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STANDPUNKT/061: Katharina Janko - "Ich würde unsere Gesellschaft als scheinaufgeklärt beschreiben" (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 2/16

"Ich würde unsere Gesellschaft als scheinaufgeklärt beschreiben"

Gespräch mit Katharina Janko über Sexualaufklärung, Prävention und Missverständnisse


Sexuelle Selbstbestimmung, erfüllte und sorglose Sexualität sowie Gesundheitsförderung durch Information und Prävention - alles Teufelszeugs!? Bundesweit wettern sog. "Besorgte Eltern" gegen Sexualkunde als Unterrichtsfach an Schulen. Die fadenscheinigen Parolen: "sexuelle Vielfalt - nein danke", "Finger weg von unseren Kindern", "Gegen den Sexualunterricht in Grundschulen". Dahinter stehen ultrakonservative Welterklärungsmodelle und homophobe Denkweisen.


Die Protestbewegung richtet sich gegen Bildungs- und Aktionspläne der einzelnen Bundesländer, in welchen sexuelle Aufklärung - so vielfältig, wie sie gelebt wird - in Kitas und Schulen thematisiert werden sollen. Oder in denen Literaturempfehlungen zum Thema ausgesprochen werden oder über Beratungseinrichtungen systematisch informiert wird, um Menschen zu sensibilisieren. Für die MIZ sprach Nicole Thies mit der Sozialarbeiterin Katharina Janko über Ihre Arbeit, Sexualpädagogik und die Missverständnisse.

MIZ: Kannst du eingangs ein paar Worte zu deiner Arbeit und der Arbeit in der Aidshilfe sagen?

Katharina Janko: Von 2011 bis 2014 habe ich Soziale Arbeit studiert und in diesem Kontext absolvierte ich unter anderem ein Praktikum in einer Schwangeren- und Familienberatungsstelle. Dort konnte ich zum ersten Mal in der Praxis Aufldärungsangebote begleiten und auch einige Methoden selbst durchführen. Den Schwerpunkt sexuelle Bildung bzw. sexuelle Selbstbestimmung hab ich also schon in meinem Studium gesetzt. Auch meine Bachelorarbeit beinhaltete dieses Thema. Die passende Fortführung dazu ist die Arbeit in der Aidshilfe in Halle, wo ich im Bereich Primärprävention arbeite. Primärprävention bedeutet kurz, aufzuklären, Menschen zu befähigen, eine verantwortungsvolle Sexualität zu leben, Neuinfektionen zu verhindern und die Diskriminierung von HIV-positiven Menschen abzubauen. Die Zielgruppen, mit denen ich in meiner Arbeit zu tun habe, ist die sogenannte Allgemeinbevölkerung, sind Jugendliche und Frauen (2.8. Sexarbeit, Drogengebrauch). Mein Kollege übernimmt die Zielgruppen Menschen in Haft, Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), und Drogengebrauchende. Sexarbeiter_innen, Drogengebraucher_innen, Menschen in Haft, Migrant_innen und MSM sind von der Deutschen AIDS-Hilfe ganz bewusst gewählte Zielgruppen. Das liegt daran, dass sie zum Beispiel aufgrund der Stigmatisierung und Diskriminierung HIV-Testangebote oder Angebote zur Förderung der sexuellen Gesundheit weniger annehmen können. Es geht also nicht nur um die Antidiskriminierungsarbeit von HIV-Positiven. Es geht auch darum, einen gesellschaftspolitischen Rahmen zu schaffen, in dem alle die gleichen Möglichkeiten und Chancen haben, sich zu schützen.

MIZ: Warum ist die sexuelle Aufklärung an Kitas und Schulen in 'unserer' scheinbar so aufklärten Gesellschaft noch so wichtig?

Katharina Janko: In der Frage fällt mir das Wort scheinbar auf. Ich würde unsere Gesellschaft als eine scheinaufgeklärte Gesellschaft beschreiben und auch behaupten, dass Aufklärung nicht noch wichtig, sondern insgesamt sehr wichtig ist. Ich denke, bei der sexuellen Aufklärung geht es nicht nur um die Verhütung von sexuell übertragbaren Infektionen oder darum, wie ein Kondom benutzt wird. Es sollte unter anderem auch um Geschlechterstereotype gehen. Oft wird gesagt, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Frauen und Männer gleich behandelt werden und in der Feminismus alles erreicht hat. Allerdings sieht die Realität anders aus. Nach wie vor gibt es Ungleichheit, Gewalt gegen die Geschlechter, sowohl gegen Männer als auch gegen Frauen. Die Geschlechterstereotype werden in der Werbung, in den Medien festgehalten und immer wieder neu mit Klischees und Vorurteilen gefüllt. Dies scheint nach wie vor unreflektiert und als völlig normal angesehen zu werden.

MIZ: Und was kann dagegen getan werden? Wie funktioniert das in der Praxis?

Katharina Janko: Das Problem, um bei dem Beispiel mit den Stereotypen zu bleiben, besteht darin, dass es so nach wie vor zu verbalen oder physischen Übergriffen kommt. Frauen sollen sensibel sein, Männer hingegen stark und beschützend. Es bleibt kein Raum für eine individuelle Entwicklung des eigenen Geschlechts. Der Entwicklungsspielraum ist extrem beengt und gibt Raum für Beleidigungen oder ähnliches. Jungs, die nicht männlich genug sind, werden automatisch als schwul fremdbestimmt. Das scheint eine logische Konsequenz zu sein. Auch hier kann Sexualpädagogik eingreifen. Es ist wichtig, auf die individuellen Zielgruppen einzugehen und auch die Methodik anzupassen. Denn mit 5-Jährigen arbeite ich anders als mit 8- oder 14-Jährigen. Allerdings sollten auch schon Kitakinder dazu befähigt werden, ihre eigene Geschlechtlichkeit kennenzulernen und anzunehmen. Gleichzeitig muss ein Raum geschaffen werden, in dem die Kinder oder auch die Jugendliche ihre eigenen Grenzen wahrnehmen und die Grenzen der an-deren respektieren lernen.

MIZ: Die sog. "Besorgten Eltern" führen oft das Argument "Frühsexualisierung der Kinder" ins Feld? Was ist damit gemeint?

Katharina Janko: Frühsexualisierung meint, dass Kinder bei Aufklärungsangeboten angeblich mit Erwachsenensexualität konfrontiert werden. Diese Vorstellung geht auch mit der Warnung und Vorstellung einher, dass so sexualisierte Gewalt gefördert werden würde und Pädophile die Arbeit missbrauchen würden. Hier kann ich ganz klar sagen, dass ein Ziel der Sexualpädagogik auch ist, sexualisierte Gewalt zu verhindern. Es ist eine sensible und vertrauensvolle Arbeit, in der Gewalt nichts zu suchen hat.

Es wird deutlich, dass die Definition von Sexualität sehr eng gefasst ist und vor allem der Vorstellung einer erwachsenen Person entspricht. So werden sexualpädagogische Angebote missverstanden und die Inhalte fälschlicherweise mit einem erotischen Erleben von Sexualität gleichgesetzt.

Bei Angeboten für Kinder steht z.B. die Entwicklung der geschlechtlichen Identität im Vordergrund, das die Stärkung des kindlichen Selbstbewusstseins und die Förderung eines positiven Ich-Gefühls miteinbezieht.

MIZ: Das Argument "perverse Praktiken" geht einher mit der Ansicht, für das "Wohlergehen der Kinder" zu handeln. Das vermeintlich Wohlwollende bezieht sich aber kontra auf schwule und lesbische Lebensweisen und richtet sich gegen "Gender-Ideologie" und die "Ideologie des Regenbogens". Wie häufig begegnen dir diese Argumente? Und wie gehst du in der Praxis mit diesen Argumenten um?

Katharina Janko: Wenn ich Aufklärung in Schulen anbiete, geht es vor allem um die HIV-Prävention. Die steht dabei an erster Stelle. Natürlich gehören andere sexualpädagogische Themen dazu, die nicht ausgeblendet werden können. So werde ich immer wieder mit solchen Argumenten oder Aussagen konfrontiert. Das geschieht vor allem von Schüler_innen während der Workshops. Ich nehme zum einen Schüler_innen wahr, die sich sehr direkt und offen homophob oder transphob äußern. Zum anderen nehme ich diejenigen wahr, die sich in solchen Momenten gar nicht äußern, vermutlich aus Unsicherheit und Angst. In diesen Situationen gibt es aber meist auch eine Gruppe an Schüler_innen, die sich für Homosexualität ausspricht und in die Diskussion mit den anderen gehen will, die sich beleidigend verhalten. Mir ist es dabei sehr wichtig, alle Meinungen und Haltungen ernst zu nehmen, sie zu hinterfragen und vor allem nicht zu ignorieren. Es gibt gute Methoden, um auf solche Dynamiken einzugehen, die niemanden überfordern und auch niemandem eine Meinung aufdrängen. In erster Linie soll ein Bewusstsein geschaffen und für das Thema sensibilisiert werden. Meist reicht die Zeit auch gar nicht aus, um das Thema tiefergehend zu behandeln. Zumal ich ja, wie ich schon sagte, andere thematische Schwerpunkte setzen muss und nur spontan und bei Bedarf den Inhalt verändere. Ich habe danach auch die Möglichkeit, an andere Vereine zu verweisen oder auch bei Lehrer_innen den Bedarf deutlich zu machen.

MIZ: Welche Rolle sollten demnach Sexualpädagogik, Sexualunterricht und Bildungsempfehlungen an Schulen spielen?

Katharina Janko: Meiner Meinung nach sollte all das, was du gerade aufgezählt hast, eine wichtige Rolle spielen. Schon in Kitas sollten sexualpädagogische Angebote geschaffen werden und bis ins Erwachsenenalter reichen. Die Methoden und die Inhalte sollten natürlich an die Zielgruppen und an die Lebenswelt angepasst werden. Wichtig ist, dass Lehrer_innen, Eltern, Erzieher_innen mit in die Arbeit einbezogen werden, um sie transparent zu machen. So können auch ihre Bedarfe und Interessen wahrgenommen werden und es können gemeinsame Ziele verfolgt werden. Das ist Persönlichkeitsbildung von Kindern und Jugendlichen, zu der eben auch Sexualpädagogik gehört. Dadurch und natürlich auch durch andere Aspekte kann ein positiver Bezug zu sich selbst und anderen erlernt werden, eigene Bedürfnisse können ernstgenommen und wahrgenommen werden. Ziel ist auch, die Jugendlichen zu befähigen, ein selbstbestimmtes Leben leben zu können, das die Grenzen anderer respektiert und erkennt.

MIZ: Gibt es jenseits der Panikmache ultrakonservativer Christ_innen berechtigte Ängste, Fragen oder Befürchtungen, die diskutiert werden müssen?

Katharina Janko: Klar, die Ängste und Unsicherheiten, die Eltern haben, sollten ernstgenommen und diskutiert werden. Wichtig ist, nicht nur den Fokus auf die Kinder zu legen, sondern auch die Eltern miteinzubeziehen. Hier kann ganz klar kommuniziert werden, welche Methoden durchgeführt werden, welche Inhalte behandelt werden. So wird die Arbeit transparent gemacht und Vorbehalte können verringert werden.

Ich kann mich an eine Situation während eines Praktikums gut erinnern. Ich habe im Kindergarten gearbeitet und ein junge aus der Gruppe verkleidete sich gerne als Prinzessin. Seine Mutter war damit überhaupt nicht einverstanden, hat ihm mit wütenden Worten verboten sich als Prinzessin zu verkleiden. Ihre Sorge, er könnte nicht männlich genug oder schwul werden, war spürbar. Die Unsicherheit ist kein Einzelfall. Gerade das Thema Geschlechtlichkeit ist immer wieder und auch heute sehr stark diskutiert. "Heute männlich, morgen weiblich" ist eine Aussage, die ich immer wieder wahrnehme. Zum Thema Geschlechtlichkeit könnte auch gut mit den Eltern gearbeitet werden. Es kann erklärt werden, dass Sexualpädagogik nicht darauf aus ist, Homosexualität zu propagieren. Sie dient einfach dazu, die Kinder auf dem Weg ihrer Entwicklung zu stärken. Das geht vermutlich dann am Besten, wenn auch die Eltern mit ins Boot geholt werden. Katharina Janko, Sozialarbeiterin, ist Mitarbeiterin der Aidshilfe in Halle. Sie arbeitet in der Primärprävention mit der Allgemeinbevölkerung, Jugendlichen und Frauen in besonderen Lebenslagen (Drogengebrauch, Sexarbeit).

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Professionelle Sexualpädagogik oder Grenzüberschreitung?

Das Buch Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit erschien 2008. Im Jahr 2012 wurde die zweite Auflage veröffentlicht, die stark in die Kritik geriet. Es ist ein Methodenhandbuch, das in zwei Themenschwerpunkte gegliedert ist. Es geht einerseits um die Prinzipien und Grundlagen der sexualpädagogischen Methodik und Didaktik. Anderseits zeigt es konkrete Methoden auf, die in der Arbeit mit Jugendlichen eingesetzt werden können.

Das Buch kam deswegen in die mediale Kritik, da laut Kritiker_innen die dort enthaltenen Praxismethoden Themen beinhalten würden, mit denen sich Jugendliche noch nicht beschäftigen und sie daher überfordern würden. Es wurden Aussagen laut, die behaupten, dass jegliche Schamgrenzen und Tabus durchbrochen würden und es so zu grenzüberschreitendem Verhalten während der sexualpädagogischen Arbeit käme.

Aufgrund der aufgeladenen medialen Debatte lud die Gesellschaft für Sexualpädagogik zu einer Fachtagung ein, die den medialen Diskurs kritisch diskutierte und hinterfragte. In einer Stellungnahme, die von der Universität Kiel formuliert wurde, wird ebenfalls erklärt, was sexuelle Vielfalt und eine sexualpädagogische Professionalität bedeutet und welche Grundsätze sie verfolgt.

In der Stellungnahme wird deutlich gemacht, dass die Annahmen über die scheinbar tabubrechende Sexualpädagogik nicht der Ethik professioneller Sexualpädagogik entsprechen. Außerdem soll professionelle Sexualpädagogik Jugendlichen den Raum geben, um über Liebe, Beziehung, Freundschaft oder Sexualität und Grenzen zu sprechen. Dieser geschützte Raum dient dazu, ganz persönlich, ohne mediale Einflüsse, über diese Themen zu reflektieren. Sie können dort eine Haltung entwickeln, die nicht diskriminiert und andere Lebensweisen akzeptiert. Ein wichtiger Aspekt von Sexualpädagogik ist das Wahren der Grenzen von sich selbst und die der anderen.


Hintergrundinformationen

https://www.uni-kassel.de/fb05/uploads/media/Flyer_Fachtagung_gsp_2014_final_final.pdf
http://www.sexualpaedagogik.uni-kiel.de/de/aktuelles/oeffentliche-diskurse

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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 2/16, S. 17-21, 44. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Tilsiter Str. 3, 51491 Overath
Anschrift der MIZ-Redaktion:
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Erscheinungsweise: vierteljährlich,
jeweils Anfang April, Juli, Oktober und Januar.
Preis des Einzelheftes: 5,- Euro zzgl. Porto
Bezugskosten Abonnement: 18,- Euro (Inland),
22,- Euro (Ausland) jeweils inkl. Porto.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2017

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