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METROPOL/003: London - Englische Hauptstadt oder nur noch Hauptstadt Englands? (SB)


London - Englische Hauptstadt oder nur noch Hauptstadt Englands?


Wer kennt sie nicht die roten Telefonzellen und Busse, Big Ben und Westminster und ihre weltberühmten Bewacher mit den puscheligen Mützen. Wir alle sind auf die eine oder andere Weise mit ihnen aufgewachsen. Märchenfilme wie Peter Pan und Mary Poppins gaben uns die Vorlage zu Träumen von Flügen um Londons berühmtesten Turm und Spaziergängen vorbei an altehrwürdigen Parkbänken unter scheinbar unerschütterlichen Blätterdächern.

"Twentynine to Wood Green" - Stunden habe ich in dem Bus dieser Linie verbracht, der sich vom Zentrum in den Norden der Stadt hocharbeitet, nicht selten auf dem Weg zum Post Office, dem englischen Postamt. Von eben hier stammen auch die ersten Eindrücke dieser Stadt - und sie werden das Bild auch weiter bestimmen. Ein Bild, das sich ergänzt durch viele Teile, die täglich hinzukommen. Ein Bild, das nicht nach Vollständigkeit strebt, jedoch einen nagenden, verwirrenden Eindruck hinterläßt.

Ich steige aus und bin - in Afghanistan ... nein, Moment, eindeutig in Polen. Beschämt durch meinen Mangel an Einschätzungsvermögen schaue ich mir die Auslagen der kleinen Geschäfte an und treffe auf Läden, in denen sich der polnische Teil der Bevölkerung das Essen in seiner Muttersprache auswählen kann, komme aber überwältigt durch die bunten arabischen Gewänder im Nachbarladen still und heimlich zu dem Schluss, mich wohl doch in der englischen Hauptstadt befinden zu müssen, da jede andere Überlegung in beängstigende Sackgassen führen würde. Und richtig, bei einem Blick nach oben werde ich mir auch über die eindeutigen Merkmale bewußt, es ist vier Uhr nachmittags, der Himmel verdunkelt sich langsam und ein feuchter Geruch von Nebel und Kälte dringt zu mir vor. Es ist November in Nordlondon, irgendwo zwischen Manor House und Turnpike Lane.

Wir alle haben in der Schule gelernt, daß es keinen Unterschied zwischen den Menschen der verschiedenen Länder gibt. Viele von uns wurden sogar erst da auf die Idee gebracht, daß es einen Unterschied geben könnte und der Kanal möglichen rassistischen Gedankenguts wurde erst durch Lieder wie: "Schwarze, Weiße, Rote, Gelbe - Gott hat sie alle lieb..." in Betrieb gebracht. So auch bei mir. Ich bin der Meinung, daß es wirklich eine Menge wichtige Dinge auf der Welt gibt und die Themen Rasse oder Nation mit Sicherheit nicht dazu gehören. Menschen sind Menschen.

London, Deptford. Bezeichnete ich die Deptford High Street meist lauthals als die deprimierendste Straße überhaupt, ging jedoch zugleich eine unübersehbare Faszination von ihr aus. Mit ihren wild zusammengewürfelten Geschäften, ihrem dominierend fischigen Geruch, den kleinen Cafés, die an einigen Ecken aus dem Boden sprossen und dem großen Markt, der von Zeit zu Zeit dort zu finden ist, ist der Charme dieser sehr schwarzen Ecke Londons nicht zu leugnen. Und trotzdem, genau dort, irgendwo zwischen der Kirche in der Seitenstraße und dem Laden mit den wunderschönen afrikanischen Stoffen am Ende der High Street, kam mir meine kleine rosa Brille der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit abhanden. Ich gehörte nicht hierher. Genauso wenig, wie ich in einen arabischen Kleiderladen gehöre. Ich vermute, egal wen ich hier fragen würde, so gut wie jeder würde dies von sich weisen und doch könnte es keiner vollständig wegleugnen.

Denn: es gibt die Gleichheit, auch in Sachen Brüderlichkeit verhält sich diese Stadt nahezu vorbildlich in den Grenzen der Möglichkeiten ihrer Massenbewältigung. Einzig die Freiheit, des Menschen höchstes Gut, mit ihr wurde nicht nur in der Kolonialgeschichte aufs verheerendste gebrochen.

Und so bin ich in dieser Stadt an einem Ort angekommen, der wie jeder andere auch seine Geschichte hat und sie, ebenfalls wie jeder andere auch, mit sich trägt. Die Geschichte des Commonwealth ist eine der Eroberung und London ein schwelender Repräsentant ihres Ergebnisses:

Diese Stadt ist die Welt im Miniaturformat, und wie auch die Welt sich nicht einfach zusammenfassen lässt, tut dies auch London nicht. Eins ist jedoch charakteristisch: Genauso wie es Millionen von Gründen für die Menschen gibt, hier zu sein, bestimmt auch der Raub von Freiheit und Kultur viele Menschen und Geschichten hier. Und seien auch die Mühen um Toleranz vielerorts in London beeindruckend, die Wunden, gerissen von den besseren Menschen, bestimmen den Duft dieser Stadt wie die Dämpfe der Tube. Überwältigende Eindrücke zu hunderten bestimmen das eben Geschriebene. Das berühmte Chinatown im Herzen der Stadt, oftmals ein Symbol für Exotik und Internationalität, trägt hierzu einen eher geringen Anteil bei.

Trocken setzt sich mir an so manchem schlaflosen Sonntagmorgen, wenn ich gegen sechs Uhr irgendwo zwischen Manor House und Angel im Norden der Stadt aus einem Bus steige, eine kratzende Gewißheit in die Kehle. Die Unüberwindbarkeiten, an die ich nicht glauben wollte, sie sitzen jetzt direkt neben mir im Bus. Möglicherweise geboren aus simplen Motiven, sind sie jetzt erwachsen geworden und führen nur ein vermeintlich kontrolliertes Eigenleben.

Mit diesem Kratzen im Hals also biege ich in einen Park ein und da, Sonntagsmorgens um sechs, finde ich sie unvermittelt, plötzlich, die erträumten Spaziergänge der Kindheit. Auf den Spuren von Mary Poppins gehe ich an altehrwürdigen Parkbänken unter dicken Bäumen mit meinem kratzenden Hals zusammen vorbei. Nach Stunden mache ich mich auf den Weg nach Hause, immer bedacht darauf, daß das Kratzen hier nicht auf der Strecke bleibt.



















Ich grüße aus dem Grün der dunklen Stadt
BB


8. Juli 2009