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FRAGEN/004: Leopoldo Salmaso, Arzt in Tansania, im Gespräch (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Handeln? Bei Gott, hört auf damit! Wir müssen innehalten und nachdenken

von Milena Rampoldi, 2. April 2016


Leverkusen - 02.04.2016. Leopoldo Salmaso ist Arzt, Ehemann, Vater und Großvater und studiert die wirtschaftlichen, finanziellen und Währungsbeziehungen zwischen dem Norden und Süden des Planeten. In Tansania arbeitet er seit mehr als 30 Jahren mit den ländlichen Bevölkerungen zusammen. Er ist der europäische Vertreter von TANDEM - Tanzania Development Mates. Leopoldo Salmaso ist auch der Verfasser von zwei Büchern: "AIDS: Sindrome da Indifferenza Acquisita?" und "Il Golpe Latino: l'Europa salvata dalla crisi per errore". Salmaso leitet auch das Radioprogramm "Debito e Democrazia" (Schulden und Demokratie) und ist einer der Gründer der Bewegung "Moneta Bene Comune" (Währung als Gemeingut).

Milena Rampoldi: Lieber Leopoldo, was bedeutet für dich als Arzt die internationale Zusammenarbeit?

Leopoldo Salmaso: Nach meinem Studienabschluss war ich mir immer sicher, dass ich der Menschheit (und auch meiner Heimat) besser als Arzt in Tansania dienen konnte als als Offizier im italienischen Heer.

Jahre später schrieb ein Lehrer der internationalen medizinischen Zusammenarbeit, Maurice King, nach der Feststellung der vorwiegend ausbeuterischen Beschaffenheit der Nord-Süd-Beziehungen, dass wir wie die Lagerärzte waren. Er wollte damit sagen, dass wir die Opfer des internationalen Systems am Leben erhalten und dabei das Ziel verfolgen, sie über einen längeren Zeitraum ausbeuten zu können. King sprach provokatorisch von der medizinischen Zusammenarbeit als von einem "Mittäter an der Massenfolter".

Aber jeder Einzelne ist für seine Handlungen und Absichten und nicht für die Ergebnisse verantwortlich. Und daher blieb ich, obwohl ich die Analyse von King teilte, meiner Berufswahl treu und begebe mich immer noch nach Tansania: manchmal persönlich, sehr oft über Internet und jeden Tag im Gedanken.

Was können wir von den Menschen in Tansania lernen?

Die Lebensfreude. Die tägliche Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens und für alle kleinen Geschenke, die die Menschen dort anerkennen und vollkommen genießen können. Sind sie fatalistisch? Natürlich, aber vor allem können sie in der Gegenwart leben!

Wie müssen wir im Norden der Welt handeln, um das Nord-Süd-Gefälle zu vermindern?

Handeln? Bei Gott, es reicht! Wir müssen innehalten und nachdenken. Wir müssen uns selbst und unseren Freunden bei der Erkenntnis helfen, dass wir mit diesem sadomasochistischen Konsumdenken unsere Leben verschwenden und auch noch den Rest der Menschheit und der Natur zugrunde richten.

Pseudopolitiker und die verkaufte Presse präsentieren uns unaufhaltsam das Mantra der "Lebensqualität", aber im Westen haben wir noch nie ein Leben so schlechter Qualität geführt wie heute, wenn man sich vorstellt, was für ein Gut uns und der gesamten Menschheit zur Verfügung steht. Die Verfassung der USA behauptet, dass jeder Mensch das Recht darauf hat, glücklich zu werden ... aber dann sehen wir, wie sie das Ganze umsetzen: einfach nur mit dem teuflischen Bruttoinlandsprodukt. Das arme Bhutan hingegen gibt sich mit dem Bruttoinlandsglück zufrieden.

Erzähle uns bitte von deinen Büchern.

'AIDS, Sindrome da Indifferenza Acquisita' war ein illustriertes Handbuch für die Jugendlichen und ihre Erzieher. Es entstand ausgehend von den Begegnungen, die ich zwischen 1987 und 1997 flächendeckend in den Oberschulen und Vierteln machte. Mit dem Titel lag ich aber falsch bzw. ich war damit 30 Jahre voraus, denn heute ist die Gleichgültigkeit im Verhältnis zur Vergangenheit grenzenlos. Die Anzahl der HIV-Infizierten steigt immer mehr. Man stirbt ohne AIDS-Diagnose, im vollkommenen Unwissen und in vollkommener Gleichgültigkeit. Das Handbuch wurde vom Sanitätsbetrieb in den Oberschulen verteilt. 1992 wurde die zweite Auflage veröffentlicht. Und wie alles andere wurde das Buch gleichgültig zu Ende verteilt ...

'Il Golpe Latino', das auf Lulu.com auch in englischer und spanischer Sprache verfügbar ist, entstand aus meinen inneren Zorn gegenüber der Blind- und Taubheit meiner Mitbürger, die von den Medien ferngesteuert sind, wenn es um die Krise Europas geht. Während alle den Ministerpräsident Monti lobten, war es für mich eindeutig, dass man im Begriff war, uns genau derselben Behandlung zu unterziehen wie den Süden der Welt. Und diese Behandlung kenne ich nur zu gut. Denn anstatt die Bedingungen der armen Länder zu verbessern, wendet diese Globalisierung gegenüber unseren mittleren Klassen dieselbe Ausbeutung an und nutzt dieselben Techniken und politischen Orientierungen, die in der Vergangenheit der Welt des Südens aufgedrängt wurden (d.h. die berüchtigten strukturellen Anpassungen, die Freihandelsabkommen und so weiter). Aber wenn du nur versucht, mit jemandem von uns darüber zu reden, antwortet man dir sofort mit einer zweifachen, mentalen Abneigung: erstens, weil sie uns indoktriniert haben zu glauben, dass es sich um äußerst komplizierte und langweilige Angelegenheiten handelt; zweitens: weil der Hausverstand und die allgemeine Ethik die falsche Anschauung vermitteln, dass die Schulden unbedingt getilgt werden müssen. Die Tragödie besteht darin, dass dieses System so strukturiert ist, dass eine steigende Anzahl von Menschen, Unternehmen und sogar Staaten in eine Schuldenfalle tappt, die mathematisch gesehen ein Fass ohne Boden ist. Wir wissen alle, dass so viele Konkurse von der Unfähigkeit oder Unaufrichtigkeit verursacht werden. Aber die allerwenigsten wissen, dass die Schulden (mit einem großen S, die jede Münze zum Zeitpunkt ihrer Emission belasten) eine mathematische Anforderung im derzeitigen Banksystem sind! Aufgrund dieser Situation habe ich mich entschieden, ein Phantasiebuch über politische Themen zu verfassen, um den Leser neugierig zu machen und das geschehen zu lassen, was unsere Pseudopolitiker nicht tun. Und ich wollte die Protagonisten, ganz normale Menschen, auf ihrem Weg zur erneuten Aneignung der Wirtschaft begleiten. Ich unterstütze sie bei der selbstständigen Entdeckung, dass auch der König nackt ist, die Währungsgeschichte bewusst komplex dargestellt wird, um die einfache Wahrheit zu verbergen (diese Behauptung ist aber nicht von mir, sondern vom Nobelpreisträger Irving Fisher) und die Lösungen für alle zugänglich sind. Wir werden dahin gelangen, aber es wird so schmerzhaft und spät wie möglich geschehen, aber wir werden dahinkommen.

Welche sind die größten sozialen Probleme der Frauen in Tansania?

Um auf diese Frage zu antworten, wäre ein monatelanges Seminar erforderlich ... ich werde aber versuchen, das Ganze so gut wie möglich zusammenfassen, obwohl ich dadurch die Gefahr laufe, die Sache extrem vereinfacht darzustellen. Ich würde sagen, dass die sozialen Probleme Tansanias eine Überstruktur der grundlegenden Probleme in der Partnerschaft sind. Diese meine Behauptung stützt sich auf der Tatsache, dass ich in meiner zwanzigjährigen HIV-AIDS-Patientenbetreuung fast zu einem Sexualberater geworden bin. Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass diejenigen, die in Begriffen wie "Zweierbeziehung" denken, Marsmenschen sind. Die ehrenvollen Kämpfe gegen die weibliche Genitalverstümmelung und alle Predigten und Initiativen für die Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern befassen sich nur an der Oberfläche mit dem Problem, indem sie seine Symptome und nicht die Ursachen untersuchen. In seinem Inneren wünscht sich der tansanische Mann gar keine "sexuelle" Beziehung. Er sucht nur noch seine eigene Erfüllung, indem er innerhalb von zwei Minuten oder auch noch weniger ejakuliert. Wenn er Lust hat, muss ihn die Frau empfangen, ohne zu munkeln. Punkt aus. Viele Frauen und Mütter vieler Kinder wissen nur vom Hörensagen, dass einige von ihnen manchmal auch mal einen Orgasmus erleben könnten. Aber sie denken keineswegs, dass sie ein ganz normales Recht darauf haben. Andererseits geht es den Männern nicht mal durch den Kopf, die Lust mit ihrer Partnerin zu teilen. Nicht mal die Männer, die wir bewundern, weil sie ein Kind auf ihren Schultern tragen und von denen wir deshalb denken, sie wären liebevolle Ehemänner, tun es ... Daher bin ich einfach der Ansicht, dass alle anderen Probleme im Familien- und Sozialleben nur eine Folge dieses Grundproblems sind. Man muss die neuen Generationen ab dem Kindergartenalter zur gleichwertigen Würde erziehen, angefangen von der Sexualerziehung ... Im Moment befinden wir uns an dem Punkt, dass die emanzipierten tansanischen Frauen es nur sind, weil sie den Mann wie eine Drohne behandeln, weil sie auf keinen Fall darauf verzichten wollen, Mutter zu sein: sie leben getrennt oder sind geschieden und sind nur in der Lage, Prestigepositionen in der Gesellschaft zu erreichen oder zu erhalten, weil in Afrika alle Kinder die Kinder der Großfamilie sind.

Welcher ist dein Traum für die Welt der Zukunft?

Ich träume von einer Welt voller ethischem und gleichzeitig wissenschaftlichem Bewusstsein folgender Grundwerte: Die Vielfalt bedeutet Reichtum. Die Evolutionsmaschine ist nicht nur biologisch, sondern auch sozial und wirtschaftlich. Die Kooperation ist ein Beschleuniger, während der Wettbewerb eine Bremse darstellt (dies gilt auch für den notwendigen Wettbewerb, der auf jeden Fall nicht prioritär ist). Die Toleranz ist kein Gutmenschentum, sondern zielorientierte Weisheit.


Über die Autorin

Dr. phil. Milena Rampoldi ist freie Schriftstellerin, Buchübersetzerin und Menschenrechtlerin. 1973 in Bozen geboren, hat sie nach ihrem Studium in Theologie, Pädagogik und Orientalistik ihren Doktortitel mit einer Arbeit über arabische Didaktik des Korans in Wien erhalten. Neben ihrer Tätigkeit als Sprachlehrerin und Übersetzerin beschäftigt sie sich seit Jahren mit der islamischen Geschichte und Religion aus einem politischen und humanitären Standpunkt, mit Feminismus und Menschenrechten und mit der Geschichte des Mittleren Ostens und Afrikas. Sie wurde verschiedentlich publiziert, mehrheitlich in der deutschen Sprache. Sie ist auch die treibende Kraft hinter dem Verein für interkulturellen und interreligiösen Dialog Promosaik www.promosaik.com


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2016

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