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STANDPUNKT/053: Marxismus und Religion - Marxismus als Religion? (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 3/14

Marxismus und Religion - Marxismus als Religion?

von Lutz Brangsch



Das Thema ist heikel. Das liegt sowohl an Natur und Rolle von Kirche und Religion als auch am Marxismus. Bebel hob hervor, dass Religion Privatsache sei. Rosa Luxemburg vermerkte in ihrer Schrift Kirche und Religion im Jahr 1905, dass die Sozialdemokraten auch hinsichtlich der Religion für Gewissensfreiheit gegen staatliche Bevormundung stünden. Gleichzeitig gehören Atheismus bzw. Freidenkertum zu wichtigen Strömungen schon der jungen Arbeiterbewegung. Allerdings fällt das Bekenntnis und praktische Handeln als Kommunist oder Sozialdemokrat im 19. Jahrhundert nicht zwangsläufig mit einem 100prozentigen Atheismus zusammen.


Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts bringt Johann Heinrich Wichern Religion und Kirche gegen die kommunistische Bewegung (die damals bestenfalls schemenhaft sichtbar war) in Stellung. Er begründet das Bündnis von Altar und Thron nicht mit einer organisierten Bedrohung durch eine kommunistische Arbeiterbewegung - von der kann zu diesem Zeitpunkt in Deutschland gar nicht die Rede sein. Sein Bezugspunkt war der französische Kommunismus und in erster Linie aber die Deklassierung der deutschen proletarisierten Stadtarmut. Für letztere waren Kirche und Religion keine Orientierungspunkte mehr. Die aus den Lebensumständen erwachsende Säkularität machte ihm Angst. Die Lebensrealität der Armen, nicht ihre Ideologie erkennt er als Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaft und der Kirche. Das Elend war so extrem, dass Religion noch nicht einmal mehr als "Opium des Volkes" brauchbar war. Der Schritt in die Diakonie, aktive Sozialarbeit, verschiebt im 19. Jahrhundert das Feld der weltanschaulichen Auseinandersetzung, indem Kirche und Religion unmittelbar und gestaltend in die Lösung der "Arbeiterfrage" bzw. sozialen Frage eingreifen. Die Arbeiterbewegung fand im religiösen bzw. kirchlichen Ritus Formen, in denen sie lernte und sich als Bewegung formierte. Der junge Engels wurde mit dieser Praxis in den kommunistischen Gemeinden Englands bekannt. Auf dem Kontinent waren sie durch Wilhelm Weitling und seine Gemeinden und andere präsent. Es wurde gemeinsam gelesen und diskutiert, eben die Kultur einer Gemeinde entwickelt. Die Vorarbeit zum kommunistischen Manifest, die "Grundsätze des Kommunismus", haben mehr mit dem Katechismus einer Kirche, als mit dem kurz darauf entstehenden Manifest der kommunistischen Partei gemein. Bis heute ist die Ähnlichkeit von Partei- oder Gewerkschaftsversammlungen mit dem Gottesdienst unübersehbar. Die Schnittmengen zwischen religiös motivierten und links-emanzipatorischen Werten, wie Solidarität, Mitmenschlichkeit, Achtung des Lebens usw. sind offensichtlich.

Das sind einige der Bedingungen, unter denen Marx und sein Umfeld ihre Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und ihr Konzept der Gesellschaftsveränderung entwickelten. Dabei war die Rezeption der Religionskritik Ludwig Feuerbachs einer der entscheidenden Momente bei der Hinwendung zum konsequenten Materialismus und schließlich zum Kommunismus. Die Religionskritik war für Marx Gesellschaftskritik - nicht im Sinne der Verdammung, sondern des Verstehens von Denken und Handeln der lebendigen Menschen. Es ging nicht einfach um "falsches Bewusstsein", sondern darum, warum Menschen in dieser Art die Welt wahrnehmen und unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen nur so wahrnehmen können. Marx fasst die gesellschaftlichen Wurzeln der auch im Religiösen präsenten Verkehrung der Welt mit den Begriffen der Entfremdung, später des Fetischismus. Er führt damit die Religionskritik Feuerbachs zur Konsequenz und wendet sie in Gesellschaftskritik.

Für Marx war seine Arbeit als Theoretiker ausschließlich praktischer Natur. Er arbeitete, um der proletarischen Bewegung geistige Waffen in der Auseinandersetzung mit ihren Gegnern, Mittel zur Selbstorganisation und Orientierungen im Selbstverständnis zu liefern. In diesem Sinne ging es ihm nicht um ein Theoriengebäude, sondern um eine praktische Wissenschaft, die in der Bewegung zur Gesellschaftsveränderung lebte. Die marxsche Religionskritik war Kritik im Sinne des Ergründens ihres Werdens und der Identifizierung der Momente, die über sie selbst hinausführten. Seine Arbeit sollte helfen, die Welt zu verstehen, sie auf eine andere Art als bisher anzuschauen und davon ausgehend gesellschaftsverändernd tätig zu werden. Indem sich Marx mit seinen Positionen selbst im Strom der Zeit - der Real- wie der Geistesgeschichte - verstand, hob er die in religiös motivierten Bewegungen verborgenen emanzipatorischen Momente auf.

Der in diesem Sinne verstandene Marxismus stand zwangsläufig vom Prinzip her im Gegensatz zur durch die Kirche kanonisierten religiösen Weltanschauung, keinesfalls aber zu jeglicher Religiösität und zum Glauben. Die christliche Religion war eben die Weltanschauung, mit der die Proletarier dieser Zeit aufwuchsen. Die proletarische bzw. sozialdemokratische Bewegung wurde Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Massenbewegung. Die marxsche Gesellschaftssicht gab erst einmal eine Begründung dafür, dass die Welt veränderbar ist und dass die Arbeiter selbst fähig waren, diese Veränderung zu vollbringen. Die bei Marx präsente Forderung nach solidarischem Handeln für die Emanzipation als Mensch knüpfte an religiöse Muster an, verlieh ihnen aber einen anderen Inhalt, war somit den Massen auch ohne weitergehende theoretische Bildung zugänglich.

Das Kommunistische hatte mit der Gründung der IAA endgültig das Sekten- oder Gemeindestadium verlassen und die globale Bühne betreten. Es entstanden Partei- und Gewerkschaftsapparate, schließlich Parlamentsfraktionen, die die organisatorische und theoretische Arbeit, bisher von Einzelpersonen oder in kleinen Gruppen realisiert, übernahmen. Hier setzten nun Prozesse ein, die man auch als Entfremdung der Massen von der Theorie beschreiben könnte. Organisationsfrage und die Frage nach der Fortentwicklung der gemeinsamen weltanschaulichen bzw. theoretischen Grundlage traten hier in eine neue Qualität von Wechselbeziehung. Tatsächlich ist es völlig normal, dass mit wachsender Komplexität der Bewegung und der Gesellschaft das Glauben von Aussagen, Strategien, Bewertungen an Stellenwert gewinnt. Glauben begründet sich auf Erfahrung und Vertrauen, durch praktisches Erleben und Bildung fundiert. Er habe dort seinen Platz, so Uwe-Jens Heuer in seinem Buch Marxismus und Glauben, wo es kein gesichertes Wissen gebe; Glauben fülle eine Lücke, die oft erst Handeln ermögliche. Die notwendige Arbeitsteilung in der Bewegung wurde aber zum Spiegel der Arbeitsteilung in der Gesellschaft, die Marx als Ursache der Entfremdung, der Verselbstständigung der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit gegenüber den Handelnden kritisiert hatte. Die Verselbstständigung der Theorie gegenüber der Bewegung dürfte Marx zu der Äußerung veranlasst haben, dass er in diesem Sinne keinesfalls Marxist sei. Zudem war unter den Parteiintellektuellen durchaus strittig, ob und in welchem Maße Arbeiter überhaupt Theorie zu vermitteln wäre. In der Bildungsdebatte der SPD 1908 wurde von einer nicht kleinen Minderheit die Auffassung vertreten, dass die Theorie den Parteiintellektuellen vorbehalten sei, während den Arbeitern kurzgefasste einfache Leitsätze politischen Handelns vermittelt werden sollten. Jedenfalls brachte der aus der Realität der Bewegung erklärbare Verlust der Unmittelbarkeit der Verbindung von theoretischer bzw. politisch-konzeptioneller Arbeit und praktischem Leben der sozialdemokratischen Massen eine Tendenz zur Verwandlung der Marxschen Weltanschauung in ein Religionssurrogat mit sich. Damit ist nicht die nichttheoretische Aneignung dieser Weltanschauung bzw. von Elementen derselben gemeint. Vielmehr ging es um die Frage nach dem Sinn des eigenen Handelns und des Handelns der Organisation. Für Marx lag dieser Sinn in der Herstellung von Bedingungen zur grenzenlosen Entfaltung der Persönlichkeit und der Individualität des Menschen. Beständige Kritik und beständiges Umstürzen aller Verhältnisse, die dem entgegenstehen, war für ihn der Weg dorthin. Parteien und Gewerkschaften waren aus dieser Sicht Mittel. Die Befestigung der Organisationsstrukturen der jungen Sozialdemokratie war aber mit einer Verschiebung der Sinnfrage verbunden. Der Gedanke der Emanzipation trat gegenüber der Organisationsidentität zurück.

Wie die Religion unhinterfragbare Prämissen hat, entstanden unter Ge- und Missbrauch des marxschen Erbes ebenfalls unhinterfragbare Prämissen - weil beispielsweise in der Diskussion des Charakters der Diktatur des Proletariats natürlich die Frage nach der Rolle der Partei, der Parteiführer, der Apparate, der Umgang mit Fehlern etc. steht. Die Marxsche Terminologie und die Organisationsidentität waren die Bindeglieder, die das Vertrauen der "einfachen" Mitglieder in die Funktionäre als Personifikationen des Marxismus begründete. Der entstehende Apparat als "eigene Tat" der sozialdemokratischen Proletarier wurde, wie Marx es in der Deutschen Ideologie ausdrückte, zu einer fremden, ihnen gegenüberstehenden Macht, die sie schließlich unterjochte, statt dass sie ihn beherrschten. Das Glauben verließ den Bezug zur Realität des Kampfes, der Pragmatismus des Apparates erschien mit dem Verweis auf das weitergehende Wissen über die Lehre legitimiert und der Marxismus wurde zur Verdopplung der Realität des Klassenkampfes in idealisierter Gestalt. Das machte ihn für neue MitstreiterInnen noch zugänglicher, was die religionsartige Kanonisierung zu rechtfertigen schien. Diese quasireligiöse Tendenz im Marxismus stand und steht in Widerspruch zu der aufklärerischen und emanzipatorischen. Der Streit zwischen beiden Tendenzen prägte die Geschichte des Marxismus (oder besser gesagt des Denkens in Anschluss an Marx) bis zum heutigen Tage. Überwunden wurde die quasireligiöse Tendenz aber nie. Sie wurde durch die leninsche Auffassung von der Rolle der Avantgarde sogar kanonisiert. Es sei dahingestellt ob dies seine Intention war - die Wirkung ist entscheidend. Ähnliche Wege gingen, auch mit Bezug auf andere Quellen (Bakunin, Trotzki etc.), letztlich alle linken Bewegungen. Die Massen wurden in diesen Tendenzen zum Objekt der Belehrung über richtiges Verhalten und konnten sich so den Marxismus nur quasireligiös aneignen.

Tatsächlich war es vor allem Rosa Luxemburg, die diese Tendenz vehement bekämpfte. Für sie bildete Lernen, Produktion wissenschaftlichen Wissens, politischer Kampf und Lehren eine Einheit. Marxismus war ihr auch ein beständiger Prozess der Wissensproduktion durch die Massen. Diese Einheit war für sie Kehrseite des marxschen Kritikprinzips und damit Quelle der Entwicklungs- und Veränderungsfähigkeit der Linken. Diese Sicht wurde durch die Revisionisten wie auch von der leninschen Richtung bekämpft. Erst zum Ende seines Lebens sollte Lenin in seinem aussichtslosen Kampf gegen den "kommunistischen Hochmut" und die entstehende Sowjetbürokratie zu analogen Einsichten kommen.

Hugo Eberlein brachte das Ergebnis auf dem Gründungskongress der KPD an der Jahreswende 1918/19 auf den Punkt: Die ganze sozialdemokratische Bildung habe sich 1914 nur als Firnis erwiesen, der beim ersten Sturm abgewaschen wurde. Tragisch, dass die KPD daraus keine Schlussfolgerungen zog. Ähnliches vollzog sich dann 1933.

Diese unheilvolle Tradition war Teil dessen, womit die GründerInnen der DDR und generell die BegründerInnen der verschiedenen Strömungen des Nachkriegsmarxismus groß wurden. Sie gaben bei allen Differenzen untereinander gerade diesen Widerspruch weiter. So entstand eine abstruse Situation. Es gelang in der DDR eine säkulare Gesellschaft zu etablieren. Aber trotz angehäuftem Wissen und reicher Erfahrung wurde die quasireligiöse Tendenz im Marxismus nicht gebrochen. Die akademische Verankerung des Marxismus verstärkte diese Tendenz eher noch. Daran änderte auch die Öffnung der akademischen Wissenschaften für breite Schichten der Gesellschaft nichts. Die Sinnsetzung jenseits der menschlichen Emanzipation und das Fehlen einer Vermittlung von Wissensproduktion und den Massen ließen den Marxismus zu einer Äußerlichkeit werden, die in der Krise Ende der achtziger Jahre keine organisierende und aktivierende Kraft mehr entfalten konnte.


Lutz Brangsch arbeitet als Referent im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 3/14, S. 9-13, 43. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Postfach 1745, 58017 Hagen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2015


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