Schattenblick →INFOPOOL →UNTERHALTUNG → REISEN

METROPOL/011: London - Letztens in Hackney (SB)


Letztens in Hackney


Und Angst ist das Stichwort. Es ist vieler Dinge Stichwort. Die Großstadt hat jedoch einen gewaltigen Anteil von ihr eingekauft. Den nämlich, dem die dreckige Angst angehört. Nun mag dreckig hier nicht ganz das richtige Wort sein; ist es doch ein sehr profanes. Nenne ich es das Spiel, das Spiel der Angst, dem du wohl in den Wäldern Rumäniens so kaum begegnen würdest. Denn es ist ein Spiel der Menschen, eng verbunden mit einem zutiefst menschlichen Phänomen, das den Tieren in seiner spezifisch ausgefeilten Form von Grund auf fremd ist.

London ist eine grüne Stadt, und wenn man durch die Straßen läuft, glitzert nicht selten die Sonne in einem satten Gemisch aus grün und gelb durch die Äste und Blätter der Bäume. Der Asphalt ist je nach Jahreszeit heiß oder kalt, aber in jedem Fall gibt es diese kitzelnde Stimmung von Aufbruch, Freiheit und zugleich Sicherheit im Vertrauten nicht zu knapp in der Stadt, der eigentlich ein ganz anderer Ruf vorauseilt. Und da kristallisiert sich im selben sonnigen Moment auch schon heraus, was nach meinem Dafürhalten um einiges mehr die Stimmung beeinträchtigt als Wetterlagen oder andere Widrigkeiten. Es ist der Moment, an dem man eine Straße entlang geht, mit dem Ziel eine Adresse zu finden, bei der man zuvor noch nicht war. Ein Termin ist der Grund.

Ich hetzte also eine viel befahrene, scheinbar unendlich lange Hauptstraße entlang, ungeduldig nach einem Zeichen dafür suchend, daß ich die richtige Richtung gewählt habe. Aus dem Augenwinkel nahm ich links einen kleinen Park wahr. Rechts von mir reihten sich Häuser aneinander. Die aus der Ferne kommenden Polizeisirenen, welche ich bis eben gar nicht wahr genommen hatte, erreichten gerade ihren Höhepunkt an schmerzender Lautstärke, bevor sie abrupt kurz nacheinander verstummten. Erst jetzt war meine Aufmerksamkeit geweckt und ich wandte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stille kam. Direkt vor dem Park, schräg gegenüber von meinem derzeitigen Standpunkt aus, hatten eine Hand voll Polizeiautos gehalten, und ich sah nur noch etwa ein Dutzend Polizisten in großer Eile in das recht hoch gewachsene Gras stürzen und Kurs auf einen großen Wohnblock nehmen. Ich stockte, blieb stehen. Das war - so meine Karte - genau dort wo ich hin musste.

Unversehrt auf der jetzt ruhigen Dalston Lane stehend, schüttelte mich etwas, das wohl je nach Situation unterschiedlich ausgelegt würde. Es waren Tränen. Allerdings waren es sehr spezifische Tränen, die ihrer unumstößlichen Natur folgend nach innen flossen. Angst. Wohl völlig überzogen und im Leben nicht zugegeben, überflutet sie in Sekundenschnelle heiß und salzig das Innere und bringt Gedanken mit - die ohne richtig ausformuliert zu sein - von Heimweh, indifferenter Einsamkeit, Ohnmacht und Schmerz erzählen. Meine feste Überzeugung ist es, daß nicht Vernunft und klarer Menschenverstand es sind, welche mich weiter treiben - es ist die klar eingeprägte Lehre, die ich von jener Spezies mitnahm, welche auch das Spiel erfand: Schwäche ist keine Option. Denn in logischer Folge ist auch diese Lehre der menschlichen Handschrift entsprungen.

Stabbing. In London, einer Stadt, in der die Waffenverbotsgesetze so weit ausgefeilt sind, daß es einen gewaltigen Aufwand erfordert, an eine Schusswaffe oder ähnliches heranzukommen, sind Messerstechereien an der Tagesordnung. Die Adresse, zu der ich hin musste, liegt in Hackney, einer der Hochburgen des Stabbing und direkt gegenüber des Wohnblocks, der nun von Polizei umzingelt und belagert war. Als ich zwanzig Minuten später den Heimweg antrat, war klar: Hier wurde einer erstochen. Jugendliche, Bandenkriege - keine Frage! Ebenso - mehr als nur zu vermuten - war der Täter höchstwahrscheinlich in die Straße geflüchtet, aus der ich gerade kam.

Mein umsichtiges Selbst nickt nur. Beruhigt, daß dieser Eine der unendlichen Anzahl an Schauern, die mich in meinem Leben bis dahin schon ereilt hatten, wohl als einziger offiziell als nicht überzogen gilt! Juhu!

Doch bitte schaut nicht und fragt nicht, wenn ihr mich nachts allein durch Londons kleine Straßen eilen oder auch am hellichten Tag durch Soho laufen seht. Denn sie ist verrückt, die da läuft. Besessen von dem Gedanken, was alles dazwischen liegt. Zwischen dem Moment, wo es dich erwischt und jenem, wo das Tier nur noch das Licht ausschaltet. Es ist die Lust am Schmerz, die Freude an der Angst - der Sadismus.
















Ich grüße aus der dunklen Stadt
BB


24. Juni 2010