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PSYCHO/033: ... und tief ist sein Schein (33) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Vor zwei Wochen war Merle aus dem Erziehungsheim entlassen worden. Er hatte nicht den Versuch unternommen, seinen Lehrmeister umzustimmen. Auch den Vorwand, sich verabschieden zu wollen, hatte er nicht genutzt.

Es war Samstag, als der Hausmeister, der nach wie vor ein unauffälliges, augenscheinlich recht biederes Junggesellendasein führte, in seinem Briefkasten einen Brief vorfand. Leicht befremdet suchte er nach dem Absender, denn der bucklige Alte mit dem narbenentstellten Gesicht pflegte keine Briefkontakte. Kein Name, lediglich eine in der Nähe liegende Kleinstadt und eine Straße ohne Hausnummer waren angegeben.

Nachdem der Hausmeister zu lesen begonnen hatte, war der Absender für ihn kein Rätsel mehr. Und als er das Blatt senkte, schien sein Gesicht eine Spur fahler geworden zu sein - nur um sich im nächsten Augenblick zu einem perfiden Lächeln zu verzerren. Der Inhalt des Briefes lautete:

Verehrtes Onkelchen,

damit du nicht allzu sehr bereuen mußt, deine Zeit mit einem Blindgänger vertrödelt zu haben, habe ich beschlossen, dir etwas von der Zuneigung, die du an mich verschwendet hast, zurückzugeben. Schon bald werden dich viele Leute glühend beneiden, denn hier ist mein Abschiedsgeschenk an dich: Ich bringe dich ganz groß raus, ich mache dich berühmt!

Die Idee kam mir morgens beim Zeitunglesen. Daß sie mir eine gute Stange Geld einbringen wird, tröstet mich, nebenbei bemerkt, ein wenig über unsere Trennung hinweg. Mir wurde plötzlich klar, daß unser besonderes Verhältnis wie geschaffen ist für eine Titelstory, die dir endlich zu dem Ruhm verhelfen kann, den du verdienst!

Die Story kennst du eigentlich, nur die schönen Formulierungen sind dir sicher neu: Da wäre also ich - ein armes, vernachlässigtes Heimkind (auch noch ein Sinti-Junge, wie ich neulich von einer Verwandten erfuhr), das sich natürlich nach Zuwendung sehnt. Und ein verwachsener, mißgestalteter älterer Mann, den die Kinder normalerweise meiden, dem es aber irgendwie gelungen ist, sich das Vertrauen dieses Jungen zu erschleichen.

Wenn nun dieser Junge nach seiner Entlassung aus dem Heim ganz im Vertrauen einem Zeitungsreporter gesteht, daß der häßliche Onkel sehr freundlich war, aber manchmal ganz häßliche Dinge von ihm verlangt hat? Der Reporter wird ihm die Füße küssen für eine Story wie "Sinti- Junge von perversem Krüppel mißbraucht" oder "Das Heimkind und das Monster", meinst du nicht auch? Du bist also auf dem besten Wege, ein Medienheld zu werden.

Ist doch zu geil! Schon bald werden massenweise Leute vor deiner Wohnung stehen, um sich von deinem Anblick gruselig antörnen zu lassen. Endlich wird man sich für dein tristes Schattendasein interessieren und dir Kameras und Mikrophone vors Gesicht halten. Und nachdem das Fernsehen deine Rechtfertigungen delikat und zweideutig zusammengeschnitten hat, wird dazu im Abendprogramm deine Fresse in Großaufnahme gebracht, so daß die Leute ihre Kartoffelchips gleich wieder auskotzen. Unvergeßlich wirst du ihnen bleiben, ein ganz großer Star! Bestimmt bietet dir irgendein Zombiefilm-Produzent in seinem Streifen die Hauptrolle an.

Und das Schöne an der ganzen Sache ist, daß sie für uns beide schon im Augenblick der Veröffentlichung ihren Zweck erfüllt. Bist du erst einmal berühmt - vielleicht ja schon morgen -, bringt dich nichts und niemand wieder raus aus dem Kopf der Leute.

Daß ich oft bei dir war, können übrigens viele bezeugen. Auch daß du irgendwie eigentümlich bist und man dir deswegen den Spitznamen Dämonenschmidt gegeben hat. Vielleicht solltest du ihn gleich zu deinem Künstlernamen machen.

Unser guter Heimleiter wird bestimmt beglückt sein, wenn etwas von deinem Ruhm auch auf ihn und sein sauberes Institut abfärbt. Durchaus möglich, daß da für dich eine satte Kündigung rausspringt!

Keine Sorge, ich selbst komme schon zurecht. So eine Story bringt einiges ein, wenn man sie zu verkaufen versteht. Danken brauchst du mir nicht, daß ich dich davor bewahre, als unscheinbarer Herr Schmidt im Grau des Alltags unterzugehen. Ich tue es wirklich gern! Und es befreit mich von dem Gefühl, dir noch etwas schuldig zu sein. Genieße also deinen Ruhm,

du hast ihn verdient

Merle


*


Der Gestank von Klärschlamm hing schwer wie Dampf aus einem Suppentopf in der feuchten Luft des grauen Sonntagmorgens. Die verwahrloste Gartenlaube lag weit abseits von der letzten Wohnsiedlung, dort wo die Straße nicht mehr asphaltiert war. Ein kaum erkennbarer, von dicken runden Grasbüscheln überwucherter Pfad führte über gestrüppreiches Niemandsland zu dem winzigen Häuschen hin. In den letzten Tagen kam seit langer Zeit wieder dicker Qualm von nassem, gestohlenem Holz aus dem verrosteten Schornstein gekrochen.

Als es an diesem Morgen energisch gegen die verwitterte Holztür pochte, ließ Merle sich mit dem Öffnen Zeit. Er wußte, wer draußen stand. Er hatte ihn erwartet.

Dämonenschmidt stand einfach nur da und musterte Merle mit dem eitlen Blick eines Vaters, dessen Sohn man eine Tapferkeitsmedaille verliehen hat.

"Das war ein genialer Einfall", grinste er schließich anerkennend, noch bevor er eingetreten war. "Hätte direkt von mir sein können."

Merle machte keine Miene, ihm auch nur mit der kleinsten Geste entgegenzukommen.

"Ich muß zugeben, ich habe nicht ernsthaft damit gerechnet, daß du diese Prüfung bestehen wirst", fuhr der Hausmeister unbeeindruckt von Merles beharrlichem Schweigen fort. "Und schon gar nicht mit solcher Bravour." Für ein paar Sekunden weidete er sich an Merles leicht irritiertem Gesichtsausdruck und zog dann eine in buntes Papier gewickelte Flasche mit offenbar hochprozentigem Inhalt unter dem Mantel hervor. "Das war dein Gesellenstück", eröffnete er dem hageren, knapp einen Kopf größeren Jungen mit feierlichem Gestus. "Und ich muß sagen, ich bin aufs Angenehmste überrascht."

"Was meinst du damit?" In Merles starren, abweisenden Zügen schien ein Anflug von Interesse aufzuglimmen.

"Nun", Dämonenschmidt vollführte eine entschuldigende Geste, "kein Lehrmeister kommt umhin, seinen Famulus einer Prüfung zu unterziehen."

"Und wieso hast Du mir das nicht gesagt?" versetzte Merle mit mißtrauischem Blick.

Dämonenschmidt schüttelte in vorgetragener Mißbilligung den Kopf. "Du kannst von mir doch nicht ernsthaft erwarten, daß ich mich wie dein Deutschlehrer verhalte", tadelte er milde. "Eine Prüfung erfüllt nur ihren Zweck, wenn der Betreffende nicht weiß, daß er geprüft wird. Und es gibt keine Zensuren, denn der Sinn einer wirklichen Prüfung besteht ja gerade darin, eine grundsätzliche Entscheidung herbeizuführen: alles oder nichts, manchmal sogar Leben oder Tod. Wäre es dir nicht gelungen, dein bisheriges Wissen anzuwenden und mich von deinen Qualitäten zu überzeugen -was dir vortrefflich geglückt ist - wäre deine Lehrzeit tatsächlich beendet."

Argwohn und Feindseligkeit spiegelten sich kurz in Merles für sein Alter ungewöhnlich harten Zügen, dann ein Anflug von Stolz und verhaltener Freude.

"Es war also gar nicht ernst gemeint, als du zu mir gesagt hast, daß ich ein Schwächlich bin?" fragte er schroff.

"Wenn du nicht getan hättest, was du getan hast - nämlich Mittel und Wege gefunden, um dein Interesse durchzusetzten - wäre es durchaus ernst gemeint gewesen. So aber erlaube ich mir, auf den Erfolg meiner Arbeit ein wenig stolz zu sein und mit dir anzustoßen", er stellte die Flasche mit Nachdruck auf den Tisch.

"Du hast die Sache doch noch nicht ins Rollen gebracht?" fragte er mit lauerndem Blick, zog dann Merles Brief aus der Jackentasche und wedelte, nachdem Merle den Kopf geschüttelt hatte, amüsiert kichernd damit herum.

"Den häßlichen Alten der gierigen Boulevardpresse zum Fraß vorzuwerfen, das ist wirklich gut, Merle. Von wegen Sinti-Junge und Kindesmißbrauch. Da stehen die zur Zeit drauf. Du hast sorgfältig nachgedacht, und du hättest mir tatsächlich eine Menge Unannehmlichkeiten bereiten können. Denn ich bevorzuge nun einmal eine gewisse Distanz zu meinen lieben Mitmenschen." Er zwinkerte Merle leutselig zu.

Jetzt endlich breitete sich auf Merles Gesicht ein halb geschmeicheltes, halb freudiges Grinsen aus. Er deutete auf einen der beiden verschlissenen Sessel, denen ein moderig-verräucherter Geruch entströmte, und holte aus irgendeiner Ecke zwei fleckige Gläser, bevor er sich in den anderen Sessel fallen ließ. Die lehmverkrusteten Stiefel auf den mit alten Zeitungen bedeckten flachen Holztisch gelegt, prostete er Dämonenschmidt mit offenkundig frisch gestärktem Selbstbewußtsein zu.

"Hast du nicht befürchtet, daß die Presse schon vor deiner Tür lauert, als du heute morgen das Haus verlassen hast?" fragte Merle beiläufig, während er sich eine Zigarette ansteckte.

"Wenn ich nicht will, daß man mein Fortgehen bemerkt, dann bemerkt man es auch nicht", stellte Dämonenschmidt mit nachsichtigem Lächeln fest, was Merle mit einem kurzen Seitenblick zur Kenntnis nahm.

"Warum hast du dich ausgerechnet hier einquartiert?" wollte der Alte wissen, dem das Sitzen in dem verzogenen alten Sessel offenbar körperliches Unbehagen bereitete. Um dem abzuhelfen, leerte er in einem Zug sein Glas, schenkte sich nach und ließ dann seinen Blick vielsagend über das von Kälte und Nässe angegriffene Mobiliar schweifen.

"Vielleicht hat mich die Sehnsucht nach Heimatluft gepackt", scherzte Merle, vermied es aber geflissentlich, Dämonenschmidts Blick zu begegnen und trat sorgfältig seine Zigarette auf dem schimmelfleckigen Holzfußboden aus.

"Oder weil es für dich hier noch eine unerledigte Sache gibt", griff Dämonenschmidt sein Ausweichen sofort auf.

"Dieses Dreckloch abzufackeln vielleicht", zuckte Merle scheinbar gelangweilt die Achseln.

"Ich hatte da eher an etwas anderes gedacht", ließ der unbequeme Alte nicht locker. "Es hat etwas mit Ratten zu tun."

An Merles Gesichtsausdruck war deutlich abzulesen, daß ihm dieses Thema unangenehm war. Er hatte die Begebenheit seinem Lehrmeister gegenüber nur einmal andeutungsweise erwähnt. Nervös nestelte er an seinem Feuerzeug herum.

"Zeig mir, wo du es damals getan hast", drängte Dämonenschmidt, der nun unbeirrbar wie ein Bluthund einer Fährte zu folgen schien. "War es hier drin?"

Merle schüttelte unwillig den Kopf.

"Wozu willst du das wissen?" stellte er sich träge, gähnte herzhaft und lehnte sich in seinem Sessel zurück, hielt es aber nicht sehr lange in dieser Stellung aus.

"Das wirst du erfahren, wenn wir hingegangen sind", entgegnete sein Lehrmeister und setzte dann mit feiner Ironie hinzu: "Ich habe bis jetzt doch noch immer gewußt, was gut für dich ist."

"Wenn du unbedingt willst", erhob Merle sich widerwillig und griff dabei wie haltsuchend nach der Flasche, um sie in seine geräumige Jackentasche zu stecken. Durch die schief in den Angeln hängende Hintertür verließen sie gemeinsam die Gartenlaube. Von dort aus führte ein morastiger Pfad zwischen den Pfählen eines nicht mehr vorhandenen Drahtzauns hindurch in ein fast mannshohes Dickicht aus Schilfgras und Gesträuch. Schließlich standen sie vor einem etwa drei Meter hoch aufgeworfenen, grasbewachsenen Erdwall.

"Ich glaube nicht, daß du es schaffst, da raufzukommen", unternahm Merle offenbar einen letzten Versuch, den Buckligen von seinem Vorhaben abzubringen.

"Das ist kein Problem für mich", widersprach dieser jedoch und machte sich unbeholfen, doch unbeirrbar daran, den Hang zu erklimmen. Den berechnenden Blick, den sein Schüler ihm nachsandte, bemerkte er nicht. Vernehmlich fluchend folgte Merle ihm mit der ihm eigenen, insektenartig ruckhaften Behendigkeit.

Oben angekommen, erstreckte sich vor ihnen ein weites, von grünen Flechten, zarten Schlinggewächsen und Moosen bedecktes quadratisches Feld. Das junge Grün war an vielen Stellen von schwarzen Wasserlachen unterbrochen, auf denen regenbogenfarbener Schlier schillerte. Es roch penetrant nach Kot und faulen Eiern.

"Was ist das hier?" fragte Dämonenschmidt noch vor Anstrengung bebend.

"Dein Grab", zischte Merle hinter ihm und schlug dem Alten im selben Moment mit aller Kraft die Flasche auf den Hinterkopf.


*


Als Dämonenschmidt wieder zu sich kam, war er schon bis zu den Schultern in dem stinkenden Morast versunken. Etwa anderthalb Meter von ihm entfernt, auf dem grasbewachsenen Erdwall, hockte Merle und bließ spielerisch den Rauch seiner Zigarette zu ihm hinüber.

"Was soll das, Merle", preßte der Alte, der von dem Schlag noch ganz benommen war, mühsam hervor.

"Das war deine Meisterprüfung", grinste sein Gegenüber ihn unverhohlenen hämisch an. "Du bist durchgefallen!"

"Auch gut", suchten Dämonenschmidts flinke Augen in Merles Gesicht nach irgendeinem einem Anhaltspunkt, um mit ihm verhandeln zu können. "Du hast offensichtlich gewonnen. Also hol' mich jetzt hier raus."

"Warum?" genoß Merle in aller Ruhe seine Überlegenheit. "Wozu sollte ich dich noch brauchen?"

"Es gibt vieles, was ich dir noch beibringen könnte", keuchte Dämonenschmidt, der nun schon bis zum Hals eingesunken war.

"So?" zog Merle seine schwarzen Brauen theatralisch in die Höhe. "Ich denke eher, daß du ein Schwächling bist. Und Schwächlinge", er äffte gekonnt Gestus und Sprechweise seines Lehrmeisters nach, "sind mir zuwider."

Der stinkende schwarze Schlamm hatte unterdessen Dämonenschmidts Kinn erreicht, gleichzeitig durchzuckte ihn die Erkenntnis, daß Merle schon die ganze Zeit vorgehabt hatte, ihn zu töten. Die Geschichte mit der Zeitung war nur der Anlaß gewesen, ihn hierher zu locken, wo Merle alle Vorteile des Heimspiels besaß. Er hatte sich doch zu sehr darauf verlassen, daß Merle konsequent berechnend war und seinen größten Vorteil darin sehen würde, von ihm weiter unterrichtet zu werden. Selbst wenn er ihn haßte. Doch es gab bei Merle einen Punkt, an dem er irrational reagierte und alle Vorteilserwägungen in den Wind schlug. Das hatte er nicht genug bedacht.

Dämonenschmidts Gedanken rasten, während er Merle in die jetzt glasharten, schwarzen Augen sah. Die beiläufige Frage, ob er beim Verlassen seines Hauses gesehen wurde, das scheinbare Widerstreben, mit dem er ihn in diese Falle gelockt hatte - zu spät wurde ihm alles klar.

"Vielleicht war ich vorhin zu voreilig und du könntest mich doch noch etwas lehren", beugte Merle sich plötzlich vor, um bei seinem Opfer die Hoffnung auf Rettung ein wenig anzufachen.

Dämonenschmidt starrte ihn nur an und antwortete nicht, denn er lief inzwischen Gefahr, daß der Schlamm in seinen Mund eindrang.

"Zeig mir, wieviel du vom Verrecken verstehst", trieb Merle seinen Spott auf die Spitze und rechnete jeden Augenblick damit, daß der Todeskampf seines Lehrmeisters einsetzen würde. Doch seltsamerweise regte der sich nicht mehr, obwohl er noch gar nicht im Schlamm erstickt sein konnte. Enttäuscht stellte Merle fest, daß die wasserhellen Augen des alten Mannes mit leerem, leblosen Blick ins Weite starrten, bevor der schwarze Schlamm endgültig von seinem Körper Besitz ergriff. Irgendwie war es dem Alten gelungen, ihn um seinen letzten Triumph zu betrügen.

Nachdem Merle einen letzten Schluck aus der Flasche genommen hatte, deren Ettikett noch blutverschmiert war, warf er sie in hohem Bogen in den Schlamm, der sie mit einem schmatzenden Geräusch verschlang. Dann stieg er gemächlich den Erdwall hinab und zog aus einem Gebüsch ein knappes Dutzend dünner Eisenpfähle mit weißlackierten, in roter Leuchtschrift verfaßten Hinweisschilder hervor. Mechanisch machte er sich daran, sie unweit des hohen Erdwalls wieder in die Erde zu stecken. Die Inschrift lautete: Vorsicht Spülfeld. Betreten des Grundstücks streng verboten. Lebensgefahr!

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 17. Februar 1998

11. April 2007