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PSYCHO/035: ... und tief ist sein Schein (35) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


"Showtime", verkündete Merle mit gedämpfter Stimme. Und noch ehe Viola die Ledergurte lösen konnte, mit denen er an den Behandlungsstuhl gefesselt war, hatte er sich selbst daraus befreit. Statt es dabei bewenden zu lassen, nahm er sich von einem der Tische eine Schere und fing an, den rechten Armgurt zu zerfetzen, als hätte sich ein wildes Tier daran zu schaffen gemacht.

"Was soll das?" fragte Viola nervös.

"Die müssen nicht unbedingt wissen, daß ich da auch so rauskomme", entgegnete Merle knapp.

Viola war sich darüber im klaren, daß sie bei diesem Vorhaben ein Risiko einging, aber sie dachte im Augenblick weniger an ihre eigene Sicherheit. Merles Plan war für sie die einzige Möglichkeit, Dr. Kalwins Interesse an ihr endgültig, jedoch beruflich folgenlos zum Erlöschen zu bringen. Nur auf diese Weise konnte sie weiter in Preachers Nähe bleiben. Merle selbst verfolgte damit natürlich seine eigenen Absichten.

Er wollte Dr. Kalwin an einer Stelle treffen, die seiner Ansicht nach besonders empfindlich war. Viola konnte sich inzwischen nicht mehr vorstellen, daß es solch eine Stelle gab. Doch beide setzten sie darauf, daß Dr. Kalwin auf ihre Inszenierung so reagieren würde, wie sie es von ihm erwarteten.

Was Merle anbetraf, so baute Viola vor allem darauf, daß er die Gelegenheit, ihr etwas anzutun, bereits einmal dazu benutzt hatte, um sie, wenn auch unsanft, so doch um so wirksamer aus einer lähmenden Verzweiflung zu reißen. Außerdem wußte er, daß sie es für Preacher tat, und er schien für seinen Zellengenossen eine gewissen Zuneigung zu hegen, wenn das bei Merle überhaupt möglich war. Trotzdem hatte Viola eine Spraydose mit Reizgas in ihrem weiten Stiefelschaft verborgen. Davon abgesehen standen die Pfleger vor der Tür und würden sofort hereinstürzen, wenn sie laut um Hilfe schrie. Sofern sie dazu noch in der Lage war.

Sorgsam darauf bedacht, kein verdächtiges Geräusch zu verursachen, damit die Pfleger nicht vorzeitig mißtrauisch wurden, machten Merle und Viola sich an die Gestaltung einer glaubwürdigen Kulisse, um ihren Plan darin in Szene zu setzen. In unmittelbarer Nähe des Elektroenzephalographen sorgten sie für die Spuren eines verzweifelten Kampfes. Die Papiere, die auf einem schmalen Seitentisch aufgestapelt waren, fegte Merle auf den Boden und riß erstaunlich leise die an der Tischkante festgeschraubt Lampe aus der Verankerung, als habe sich jemand verzweifelt daran festgeklammert.

"Die beiden da draußen werden reichlich Ärger bekommen, weil ihnen sicher niemand abnimmt, daß sie nichts gehört haben", bemerkte Viola.

"Gemessen an dem, was sie jeden Tag austeilen, hätten sie mehr verdient als das", kommentierte Merle ihre Bedenken ungerührt.

Viola legte den Drehstuhl, auf dem sie während des EEGs zu sitzen pflegte, auf den Boden, als wäre er umgestürzt. Merle riß mit einem perfidem Lächeln, das in Viola viele unbestimmte Befürchtungen weckte, sein weißes Anstaltshemd ein, zerraufte sich das Haar und schnitt sich mit einer Scherbe zwei blutige Kratzer ins Gesicht. Auch Viola machte sich zögernd daran, ihre bewußt für diesen Anlaß gewählte Kleidung in Unordnung zu bringen. Mit einem scharfkantigen Plastiklineal zerriß sie ihre dünnen Seidenstrümpfe und hinterließ auf den Oberschenkeln einige gut sichtbare, tiefrote Kratzer. Dann zerknüllte sie ihren sorgfältig gebügelten, beigefarbenen Rock und wollte sich gerade mit der Baumwollbluse beschäftigen, die sie unter dem geöffneten Kittel trug, als Merle ihr plötzlich unsanft ins Haar griff.

"Das sieht viel zu harmlos aus", stellte er unwillig fest und zerrte ein paar Haarbüschel aus dem im Nacken festgesteckten Knoten hervor. "Dr. Kalwin soll doch nicht glauben, daß du es freiwillig getan hast, oder?"

Er grinste, wie Viola fand, ausgesprochen widerwärtig. Doch als sie ihn empört wegstieß, hob er beschwichtigend die Hände. "Raste jetzt bloß nicht aus", beschwor er sie leise. "Ich will nichts von dir, klar? Ich will nur, daß du richtig fertig aussiehst und nicht wie nach einem netten kleinen Techtelmechtel ..."

Viola starrte ihn wütend an, beruhigte sich dann aber schnell wieder. Im Grunde hatte Merle recht, auch wenn seine Ausdrucksweise sie auf die Palme brachte. Schließlich hatte sie sich wissentlich auf die ganze Sache eingelassen. Und es mußte echt aussehen. Wenn sie jetzt einen Rückzieher machte und nach den Pflegern rief, war sie zwar in Sicherheit, aber alles andere war verdorben. Also atmete sie tief durch sagte mit entschlossener Miene zu Merle:

"Los, hau mir eins auf die Nase. Aber nicht zu fest. Ich bekomme ziemlich leicht Nasenbluten und das macht sich sicher ganz gut."

Ohne mit der Wimper zu zucken versetzte Merle ihr mit seiner knochigen Hand einen Schlag auf den Nasenrücken, der ihr die Tränen in die Augen und das Blut aus der Nase schießen ließ.

"Nicht so fest, hab ich gesagt", fauchte sie ihn an und mußte sich zusammennehmen, um nicht wirklich in Tränen auszubrechen. Dabei ärgerte sie sich, daß ein einziger, nicht einmal wirklich harter Schlag sie so leicht aus der Fassung bringen konnte.

Sie fing das herablaufende Blut zunächst mit den Händen auf, ließ es dann aber auf Kittel, Rock und auf den Boden tropfen. Dann wischte sie ihre blutverschmierten Hände mit unverhohlener Schadenfreude an Merles Hemd ab, der sie mit einer Mischung aus Widerwillen und Zustimmung gewähren ließ. Nachdem sie ihre gesamte Kleidung in einen Zustand versetzt hatte, der nur noch eindeutige Rückschlüsse zuließ, meinte Merle schließlich:

"Okay, ich denke, das genügt."

"Gehen wir also ins Finale", tat Viola viel entschiedener, als sie sich im Augenblick fühlte. Sie legte sich neben dem umgestürzten Stuhl auf den Boden und zog ihren blutbefleckten Rock noch ein Stück weit in die Höhe. Merle beobachtete sie dabei mit fachmännisch kaltem Blick. Dann kniete er sich neben sie und band ihr das Halstuch so fest vor den Mund, daß sie tatsächlich keinen Ton mehr herausbringen konnte. Sie wollte schon in Panik ausbrechen, als er ihr das Halstuch mit grobem Griff über das Kinn zerrte, damit es so aussah, als hätte sie sich schließlich selbst davon befreit. Dann legte er ihr seine kalte Hände um den Hals. Viola erstarrte. Das hatten sie nicht verabredet.

"Damit es echt klingt", bedeutete er ihr und verstärkte ein wenig den Druck seiner Hände. "Schrei jetzt!"

Viola brauchte sich um den panischen Klang ihrer Stimme nicht sonderlich zu bemühen. Heiser und erstickt rief sie um Hilfe.

"In wenigen Augenblicken", flüsterte Merle ihr verheißungsvoll zu, "bist du für Dr. Kalwin so unattraktiv wie ein ranziger Fisch."

Im selben Moment kamen die Pfleger hereingestürmt.

"Nett von euch, Jungs, daß ihr so lange gewartet habt, bis ich mit ihr fertig bin", stopfte Merle sich demonstrativ sein Hemd in die Hose. Die beiden Pfleger stürzten sich auf ihn, drehten ihm brutal die Arme auf den Rücken und fesselten ihn mit Handschellen an den Behandlungsstuhl.

"Verdammtes Schwein, wie bist du da rausgekommen", starrte einer der beiden auf den zerfetzen Lederriemen.

"Durchgebissen", grinste Merle und das irre Leuchten in seinen Augen ließ es sie sogar glauben.

"Ich rufe Dr. Kalwin, kümmere du dich um Frau Jochimsen", sagte der ältere der beiden mit einem Blick auf Viola, die mit blutverschmiertem Gesicht und zerrauftem Haar ein echtes Bild des Jammers bot.

"Alle wollen sich um sie kümmern", kommentierte Merle zynisch. "Aber ihr scheint das gar nicht zu gefallen."

"Halt's Maul, du verdammtes Schwein", versetzte der Pfleger, der gerade zu Viola gehen wollte, Merle einen Schlag ins Gesicht, der ihn für kurze Zeit verstummen ließ. Als er Viola aufhelfen wollte, kam bereits Dr. Kalwin hereingestürzt. Er ließ seinen Blick flüchtig durch den Raum schweifen und eilte dann zu Viola, die immer noch wie gelähmt auf dem Boden saß.

"Hat er dir etwas angetan?" fragte er so entsetzt, daß Viola sich ihrer Rolle beinah schämte und den Kopf abwenden mußte, als sie seine offenkundige Befürchtung mit einem Nicken bestätigte. Dr. Kalwin deutete ihre Scham als Bestätigung des Widerwärtigen, das ihr gerade widerfahren war.

"Wie konnte es dazu kommen? Ich dachte, ihr steht vor der Tür und paßt auf! Und ihr laßt diese Mißgeburt über die Frau herfallen", herrschte er plötzlich die beiden Pfleger an, als könnte er einer Konfrontation mit den Tatsachen auf diese Weise entkommen. Viola registrierte mit einem seltsamen Gefühl, daß er sie "die Frau" genannt hatte.

"Wir haben wirklich nichts gehört", beteuerten die beiden hilflos. "Und schreien konnte Frau Jochimsen zuerst nicht, weil er ihr mit dem Halstuch den Mund verbunden hatte. Als wir kamen, hat das Schwein sich gerade die Hose wieder zugeknöpft."

Dr. Kalwin zuckte unter dem letzten Satz zusammen wie unter einem Hieb. Sein Gesicht war aschfahl.

"Das ist mein Geschenk an dich, Dr. Kalwin", feixte unterdessen Merle, der Dr. Kalwins Reaktion geradezu gierig verfolgt hatte. "Du wirst immer daran denken müssen, daß Merle vor dir dagewesen ist. Und du wirst dich fragen, ob er nicht vielleicht besser gewesen ist als du", er kicherte begeistert. "Und wenn du sie heiratest, wissen hier alle, daß Merle die Frau vom Chef auch schon mal ausprobiert hat."

Viola empfand Merles Zielsicherheit, mit der er den Arzt traktierte, beinah als beängstigend. Sie spürte, wie Dr. Kalwin sich bei seinen Worten immer mehr versteifte und sich mit aller Kraft beherrschen mußte, um sich nicht auf Merle zu stürzen. Dafür waren zu viele Zeugen im Raum. Hatte sie ihm doch mehr bedeutet, als sie ahnte?

Doch als Viola den Kopf hob und seinem Blick begegnete, erkannte sie die ganze Wahrheit. Nicht die Spur von Anteilnahme lag in seinen Augen, die sie anstarrten wie eine Fremde, sondern eine Mischung aus verhaltenem Abscheu und zutiefst verletzter Eitelkeit. Sicherlich, sein Schmerz war echt. Aber mit der gräßlichen Verfassung, in der sie sich jetzt allem Anschein nach befinden mußte, hatten Dr. Kalwins Qualen nicht das geringste zu tun. Er litt lediglich um sich selbst.

"Vielleicht solltest du sie desinfizieren", kostete Merle seinen Triumph weiter aus.

"Bringt ihn hier raus", befahl Dr. Kalwin den Pflegern mit eiserner Selbstbeherrschung.

"Du warst großartig", raunte Merle Viola anzüglich und für alle vernehmlich zu, als er an ihr vorbeigeführt wurde, was ihm immerhin einen derben Rippenstoß des Pflegers eintrug.

Dr. Kalwin trug einer der herbeigeeilten Schwestern, die Viola eine Decke gereicht hatte, auf, sich um sie zu kümmern. Die Schwester sollte, falls nötig, einen Gynäkologen rufen. Viola ein paar tröstliche Worte zu sagen, erforderte offensichtlich mehr Nähe, als er momentan ertragen konnte.

Die junge Schwester nahm Viola sanft am Arm und führte sie hinaus. "Kommen Sie erst einmal mit mir ins Schwesternzimmer, da ist um diese Zeit niemand", schlug sie ihr teilnahmsvoll vor. "Ich braue uns einen guten Kaffee, und dann überlegen wir zusammen, was zu tun ist."

Viola nickte nur stumm. Daß sie tatsächlich erschüttert war, hatte nichts mit Merle zu tun. Er hatte sich an die Vereinbarung gehalten. Und er hatte Dr. Kalwin genau richtig eingeschätzt. Daß sie sich jetzt tatsächlich erniedrigt und besudelt vorkam, lag viel mehr an Dr. Kalwins Verhalten. Es war eben doch etwas anderes, eine Möglichkeit in Gedanken durchzuspielen, oder mit der tatsächlichen Bedeutung des Wortes "Schande" konfrontiert zu sein. Sie konnte sich nicht daran erinnern, daß sie jemals so angesehen worden war wie eben von Dr. Kalwin. So sah man keinen Menschen an, sondern ein widerwärtiges, besudeltes Objekt, das zu berühren einen ekelte.

"Kümmern Sie sich um Frau Jochimsen", hatte er zu der Schwester gesagt und sich dann abgewandt, als wäre sie gar nicht mehr vorhanden. Und so verhielt es sich für ihn wohl auch. Eigentlich konnte sie sich gratulieren. Offenbar war Merles Plan ein voller Erfolg geworden. Sie hoffte nur inständig, daß der Schmerz, den Merle Dr. Kalwin durch die scheinbare Mißachtung seines Besitzanspruchs auf ihren Körper zugefügt hatte, intensiv und langanhaltend war.


*


Dr. Kalwin hatte dem Personal noch einige Anweisungen erteilt und sich dann in seinem Sprechzimmer zurückgezogen. Erst hier erlaubte er sich, die Maske eiserner Selbstbeherrschung fallen zu lassen. Wut und tiefe Enttäuschung beherrschten seine Züge. Hart biß er die Zähne aufeinander. In seinem Innern brannte ein Schmerz, der nach Vergeltung schrie. Aber er würde Merle jetzt nicht heimzahlen können, was er ihm angetan hatte. Es würde eine Untersuchung geben, und wenn Merle bei einer Behandlung durch ihn in der nächsten Zeit etwas zustieß, würden die Leute Mutmaßungen anstellen. Wenn er erst einmal im Verdacht des Amtsmißbrauchs stand, war es um seinen untadeligen Ruf geschehen. Es gab zu viele Ärzte, die gern eine Station leiten würden. Unter anderem Dr. Beck.

Immer wieder ballte Dr. Kalwin in ohnmächtiger Wut die Fäuste. Wer ihn in seiner Erregung sah, hätte ihn sicher für einen Patienten am Rande einer Nervenkrise gehalten. Viola war die erste Frau gewesen, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen konnte. Doch sobald Dr. Kalwin jetzt an sie dachte, dachte er auch an Merle und ihm wurde speiübel vor Abscheu und Zorn. Intimitäten mit Kreaturen wie Merle grenzten bei ihm an Sodomie, ob freiwillig oder nicht. Merle war für ihn die Verkörperung all dessen, was er zutiefst verabscheute, war der Wurm im krankhaft veränderten Darminhalt einer wehleidigen, maroden Gesellschaft. Die Vorstellung, über Viola auch nur indirekt in intimen Kontakt mit diesem Abschaum zu treten, war ihm ganz und gar unerträglich.

Nachdem er seiner Erregung einigermaßen Herr geworden war, hielt Dr. Kalwin es für das beste, seine Tagesroutine wieder aufzunehmen. Auf diese Weise würde er am schnellsten zu seiner alten Gelassenheit zurückfinden. Er trank noch eine Tasse Kaffee, straffte sich und trat dann festen Schrittes auf den Flur hinaus. Niemand sah ihm an, wie schwer es ihm heute fiel, sich um die Menschen zu kümmern, die er weniger denn je seiner Aufmerksamkeit für wert erachtete. Der fast übermächtige Wunsch, eine Glaswand um sich herum zu errichten, erfüllte ihn, als er schließlich in Preachers Zimmer trat, um mit der Visite zu beginnen ...

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 5. März 1998

16. April 2007