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BERICHT/085: Mein Istanbul (welt der frau)


welt der frau 7-8/2010 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Mein Istanbul

Von Christine Haiden


Seit neun Jahren leben die Österreicher Elisabeth und Norbert Kinzinger in der Stadt am Bosporus. Sie zeigen exklusiv für "Welt der Frau" ihren Blick auf die Stadt und führen auf Wege abseits der Touristenrouten.


Kaffee oder Museum? Klar, Museum! Schnell stelle ich den Koffer ab. Elisabeth Krinzinger schlüpft in flache Schuhe. Ein kontrollierender Blick auf meine Füße: "Können Sie damit bequem laufen? Wissen Sie, wir gehen in Istanbul fast alles zu Fuß!" Als ich drei Tage später wieder abreise, schnurrt ein Muskelkater in den Waden. Istanbul liegt auf sieben Hügeln, ich spüre es.

Wir eilen hinunter vom Wohnhaus von Elisabeth und Norbert Krinzinger im Stadtteil Cihangir zum Museum "Istanbul Modern" am Bosporus. Immer donnerstags durchstreift das Lehrerpaar die aktuelle Ausstellung. "Wir schauen uns einzelne Bilder genauer an, interessieren uns, ob etwas umgehängt wurde oder neu gekommen ist." Ich lerne meine Gastgeber kennen, die mich drei Tage lang auf ihren Wegen mitnehmen werden.


Eine freie Stelle

Nach Istanbul zu übersiedeln, "war ein lange gehegter Wunsch meines Mannes", erzählt Elisabeth Krinzinger unterwegs. Beide Töchter waren erwachsen und verheiratet, als am St.-Georgs-Kolleg, einem privaten Gymnasium der Lazaristen, dessen Lehrkräfte die Republik Österreich bezahlt, eine passende Stelle frei wurde. Auch wenn sie selbst keine Arbeitsbewilligung als Lehrerin bekommen konnte, riet sie ihrem Mann, sich als Biologie- und Lateinlehrer zu bewerben. Neugier sei es vor allem gewesen, noch einmal etwas Neues zu machen, mit gut 50, was sie angetrieben habe.

Zügig marschieren Norbert und Elisabeth Krinzinger durch die Ausstellung des privaten Museums. Erzählen mir von KünstlerInnen, die in Paris oder anderswo in Europa studiert haben und nun die Szene in Istanbul bereichern. Die Kunst, das erfahre ich dann später noch, ist ein Herzensanliegen der beiden. Norbert Krinzinger betreut an seiner Schule sogar eine kleine Galerie. Dass seine Schwägerin Ursula Krinzinger in Wien eine der renommiertesten Galerien betreibt, scheint dann schon kein Zufall mehr.


Erste Eindrücke

Nach dem Museumsbesuch haben wir es eilig, laufen zum Bus, der uns zum Deutschen Archäologischen Institut bringt. Von der modernen Kunst zur antiken. Wer sich, wie das Ehepaar Krinzinger, für Geschichte interessiert, ist in Istanbul richtig. In einer der ältesten Städte der Welt schichten sich die Zeitalter im wahrsten Sinne übereinander. Momentan baut man gerade an einem neuen Bahnhof und einer weiteren U-Bahn-Linie. Wo immer man hineingräbt, stößt man auf Reste historischer Bauten. Lästig für die Ingenieure, faszinierend für die Archäologen. Vorträge im Rahmen von europäischen Kulturinstituten sind abseits ihres wissenschaftlichen Wertes für das Ehepaar Krinzinger gute Gelegenheiten, Bekannte zu treffen. "Und man erfährt immer, was es Neues in der Stadt gibt." Elisabeth Krinzinger stellt mir die Übersetzerin Ingrid Iren vor. Die heute 80-Jährige hat, sagt man mir ehrfürchtig, sogar Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk übersetzt. Sie erzählt uns lieber von einem "Frauenmuseum". "Noch nie davon gehört", meint Elisabeth. Wo das sei? Am Goldenen Horn, bei den großen Speichern. "Norbert, da gehen wir beim nächsten Mal unbedingt vorbei", sagt Elisabeth.


Das Alte und die Veränderung

Am nächsten Morgen, beim Frühstück, fühle ich mich auf der Loggia der Wohnung von Elisabeth und Norbert Krinzinger wie in einem riesigen Freiluftkino. Rechts die Altstadt mit den schlanken Türmen der Hagia Sophia und der Blauen Moschee, geradeaus die Anlage des Topkapi Sarayi, links der Blick hinüber zur asiatischen Seite der Stadt. Unübersehbar die Wasserzunge des Goldenen Horns. "Da gehen wir oft weit hinauf, zwei, drei Stunden." Guten Morgen, liebe Füße! Wir nehmen aber heute zuerst die Straßenbahn und fahren hinaus vor die alte Stadtmauer. "Vor ein paar Wochen waren die Häuser noch da", zeigt Elisabeth Krinzinger auf die von Baggern planierten Hänge neben der Mauer. Die Siedlungen der Roma werden geschleift, die Menschen müssen sich eine andere Bleibe suchen. Elisabeth Krinzinger hat einen besonders ausgeprägten sozialen Blick auf die Stadt. Ihr sind auch die vielen schwarzafrikanischen Flüchtlinge aufgefallen. Seither engagiert sie sich in einem ökumenischen Flüchtlingshilfswerk. Auf halbem Weg kehrt Elisabeth um. Sie erwartet Gäste.


Streitfall Religion

Nach der Chora-Kirche fahren wir mit dem Bus weiter, hinauf zum Ende des Goldenen Horns. Die Füße danken. Und tragen mich dann willig zur Eyüp Moschee. "Hier ist der Bannerträger des Propheten begraben", weiß Norbert Krinzinger. Die Männer knien sich auf dem Vorplatz gerade zum Freitagsgebet auf weiße Papierblätter. Scharen von Frauen mit Kopftüchern und langen Mänteln sitzen im Schatten der Sträucher. Imbissbuden und Devotionalienstände säumen das Gelände. "Das ist wie bei uns Mariazell", will Norbert Krinzinger mir die Einordnung erleichtern. Stolz geht ein gut sechsjähriger Stöpsel in golddurchwirktem Prinzengewand an der Hand seiner verschleierten Mutter vorbei. "Er feiert die Beschneidung. Das ist ein großes Fest", hilft mir Norbert abermals weiter. Kaum eine Frau in diesem Teil der Stadt, die nicht Kopftuch trägt. Staatsgründer Atatürk verbot in den 1920er-Jahren das Kopftuch. Spätestens seit die Frau des amtierenden Staatspräsidenten Erdogan öffentlich mit Kopftuch auftritt, stehen sich laizistische und religiöse TürkInnen fast feindselig gegenüber. Über den Kopf der Frauen entscheidet sich der Weg in die Moderne? "Am Kopftuch zeigt sich die innere Spannung der Türkei", meint Norbert Krinzinger. Istanbul ist die Stadt mit dem größten Zuzug aus dem Inneren des Landes. Die europäisch orientierten IstanbulerInnen sehen ihre eigenen, oft bäuerlich geprägten Landsleute, denen der Islam eine Stütze in den Ungewissheiten des Lebens ist, mit Befremden. Und führen in den Stadtvierteln rund um die Istiklal-Straße, die Flaniermeile der Stadt, weiter ihr betont westliches Leben.


Fremde lieben das Andere

Norbert will mir noch etwas vom "typischen" Istanbul zeigen. Wir stehen am Eingang des Basarviertels. Ein schneller Döner mit einem Becher Ayran, verdünntem, gesalzenem Joghurt, reicht als Verpflegung. Wir schieben uns hinein in das Gewühl von Händlern, KäuferInnen, kamerabewehrten TouristInnen und unverdrossen die Kinderwagen über zahllose Zehen steuernden Müttern. Die Händler ballen sich nach Branchen. Am Anfang kommen jene mit den großen Kupferkesseln und den Blechtöpfen. "Ich kaufe alle Eisenwaren hier, obwohl es am Stadtrand die Baumärkte gibt", sagt Norbert. Der modernen Konsumwelt kann das Ehepaar ohnehin wenig abgewinnen. Noch nie hatte man ein Auto, man braucht kein Handy und gibt Geld lieber für Kunst als für Markenkleidung aus.


Gewürze und Teppiche

Norbert Krinzinger lässt sich am Freitag, nach Schulschluss, gerne durch das Gewühl des Händlerviertels treiben. Besucht seinen Gewürzhändler, den einzig seriösen, wie er sagt, einen Apotheker, und kehrt bei Erol, dem Teppichspezialisten im Zentrum des Großen Basars, ein. Erol ist ein besonderer Freund, einer, wie er in Istanbul unentbehrlich ist. Vor allem für "Zugezogene". Erol verhandelt jedes Jahr mit dem Eigentümer die Verlängerung des Mietvertrages der Krinzingerwohnung, er organisiert Handwerker, die ordentlich arbeiten, und er schickt gelegentlich eine Kiste Orangen aus dem eigenen Garten an der Südküste vorbei.

"Was möchten Sie sehen?", fragt Erol mich. Und entrollt ganz beiläufig ein paar Teppiche. Erzählt dabei von Bill Clinton und Jimmy Carter, von Joschka Fischer und Yul Brynner, die alle schon bei ihm im Geschäft waren. Weiß die schönsten Geschichten von den jungen Kurdinnen, die Teppiche als ihre Aussteuer von Hand knüpfen, und erzählt von der Jagd nach alten Stücken, die noch eine "Seele" haben. Mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung bedeutet er seinem Assistenten, welchen Bodendecker er als nächsten auflegen soll. Es wird Zeit zu gehen, die Verführungskünste wirken.


Vom Dazugehören

Der Muezzin weckt uns früh. Die Nachbarin nebenan hat ihr Gebet wie jeden Tag auf dem Balkon verrichtet und sich danach eine Zigarette angesteckt. "Gestern war ein Feiertag. Ich habe die Wäsche zum Trocknen hinaus gehängt. Deswegen hat mich die Nachbarin geschimpft. Alle anderen würden an so einem Tag ihr Haus beflaggen, nur ich nicht. Eine unselige ,yabanci' sei ich", erzählt Elisabeth Krinzinger. "Auch nach so vielen Jahren sind wir immer noch die ,blöden Ausländer'", ärgert sie sich. Aber nur kurz.

Was machen wir mit diesem sonnigen Tag? "Am Samstag fahren wir gern nach Asien." Als einzige Stadt der Welt liegt Istanbul auf zwei Kontinenten. Wir besteigen das Schiff nach Asien und schlendern dort durch die Straßen des Stadtteils Kadiköy, gustieren in kleinen Antiquitätenläden und stärken uns mit Simit, den köstlichen Sesamkringeln. Ich kann nicht widerstehen, bei einem der Gaukler ein "Hasenorakel" zu befragen. Der etwas struppig wirkende Mann hält ein Tablett mit kleinen Zettelchen einem Hasen hin, der brav auf seinem Podest sitzt. Der Hase schnappt nach einem Papierchen, der Mann entzieht es ihm sofort und liest vor: Mein größter Wunsch, Beamter der Regierung zu werden, würde in Erfüllung gehen, und viel Geld gebe es obendrein. Wenn das nicht vielversprechend ist!


Mondlicht am Bosporus

Um sechs Uhr abends legt bei der Neuen Moschee das Verkehrsboot ab, das uns zum Tagesausklang durch den Bosporus, die Meerenge zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer, fährt. Wir sitzen zwischen müden Menschen, die von der Arbeit nach Hause fahren, und passieren eine wunderbare Kulisse aus alten Holzhäusern, prächtigen Villen, unter anderem auch der Österreichischen Botschaft. Wie Wellen branden grüne Hügel an die Ufer heran. Der Untergrund zu dieser wunderbaren Kulisse ist allerdings nicht ungefährlich, erzählt Norbert Krinzinger. Widerstreitende Strömungen haben schon vielen Schiffern das Leben schwer gemacht. Auch Erdbeben bedrohen die Idylle. Aber das Leben pulsiert. In einem der Lokale am Ufer wird Hochzeit gefeiert. Musik klingt herüber. Wir nippen an unserem Tschai, dem schwarzen Tee.

Von der Endstation des Schiffes fahren wir mit dem Bus durch die Neubauviertel in die Stadt zurück. Ob nun 13 oder 15 Millionen EinwohnerInnen - Istanbul wächst ständig. Und sieht an den Rändern aus wie jede beliebige andere Weltstadt. Hohe Häuser, wie Zündholzschachteln nebeneinandergestellt, kaum Grünflächen, gesichtslose Vorstädte.


Gemüse und Schokolade

Wir queren den Taksim, den zentralen Platz des modernen Istanbul. Samstagnacht. Voll, laut, jung. Wir weichen in eine Nebenstraße aus. Vom dritten Stock eines Hauses lässt eine Frau gerade einen Korb an einem Seil hinunter. Ein Gemüsehändler, der Pferd und Anhänger vor dem Haus geparkt hat, befüllt ihn mit Erdbeeren, Gurken und Trauben. In einem Supermarkt nebenan, der rund um die Uhr geöffnet hat, kaufen wir Pul Biber, das türkische Universalgewürz, und in einer der edlen Konditoreien können wir bei Schokolade nicht widerstehen. Dann marschieren wir zügig Richtung Wohnung. Elisabeth Krinzinger schlüpft aus den Schuhen, macht es sich auf ihrem Lieblingsplatz in der Loggia bequem und blickt hinaus auf das dunkle Schwarz des Bosporus, die Sterne, die hohen Türme der Minarette, die bauchigen Kuppeln der Moscheen. Ich setze mich neben sie. Für eine Weile ist es ganz ruhig. "Eine faszinierende Stadt", sage ich. "Trotzdem freue ich mich, wenn wir wieder zurück nach Österreich gehen", erwidert Elisabeth.


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MEIN ISTANBUL: 10 INSIDER-TIPPS

Von Elisabeth und Norbert Krinzinger


1 Istanbul Modern: Das größte private Museum in der Stadt, untergebracht in ehemaligen Lagerhallen am Meer, das sich auf türkische Kunst der Gegenwart spezialisiert hat. In der Nähe der S-Bahn-Station Tophane. Donnerstags immer mit Gratiseintritt (bis 20 Uhr), sonst geöffnet dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr.

2 Bootsfahrt am Bosporus: Abends um 18 Uhr legt das reguläre Verkehrsschiff bei Eminönü, nahe der Neuen Moschee, ab. Für geringes Entgelt geht es eineinhalb Stunden durch die Meerenge des Bosporus, entlang beeindruckender Villen und schwungvoller Hügel. Zurück mit dem Dolmus (Kleinbus, der überall hält, wo er gebraucht wird) oder einem Linienbus.

3 Rüstem-Pascha-Moschee: Ein architektonisch prototypischer Bau, der Moschee, Schule und Geschäftshaus vereint. Im Inneren prächtiger Fayencenschmuck. Vor dem Eingang in den ägyptischen Basar, an der Ecke Uzun Carsi Cad./Kutucular Cad.

4 Kariye Camii - Chora-Kirche: Eine der ältesten christlichen Kirchen in der Stadt mit äußerst sehenswerten Fresken und Mosaiken, um 1315 entstanden. Maria, die Muttergottes, wird besonders gewürdigt. Stadtteil Edirnekapi, geöffnet täglich (außer mittwochs) von 9 bis 17 Uhr.

5 Auf den Dächern des Basars: Rund um den Großen Basar gibt es viele "Han", Gewerbehöfe aus der Zeit der Sultane. Es lohnt, sich zum Beispiel im Büyük Valide Han von Mitarbeitern der Gewerbebetriebe auf die Dächer führen zu lassen. Wunderbarer Blick über die Stadt!

6 St.-Georgs-Kolleg: Die österreichische Schule der Lazaristen genießt in Istanbul einen ausgezeichneten Ruf. Die Galerie und die Kirche stehen BesucherInnen offen. Im Stadtteil Galata, nahe der Metro-Station Tünel oder S-Bahn-Station Karaköy.

7 Spaziergang in Asien: Mit dem Linienschiff von Karaköy nach Kadiköy zu fahren, bedeutet, eine Reise von Europa nach Asien zu machen. Im beschaulicheren Teil Istanbuls lohnt sich ein Spaziergang durch die Stadt bis zum beliebten Teehaus in Moda und auf der Uferpromenade zurück.

8 "Balik Ekmek" bei der Galata-Brücke - "Fish and Chips" auf Türkisch: ein Weißbrot mit gebratenen Makrelen, Ketchup und Senf in einem der Restaurants unterhalb der Galata-Brücke. Kein Gourmet-Menü, aber ein "Must".

9 Topkapi Sarayi: Der riesige Sultanspalast im alten Stadtteil Sultanahmet gehört zum touristischen Fixprogramm. Elisabeth Krinzinger empfiehlt, die Schatzkammer und den Harem wegzulassen, wenn man nicht den ganzen Tag im Areal verbringen will. Die große Zisterne ist ganz in der Nähe.

10 Sonntagsmarkt in Beyoglu: Abseits der touristischen Istiklal Caddesi in der Gegend bis Kasimpascha schlagen jeden Sonntag die Händler aus den Dörfern ihre Zelte auf. Von Gemüse bis Socken ist alles da!


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Juli/August 2010, Seite 57-61
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2010