allzu benebelt war, aber auch nicht vom Schmerz überwältigt werden konnte.

Kaminsky lachte anerkennend, denn er verabscheute wehleidige Männer. Er bewunderte seinen Stationschef und warb mit geradezu hündischer Ergebenheit um seine Gunst. Seit er einmal einen aufsässigen Patienten durch einen gezielten Faustschlag in den Magen dafür bestraft hatte, daß er Dr. Kalwin als Nazischwein bezeichnete, war er dessen Mann fürs Grobe geworden. Wenn der Stationschef Kaminsky rufen ließ und ihm sagte, er solle einen Patienten wieder zur Vernunft bringen, dann wußte Kaminsky, daß er kräftig hinlangen durfte, ohne sich um eventuelle Prellungen oder Blutergüsse Sorgen machen zu müssen.

"Dr. Beck rief mich heute wegen eines Patienten an", begann Dr. Kalwin beiläufig, sein Kommen zu erklären. "Ich gab ihm zwar ein paar Ratschläge, aber ich möchte mir den Fall lieber selbst noch einmal ansehen. Schließlich ist er kein Psychiater. Allerdings ist es bei mir doch etwas spät geworden."

"Sie wissen ja, daß die Zeit hier anders läuft, Chef. Aber Dr. Beck hat sich wie immer, wenn er auch die Frühschicht macht, vor 'ner halben Stunde hingelegt. Soll ich ihn mal wecken?" erbot sich Kaminsky beflissen.

"Nein, lassen Sie ihn ruhig schlafen. Er hat es nötig. Wenn ich ihn noch brauchen sollte, gebe ich Ihnen über die Gegensprechanlage Bescheid. Bringen Sie einstweilen Karsten Lerche in mein Büro. Einfache Handschellen genügen mir bei ihm."

"Logo", verfiel Kaminsky ungewollt in Straßenjargon, "so ein Hemd wie den rauchen Sie doch in der Pfeife."

Auf einen verweisenden Blick Dr. Kalwins hin fiel Kaminsky erst auf, daß er sich wohl in seiner Wortwahl vergriffen hatte. Ablenkend murmelte er: "Der Junge kam mir vorhin eigentlich ganz normal vor. Er faselte irgendwas von Nichtmehrwiederkehr, also das übliche schräge Zeug."

"Ich glaube kaum, daß Sie beurteilen können, ob nicht vielleicht eine Suizidgefährdung vorliegt", versetzte Dr. Kalwin ungerührt, woraufhin Kaminsky sofort den Kopf ein Stück zwischen die Schultern zog und kleinlaut zugab: "Natürlich nicht, ich bin ja kein Arzt."

"Eben", bestätigte Dr. Kalwin trocken und verlangte dann ungeduldig: Gehn Sie schon, Kaminsky, und bringen Sie ihn in mein Büro. Ich wollte hier nicht übernachten."

"Selbstverständlich, Herr Doktor", beeilte Kaminsky sich, dem Wunsch des Arztes nachzukommen. Natürlich wußte er, daß es gegen die Vorschrift war, ohne einen zweiten Pfleger einen Patienten aus der Zelle zu holen. Aber zum einen fühlte er sich Preacher gegenüber körperlich maßlos überlegen, zum anderen war er nicht so dumm, seinen Vorgesetzten auf die Vorschriften hinzuweisen. Wenn einer der Ärzte genau wußte, was er tat, dann war es seiner Meinung nach Dr. Kalwin.

"Hey, Preacher, du fauler Hund, aufstehen", rief er in den Raum hinein, nachdem er von außen die grelle Deckenbeleuchtung eingeschaltet und das rechteckige Sichtfenster in der Tür geöffnet hatte. "Und du bleibst hübsch da hinten liegen", wandte er sich an Merle, "sonst machst du die einmalige Erfahrung, daß meine Faust dir 'nen Gutenachtkuß gibt."

"Was ist denn los?" fragte Merle mißtrauisch. Es war sehr ungewöhnlich, daß um diese Zeit ein Patient aus der Zelle geholt wurde.

"Geht dich doch wohl 'n Scheiß an", versetzte Kaminsky und wandte sich dann wieder Preacher zu, der mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Bett gesessen hatte. "Bißchen dalli", bellte er, "Dr. Kalwin hat nicht soviel Zeit wie ihr Mißgeburten."

"Dr. Kalwin hat bald überhaupt keine Zeit mehr", grinste Merle triumphierend, weil er von Kaminsky nun doch etwas erfahren hatte. "Seine Zeit ist bald abgelaufen."

"Maul halten, Dreckszigeuner", giftete Kaminsky zu ihm hinüber, während er die Tür für Preacher einen Spalt breit öffnete und ihm mit geübtem Griff Handschellen anlegte. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloß und die automatische Verriegelung rastete ein.


*


"Es ist in Ordnung, lassen Sie uns jetzt allein", sagte Dr. Kalwin zu Kaminsky, der zögernd in der Tür des Büros stehengeblieben war. Dann bedeutete er Preacher, in dem breiten Sessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

Dr. Kalwin forschte zunächst in Preachers Gesicht nach Anzeichen von Haß oder Furcht, denn nicht selten zeigten Patienten nach einer Elektroschock-Behandlung derartige Reaktionen. Doch die klaren, ebenmäßigen Züge seines Gegenübers spiegelten nur eine ruhige Wachsamkeit wider. Er wandte Preacher demonstrativ seine rechte Gesichtshälfte zu und sagte unvermittelt: "Was Sie da sehen, nennt man eine Gesichtsrose."

"Es ist müßig, die mannigfaltigen Formen des Leids mit Namen zu schmücken", entgegnete Preacher so unbeteiligt, als hätte Dr. Kalwin ihm eine Abbildung im Lehrbuch und nicht sein eigenes Gesicht gezeigt.

"Dr. Beck sagte mir, daß Sie etwas ähnliches bei einem anderen Patienten zum Verschwinden gebracht hätten." Dr. Kalwin hielt es nicht für notwendig, lange um sein Anliegen herumzureden. "Können Sie auch mich heilen?"

Preacher schüttelte langsam den Kopf: "Niemand kann einen Menschen heilen. Denn dann würde der Mensch aufhören, ein Mensch zu sein."

Dr. Kalwins Schmerzen nahmen langsam wieder zu und er mußte sich zusammennehmen, um Ruhe zu bewahren. "Stimmt es denn, was Dr. Beck mir erzählte?" fragte er mit schlecht vorgetragener, väterlicher Geduld.

"Es stimmt, daß ich zu einem Mann gesprochen habe, dem sein Körper krank geworden war, siech", stimmte Preacher auch die ihm eigene Art zu. "Er war willens und bereit, mir zuzuhören, mich anzuhören, sich zu vergegenwärtigen, was ich ihm zu sagen hatte. Da war, nachdem er mich angehört hatte, sein Siechtum abgetan, seine Krankheit abgetan."

"Würden Sie auch zu mir so sprechen, wenn ich willens und bereit bin, Ihnen zuzuhören?" bemühte Dr. Kalwin sich, Preachers Worte zu gebrauchen, wie ein Erwachsener sich manchmal in der Kindersprache auszudrücken versucht.

"Nein", sagte Preacher daraufhin einfach nur. Sein freundlicher Blick ruhte unverwandt auf Dr. Kalwins Gesicht, in dem die Anspannung aufgrund der ständig zunehmenden Schmerzen deutlich angewachsen war.

"Ich würde mich natürlich erkenntlich zeigen", legte Dr. Kalwin nun seinen stärksten Trumpf auf den Tisch. "Für eine vorzeitige Entlassung ist mein Gutachten als Stationsarzt nicht unbedeutend. Und ein psychiatrisches Gutachten ist trotz aller Tests doch eine sehr subjektive Angelegenheit."

Auf Preachers Gesicht zeigte sich keine Regung. Nicht das geringste Aufblitzen von Hoffnung beim Gedanken an die Freiheit. In Dr. Kalwin wuchs langsam die Verzweiflung. Er hatte sich an diese vage Möglichkeit wie an einen Strohhalm geklammert. Nun wollte er sie auf keinen Fall ungenutzt verstreichen lassen.

"Gleichwie die Erkenntnis einen Geschmack hat", ergriff Preacher wieder das Wort, "den Geschmack der Befreiung, ebenso auch, Dr. Kalwin, hat das Nichterkennen einen Geschmack, den Geschmack der Vergeblichkeit."

Ein stechender Schmerz raste durch Dr. Kalwins Wange. Er stöhnte unwillkürlich auf und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Doch Preachers Blick blieb gleichmütig, wohl keineswegs kalt oder schadenfroh, aber vollkommen mitleidlos.

"Was verlangen Sie, damit Sie mir helfen?" preßte Dr. Kalwin zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. "Soll ich Sie auf Knien anflehen?"

"Es gibt, Dr. Kalwin, ein Entgegenkommen, das dem Erkennen dient, der Verinnerung dient. Zu solchem Entgegenkommen bin ich willens, zu solchem Entgegenkommen bin ich bereit. Und es gibt ein Entgegenkommen, das der Verblendung dient, der Veräußerung dient. Zu solchem Entgegenkommen bin ich nicht willens, zu solchem bin ich nicht bereit."

"Mein Gott, sehen Sie denn gar nicht, daß ich Schmerzen habe", stöhnte Dr. Kalwin gequält auf.

"Die Allgegenwärtigkeit des Leides ist mir wohl bewußt." Die ruhige Sachlichkeit von Preachers Worten ließ sie in diesem Augenblick geradezu grausam erscheinen.

"Wenn ich Sie nun bitten würde, einfach von Mensch zu Mensch", brachte Dr. Kalwin nun angesichts der Qualen, die ihm in dieser Nacht wieder bevorstanden, das äußerste auf, was ihm an Annäherung möglich war. Gerade vor einem Patienten hatte er sich noch nie so weit entblößt. Sein Gesicht war jetzt vor Schmerz verzerrt.

Preacher wandte sich nicht von ihm ab und seine klaren braunen Augen hielten dem gepeinigten Blick Dr. Kalwins offen stand, aber er schwieg.

"Mein Gott, Sie würden mich einfach krepieren lassen", wurde Dr. Kalwin in diesem Moment mit überwältigender Deutlichkeit klar. Und er ahnte, daß er seinen Einfluß auf andere Menschen weit überschätzt hatte.

"Ich bin nicht das, Dr. Kalwin, was man einen Erhalter nennt, einen Erbauer nennt, einen Begründer nennt", belehrte Preacher ihn ohne jedes Pathos. "Ich bin ein Nichterhalter, ein Zunichtemacher, ein Abgründiger."

"Was immer Sie sein mögen, Sie sind kein Mensch", preßte Dr. Kalwin zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dann erhob er sich jäh, öffnete ein verschlossenes Schrankfach, zog mit ein wenig zitternden Händen eine klare Flüssigkeit auf eine Spritze und drückte sie sich in die Vene. Dann ließ er sich wieder auf seinen Stuhl fallen und verharrte dort reglos für einige Minuten.

Als er nach Kaminsky rief, der Preacher wieder in die Zelle zurückbringen sollte, hatte er sich äußerlich wieder einigermaßen in der Gewalt. Und doch fühlte er sich, als hätte er gerade an einem morschen Seil über einem bodenlosen Abgrund gehangen. Preacher war für ihn bisher ein harmloser Trottel gewesen, der wirres Zeug von sich gab. Doch nun ahnte er hinter dessen seltsamem Gebahren eine Absicht, die mit seinem eigenen Standpunkt unvereinbar war.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 14. Oktober 1997

19. Februar 2007