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PSYCHO/026: ... und tief ist sein Schein (26) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Zwei Pfleger schoben Merle mit überflüssigem Nachdruck wieder in die Zelle. Er war zum EEG ins Labor gebracht worden und ließ sich nun mit einem spöttischen Lachen auf seine Matratze fallen.

"Die MTA ist wieder da", sagte er zu Preacher, der ihn kurz fragend angeblickt hatte, als die Tür sich hinter ihm schloß. "Und sie trägt jetzt wieder dieses aufdringliche Parfum."

"Sie sucht ein Versteck, Merle", stellte Preacher fest, als wäre er Viola gerade selbst begegnet. "Aber es ist eine vergebliche Suche."

"Versteck ist gut", amüsierte sich Merle. "Wohl eher das Gegenteil! Aber wer weiß. Früher hab' ich zweimal am Tag geduscht und literweise Rasierwasser benutzt, weil ich das Gefühl nicht loswurde, ich riech' nach Klärschlamm. Das Ergebnis war, daß manchen Leuten in meiner Nähe übel geworden ist. Aber das war mir scheißegal. Ich mußte meine Erinnerungen mit den Waffen aus der Drogerie bekämpfen." Er lachte leise in sich hinein.

"Es gibt keinen Geruch, Merle, oder keinen Anblick, der an sich widerwärtig wäre", sagte Preacher. "Die Widerwärtigkeit liegt in deinen gedanklichen Fesseln, an denen du dich immer wieder aufs neue entlang tastest."

"Tut mir leid, Preacher, aber ich finde Scheißhausgeruch nun mal widerlich, da kannst du sagen, was du willst", widersprach ihm Merle schulterzuckend. "Möchte nur wissen, warum sich die MTA so einnebelt. Übrigens hat sie mir heute anvertraut, daß Dr. Kalwin sich zu seinem Vorteil verändert hat." Merles Stimme klang jetzt beinah verächtlich. "Schien sich allen Ernstes einzureden, daß der Sauhund durch den Schmerz geläutert worden ist."

"Ein Mensch ändert sich nur freiwillig, niemals durch Schmerz", sagte Preacher. "Vielleicht ist er manchmal geschwächt und bereitwilliger, sich anzupassen. Aber sobald er seine vermeintliche Überlegenheit zurückgewinnt, setzt er sie ein wie zuvor."

"Genau", nickte Merle befriedigt. Er sah sich von Preacher in seiner Auffassung bestätigt. "Ein Schwein bleibt ein Schwein. Aber vielleicht hat unsere Viola Gefallen an ihm gefunden und sucht nun nach einer Begründung für ihren plötzlichen Sinneswandel."

"Dr. Kalwin verspricht, ein starker Halt zu sein, und Halt ist es, nach dem sie jetzt am meisten sucht."

"Kann sein. Jedenfalls kam sie mir irgendwie unstet und gehetzt vor. Obwohl ich heute fast die ganze Zeit mein Maul gehalten hab'", fügte Merle noch hinzu.

"Ein Band, das der Bindung dienen sollte, schneidet in ihr Fleisch, solange sie zu fliehen versucht", sagte Preacher ernst.

"Soll das wieder eins von deinen Sinnbildern sein? War sie mal verheiratet oder so?" fragte Merle mit leicht entnervtem Unterton.

"Die Fessel, die in ihr Fleisch schneidet, ist genauso wirklich wie der Schmerz, den sie ihr verursacht", erklärte Preacher gelassen.

"Hauptsache, meine Bindung an Dr. Kalwin wird für ihn bald zum Strick", wollte Merle eine weitreichendere Diskusssion über das Wesen der Wirklichkeit vermeiden, wohl wissend, daß er sich dadurch in die Nähe eines Abgrunds begeben konnte, der ihm doch zu furchteinflößend erschien. Preacher unternahm auch nichts weiter, um sich verständlich zu machen. Er sagte nur:

"Was du tust, Merle, kann für dich gefährlich werden. Du bist zu sehr beteiligt, du bist zu sehr verwickelt, du bist zu wenig frei."

"Ach komm, Alter", sagte Merle mit einer wegwerfenden Gebärde, "sag' bloß noch, du machst dir Sorgen um mich."

"Ja", erwiderte Preacher schlicht, und es hätte Merle nicht ansatzweise so erschüttert, hätte Preacher einfach nur "nein" gesagt. Doch schon bald befand er sich gedanklich wieder auf einer Reise in die Vergangenheit, wo auf ihn eine Quelle wartete, aus der er immer wieder neuen Haß trinken konnte. Die Begebenheit, an die er immer wieder denken mußte, hatte sich nicht lange nach seiner Einlieferung auf Station E ereignet:

Wie bei ihm üblich, war von Dr. Kalwin eine Elektroschockbehandlung für Merle angesetzt worden. Merle, den die Pfleger schon auf dem fahrbaren Behandlungsbett festgeschnallt hatten, erfuhr es erst, als Kaminsky ihm ein relaxierendes Medikament spritzte.

"Hoffentlich verschmort er dir dein krankes Hirn", hatte Kaminsky ihm zugeflüstert.

Und Merle begriff erst in diesem Augenblick, was Dr. Kalwin mit ihm vor hatte. Der haßerfüllte Blick seiner schwarzen Augen berührte den Arzt immerhin unangenehm, obgleich er mit gleichgültig kühler Miene die Vorbereitungen für die Stromstöße traf. An seinen Assistenten gewandt, der ihn mit bedeutsamen Blicken auf Merles psychische Verfassung aufmerksam machen wollte, bemerket er leichthin: "Sie werden sehen, der wird gleich zahm wie ein Hündchen."

"Er scheint reichlich verkrampft zu sein", stellte der Assistent überflüssigerweise fest. Er war ein ehrgeiziger junger Psychiater, der Dr. Kalwins Methoden vom psychotherapeutischen Standpunkt aus für besonders interessant hielt. "Sicherlich hat er eine ganze Menge zu verdrängen."

"Davon können Sie ausgehen, wenn Sie sich einmal seine Akte durchlesen", bestätigte Dr. Kalwin im selben Augenblick, als ein greller Schmerz wie ein gewaltiger Dolch in Merles Gedanken fuhr und sein Bewußtsein abschnitt.


*


Die unauffällig in einer Ecke des Raumes installierte Videokamera war bereits eingeschaltet, als Merle aus der Bewußtlosigkeit erwachte. Verstört sah er sich um. Er wußte weder, wer er war, noch wo er sich befand. Auch die beiden Männer in den weißen Kitteln kannte er nicht. Merle richtete sich langsam auf und griff sich dann aufstöhnend an den Kopf. Offenbar hatte er Kopfschmerzen als Nachwirkung der "Behandlung". Mit unsicheren Blicken durchforschte er den Raum, als suche er nach einem Anhaltspunkt, um sein Gedächtnis wiederzuerlangen. Schließlich erhob er sich und ging langsam auf Dr. Kalwin und seinen Assistenten zu, die sich über irgend etwas angeregt zu unterhalten schienen. Als Merle vor ihnen stehenblieb und sie mit einem besorgten Gesichtsausdruck musterte, wandte Dr. Kalwin sich ihm zu und fragte: "Können Sie sich erinnern, wer Sie sind?"

Man sah an Merles Gesicht deutlich, wie es in ihm arbeitete, aber er brachte nicht einmal ein Kopfschütteln als kommunikatives Signal zustande. Dr. Kalwins Assistent konnte den Blick nicht von Merles Gesicht lösen, das ihm auf wundersame Weise verändert schien. Das dunkle, bis zur Maskenhaftigkeit starre, hagere Gesicht trug jetzt den Ausdruck einer beinahe kindlichen Offenheit und Verletzbarkeit.

"Seine psychische Abwehr scheint aufgebrochen, aber er ist leider nicht in der Lage, mit uns Kontakt aufzunehmen", erklärte der Assistent Dr. Kalwin überflüssigerweise die Situation.

"Halten Sie sich auf jeden Fall zurück", ermahnte ihn Dr. Kalwin streng. "Gerade in diesem Zustand soll er lernen, daß er sich an mich wenden muß, wenn er Hilfe braucht."

"Ist klar, Chef", beeilte sich der Assistent, Einsicht zu heucheln, obgleich er Merles Bewußtseinszustand nur zu gern näher ergründet hätte.

Merle hatte sich unterdessen von ihnen abgewandt und stand jetzt vor der großen Glassscheibe, die in die Wand zwischen dem Behandlungsraum und dem benachbarten Labor eingelassen war. Irgend etwas dort schien Merles Aufmerksamkeit zu fesseln. Immer dichter trat er an die Glasscheibe heran, bis sich plötzlich ein tierhafter, gurgelnder Laut seiner Kehle entrang. Dr. Kalwin erhob sich unauffällig und folgte Merles Blickrichtung, doch er sah im Nebenraum nur die Versuchsanordnung von einem der Klinikpsychologen, der eine Ratte in einem Laufrad hielt. Das Tier war in der Vergangenheit offenbar einem genervten Versuchsleiter unter die Schere gekommen, denn es hatte nur noch einen kurzen Stummelschwanz. Nachdem Merle das Tier eine Weile ungläubig angestarrt hatte, stieß er plötzlich einen schmerzgepeinigten Schrei aus und sank hemmungslos schluchzend in sich zusammen.

Sogar Dr. Kalwin geriet in diesem Augenblick nahe an die Grenze der Versuchung, seine Haltung als gleichmütiger Beobachter zu lockern. Doch diese Anwandlung ging schnell vorüber. "Belassen wir es dabei", sagte er zu seinem Assistenten und zog eigenhändig eine Valiumspritze auf. Nachdem er Merle ruhiggestellt hatte, rief er nach den Pflegern, die ihn wieder auf das Bett legen sollten.


*


Als Merle diesmal erwachte, war er wieder ganz der alte. Nur fehlte ihm vollständig die Erinnerung an die Zeit unmittelbar nach dem Elektroschock. Er glaubte zunächst, er habe geschlafen, doch als Dr. Kalwin ihn fragte, ob er sich an irgend etwas aus dieser Zeit erinnern könne, war sein Mißtrauen sofort geweckt.

"Was habt ihr mit mir gemacht?" hatte er Dr. Kalwin mit seiner modulationsarmen, flache Stimme gefragt.

"Wir versuchen, Ihnen zu helfen", war Dr. Kalwins Antwort gewesen, gepaart mit einem vieldeutigen Blick, der Merles Unruhe nur noch anwachsen ließ. "Wir sprechen noch darüber."


*


Einige Tage später ließ Dr. Kalwin Merle zu sich in das Behandlungszimmer bringen. Wieder fragte er ihn, ob er sich an irgend etwas erinnern könne, nachdem er das erstemal aus der Bewußtlosigkeit erwacht sei. Er ließ ihn auch einen Blick durch die Glasscheibe in den Nebenraum werfen, wo immer noch die Ratte in ihrem Laufrad saß.

Als Merle das Tier sah, stieg eine düstere Ahnung in ihm auf. Aber es fiel ihm nicht schwer, diese Regung Dr. Kalwin gegenüber zu verbergen.

"Wenn Sie sich gar nicht erinnern können, sollten Sie sich dies hier vielleicht einmal ansehen", sagte Dr. Kalwin und deutete auf den Fernsehschirm. Er legte eine Videokassette ein und Merle sah sich selbst in einer Verfassung, in der ihn niemand, auch nicht sein ehemaliger Lehrmeister, hätte sehen dürfen. Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, daß Dr. Kalwin von dem Orkan der Wut, der in ihm tobte, nur eine zunehmende Erstarrung seiner Gesichtszüge registrieren konnte.

Als das Band durchgelaufen war, hatte Merle sich mit seinem häßlichen Lächeln zu Dr. Kalwin umgewandt und langsam und mit kalter Stimme gesagt: "Dafür bring' ich Sie um."

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 27. November 1997

12. März 2007