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SCHLUCKAUF/0055: Kolonialware Kollektiv? - Nachtisch & Satire (SB)


Kolonialware Kollektiv?


Als sensationelles Zeitdokument bezeichneten Historiker das kürzlich aufgefundene Fragment eines Briefwechsels zwischen Karl Marx in London und einem gewissen Dr. phil. Arthur Glodau, Professor für Völkerkunde und Anthropologie, der mit Marx offenbar zeitweilig in Briefkontakt stand. Vermutlich aus Sorge um das Renommee ihres Mannes soll Jenny Marx einen bestimmten Brief Glodaus zusammen mit einer Vorschrift von Marx' Rückantwort in einer Blechschachtel im Garten ihres gemeinsamen Hauses vergraben haben, wodurch beide Schriftstücke im Gegensatz zum Rest des Briefwechsels erhalten geblieben sind.

Obwohl die Karl-Marx-Gesellschaft die Echtheit von Brief und Antwortbrief bestreitet, veröffentlicht der SCHLUCKAUF beide ungekürzt. Denn letztlich tut ihre Echtheit wenig zur Sache, da Karl Marx in seinem damaligen kolonialen Londoner Akademikerumfeld hochwahrscheinlich zu irgend einem Zeitpunkt mit einer ähnlichen Entscheidung konfrontiert worden ist, wie Arthur Glodau sie ihm brieflich abverlangt.

Vor der Lektüre möge der Leser sich noch vergegenwärtigen, daß zu der Zeit, als Karl Marx sich in London aufhielt, abgesehen von der Innovation der Bekleidungs- und Ernährungsgewohnheiten auch die europäische Geisteskultur im Kontakt mit den Völkern der Kolonien zahlreiche Impulse erhielt. Offen zugegeben wurde das von den weißen Usurpatoren jedoch so gut wie nie.


Südwest-Afrika, den 25. Januar 1850

Verehrter Karl,

wie Du weißt, hat mir meine wissenschaftliche Unvoreingenommenheit bei meinen völkerkundlichen Studien in Akademikerkreisen längst den Ruf eingetragen, nicht nur der Zivilisation entfremdet, sondern auch hoffnungslos vernegert zu sein. Du bist einer der wenigen, denen ich noch ohne Vorbehalte von meinen Einblicken in die Stammeskulturen dieser teils noch gänzlich unberührten Regionen des schwarzen Kontinents zu berichten wage.

Daß mich besagter Vorwurf nicht sonderlich anficht, mag meinethalben dessen Gültigkeit bestätigen. Ich bin vom hohen Werte unserer Zivilisation wie auch von der charakterlichen Überlegenheit unserer Rasse weniger überzeugt denn je. Doch davon genug. Mein Standpunkt ist Dir zur Genüge vertraut.

Dein reges Interesse an meinen Erfahrungen mit den San (die übliche Bezeichnung "Buschmänner" ist mir für diese bemerkenswerten Menschen zu abgeschmackt) freut mich außerordentlich. Zumal die Mehrheit der hier ansässigen Weißen den Standpunkt vertritt, die San wären eine Art Affen und sich einen Sport daraus machen, sie im Vorübergehen niederzuschießen.

Der Einblick, den die San mir als das vermutlich älteste Volk dieses Kontinents in ihre höchst erstaunliche Lebensweise gewährten, bestätigt mich erneut in meiner Auffassung, daß wir Weiße im Zuge unserer zivilisatorischen Entwicklung sozial unbeschreiblich degeneriert sind. Du schildertest mir anschaulich das Elend der Wuppertaler Gerber und Fabrikarbeiter und vor allem der vielen Kinder, die quasi in den Fabriken aufwachsen und nach ein paar Jahren Sklavenarbeit zugrunde gehen. Wie kann man auf eine solche Kultur stolz sein? Unvorstellbar!

Bei den San findet sich demgegenüber keinerlei Bestreben, den anderen zu dominieren oder gar auszubeuten. Es gibt keinen Besitz. Dementsprechend ist ihnen auch kein Handel vertraut. Wer etwas benötigt, bekommt es selbstverständlich von den anderen geschenkt. Über Gruppenbelange wird ausschließlich gemeinsam entschieden. Spezielle Berufe sind unbekannt. Jeder tut, was er am besten kann und am liebsten tun möchte. Sämtliche Verrichtungen des Alltags werden mit einer in unserer Lebenswelt unbekannten Achtsamkeit ausgeführt. Die gesamte Umgebung ist darin einbezogen. Wenn eine San-Gruppe beschließt, weiterzuziehen, hinterläßt sie im Urwald keine völlig abgeernteten Sträucher, niedergewalzten Grasflächen und abgebrochenen Äste, sondern nach Möglichkeit keinerlei Spur. Was Dich besonders begeistern wird: Die einzelnen, meist um die 50-150 Personen zählenden San-Gruppen gehören einem lockeren Gesamtverbund an, innerhalb dessen sie einander in jeder Hinsicht unterstützen, ohne daß es irgendeiner übergeordneten Regierungsstruktur bedarf.

Karl, hier gibt es Menschen, die ganz selbstverständlich auf eine Weise zusammenleben, die gerade Dir als überzeugtem Sozialisten die Tränen in die Augen treiben müßte. Diese Lebensweise läuft Gefahr, von der ach so überlegenen weißen Zivilisation vernichtet zu werden! Gehörte es da nicht zu Deinen heiligen Pflichten, gewissermaßen als Gesinnungsverwandtem, für diese Menschen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln einzutreten? Repräsentiert ihre Lebensweise nicht sogar das Prinzip des kommunistischen Kollektivs? Und geht ihre egalitäre Kooperation der einzelnen Kollektive nicht sogar über vieles von Kommunisten Vorgedachtes hinaus? Ich meine ja, Karl, und ich bitte Dich, Deinen inzwischen erheblichen Einfluß in den Kreisen gesellschaftspolitisch denkender Geister geltend zu machen dafür, daß die San als lebendes Beispiel weiterexistieren können und wie beispielhaft sie dafür wären, daß weder Besitz- noch Herrschaftsstrukturen dem Menschen von Natur aus vorgegeben sind!

In freudiger Erwartung Deiner Antwort verbleibe ich

Dein Freund Arthur


*


Folgende, mit zahlreichen Korrekturen versehene Vorschrift einer Rückantwort von Karl Marx war dem Brief von Glodau beigelegt:


London, den 10ten Mai 1850

Teurer Arthur!

Es gibt Lebensmomente, die sich wie Grenzmarken vor eine abgelaufene Zeit stellen, aber zugleich mit Bestimmtheit auf eine neue Richtung hinweisen. Eine solche Grenzmarke erkenne ich in Deinem Anliegen, mein lieber Arthur, und ich bedauere unendlich, Deinen in mich gesetzten Hoffnungen nicht entsprechen zu können. Das ist mir in mancher Hinsicht ein harter Schritt, aber alle Rücksichten fallen zusammen vor der Erfüllung meiner selbstgewählten Pflichten. Ich fühle mich gedrungen, allein dem am Orte Gegenwärtigen meine Kraft und Aufmerksamkeit zu schenken, namentlich dem himmelschreienden Elend der niederen Klassen der kapitalistischen Gesellschaftsordung, ohne mich in einer wie wohlbegründet auch immer erscheinenden Rettungsmission eines fernen Negerstammes zu verzetteln.

Glaube mir, mein teurer, lieber Arthur, keine eigennützige Absicht drängt mich und keine vorgefaßte, abschätzige Meinung über das von Dir so eindrucksvoll erlebte Buschmanndasein im Urwald. Vielmehr bedurfte es für mich durchaus Deiner freundschaftlichen Anfrage, um zum Bewußtsein meiner wirklichen Stellung und meines eigentlichen Wirkungskreises zu gelangen. Den Menschen hier die Prinzipien des dialektischen Materialismus zu vermitteln wird beschwerlich genug werden. Da kann es der Sache nicht dienlich sein, gerade das Kollektiv als Höhepunkt unseres gemeinsamen Strebens mit der Vorstellung von einem Buschnegerkral zu vermischen (wie hochentwickelt das Miteinander dort auch sein mag).

Daß ich in der Öffentlichkeit weiterhin mit Hochachtung von Deiner wissenschaftlichen Arbeit sprechen werde, versteht sich von selbst. Doch verzeih, wenn ich mich hinsichtlich ihres konkreten Gegenstandes, namentlich besagten San, fortan nach allen Seiten hin bedeckt halten werde, um jede irritierende Vermengung meiner eigenen Arbeiten mit Deinen Entdeckungen hinsichtlich des menschlichen Miteinanders und seiner zugrundeliegenden Werte zu vermeiden. Denn die Bezeichnung meiner Arbeiten als die europäische Version eines als Kolonialware importierten Neger-Sozialismus wäre mir sehr schmerzlich. Gleichwohl versichere ich Dir, die (noch) reale Existenz dieses Volkes wird immer ein Gedanke sein, der mich treibt, nur darf und werde ich seinen Ursprung nie entblößen.

In der zuversichtlichen Hoffnung auf Dein Verständnis als wissenschaftlich forschender Kollege und Freund

Dein Dir sehr verbundener Karl


*


25. März 2010