Schattenblick →INFOPOOL →WELTANSCHAUUNG → FREIDENKER

GESELLSCHAFT/010: Auf dem Weg in die Armutsgesellschaft (Freidenker)


Freidenker Nr. 1-07 März 2007
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Auf dem Weg in die Armutsgesellschaft

Von Werner Seppmann


Eine konjunkturelle "Erholung" seit dem Herbst 2006 hat zu einer vorübergehenden Entlastung auf dem Arbeitsmarkt geführt. Dennoch kann keine Rede davon sein, dass sich für die Lohnabhängigen die Situation grundlegend verbessert hätte. Denn die neue Nachfrage nach Arbeitskräften ist höchst selektiv.

Wer nicht den Qualifikationsprofilen und gesteigerten Leistungsanforderungen entspricht, hat auch weiterhin geringe Chancen auf einen sicheren und auskömmlichen Arbeitsplatz.

An den Langzeitarbeitslosen (deren Zahl weiterhin deutlich über 2 Millionen liegt) geht der "Aufschwung" ebenso vorbei wie an den "Problemgruppen" des Arbeitsmarktes.


Neoliberale Umgestaltungsstrategie

An dem allgemeinen Klima der Unsicherheit hat sich nichts geändert, zumal Neueinstellungen und Arbeitsplatzabbaukonzepte in vielen Fällen die zwei Seiten der gleichen Medaille sind: Wer jetzt eine Beschäftigung findet, erreicht nur selten eine Erwerbsposition, die er vor kürzerer oder längerer Frist hat aufgegeben müssen. Darin zeigt sich der fragwürdige "Erfolg" neoliberalistischer Umgestaltungstrategien, deren erklärtes Ziel der Abbau von "Normalarbeitsplätzen" war und immer noch ist. An die Stelle "abgebauter" Arbeitsplätze mit Tarifbindung werden ungesicherte und niedrig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse gesetzt. In den letzten drei Jahrzehnten sind durch die ausbeutungsorientierten Umgestaltungsprozesse deutliche Trennungslinien innerhalb der Arbeitswelt entstanden. Es haben sich (zunächst schleichend) zwei Beschäftigungssegmente herausgebildet: Ein aus qualifizierten, auskömmlich bezahlten, sozialrechtlich abgesicherten "Arbeitnehmern" und aus relativ stabilen Beschäftigungsverhältnissen gebildeter "primärer" Markt sowie ein "sekundärer", in dem sich die prekär Beschäftigten konzentrieren. Es ist jedoch eine unzutreffende Vorstellung, dass in diesem "sekundären" Markt nur Minderqualifizierte aufgefangen würden. Oft verfügen die dort Tätigen über nicht geringe Qualifikationen, die jedoch nicht mehr benötigt werden. Beide Segmente weisen eine Vielzahl von internen Abstufungen und Differenzierungsformen auf, sind jedoch vor allem hinsichtlich der Beschäftigungssicherheit klar voneinander getrennt.

Durch die gegenwärtige "Aufschwungtendenz" hat sich in den Kernbereichen der Arbeitswelt die Verhandlungsposition der Gewerkschaften verbessert. Ihre vollen Auftragsbücher lässt die Unternehmen zögern, einen Streik zu provozieren. Aber auch Tarifabschlüsse um die vier Prozent, die 2007 bestenfalls zu erwarten sind, können die Reallohnverluste der letzten Jahre nicht kompensieren. Am wenigsten ändert die aktuelle Entwicklung etwas an der sozialen Abwertungsgefahr, der eine Mehrheit der Lohnabhängigen ausgesetzt ist. Die Resultate der neoliberalistischen Umwälzungen sind aus Kapitalsicht nicht bedroht. Ihre negativen Konsequenzen werden durch die ungleichmäßigen Auswirkungen des Aufschwungs sogar noch verstärkt.


"Industrielle Überschussbevölkerung"

Eine Entzerrung am Arbeitsmarkt dürfte auch den Block der gänzlich "Überflüssigen" nicht wesentlich verringern, weil nicht mehr alle Arbeitskraftverkäufer und -verkäuferinnen für die Kapitalverwertung benötigt werden. Der finanzgesteuerte High-Tech-Kapitalismus funktioniert als soziale Ausgrenzungsmaschine. Durch eine der üblich gewordenen Pressemeldungen, die an den Börsen für Hochstimmung sorgen, wird diese Tendenz illustriert: Gleichzeitig mit seinem Rekord-Gewinn von sieben Milliarden Euro verkündet der Allianz-Konzern den Abbau von 5.700 Arbeitsplätzen.

Für die "industrielle Überschussbevölkerung" (Marx) ist nur noch eine soziale Minimalversorgung vorgesehen. Die sozialpolitischen Strategien des letzten Jahrzehnts erinnern an Charles Dickens' Beschreibung der restriktiven Aktivitäten der Londoner Wohlfahrtsbehörden im 19. Jahrhundert, die um keine Idee verlegen waren, den Bedürftigen die Zuwendungen immer wieder in Frage zu stellen. Der herrschende Block hat Abschied von der gesellschaftlichen Selbstverpflichtung einer materiellen Grundsicherung für alle genommen. Stimmen aus dem kapitalistischen Lager fordern regelmäßig, die Sozialleistungen unter das existenzielle Minimum zu senken. Faktisch ist das durch die Harz-IV-Regelungen auch schon geschehen. Die Absicht ist evident: Durch die Zuspitzung der Bedürftigkeit soll die Angst vor dem sozialen Absturz stimuliert und eine disziplinierende Verunsicherung der Lohnabhängigen auf die Spitze getrieben werden.

Es wird ebenfalls billigend in Kauf genommen, dass immer mehr Beschäftigte auch durch ein "reguläres" Arbeitsverhältnis ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können, dass sie, trotz einer Vollerwerbsstelle oder einer Vielzahl von Teilzeitjobs, in Armut leben. Es müsse hingenommen werden, sagte 2005 der Chef-Volkswirt der Deutschen Bank Norbert Walter, dass manche zukünftig "nicht so viel verdienen werden, wie sie in Deutschland zum Überleben brauchen."


Grundsätzliche Veränderung der klassengesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse

Vorstellungen, die bis weit in gewerkschaftliche Kreise hinein reichen, dass es sich bei dem neoliberalistischen Angriff auf die Arbeitsbedingungen und den Lebensstandard der Lohnabhängigen, nur um eine vorübergehende Offensive handeln würde und über kurz oder lang ein neuer "sozialpartnerschaftlicher" Kompromiss gefunden werden könne (wenn es denn sein muss, auch auf etwas "niedrigerem Niveau"), erweisen sich zunehmend als Illusion. Denn nicht nur viele von der Arbeiterbewegung in den letzten Jahrzehnten erkämpfte Errungenschaften sollen rückgängig gemacht werden: Vom herrschenden Block wird eine grundsätzliche Veränderung der klassengesellschaftlichen Macht- und Verteilungsverhältnisse zu seinen Gunsten angestrebt.

Der Modergeruch einer sozialen Rückentwicklung breitet sich aus: "Ein neues Proletariat ist im Entstehen, dem die kollektiv geregelten Normalarbeitsverhältnisse und die sozialstaatlichen Vermögenssurrogate für die Wechselfälle des Daseins zunehmend fremd werden. Es wird über den aktuellen Krisenzyklus hinaus langfristig durch die Erfahrung von Erwerbslosigkeit, von prekären Beschäftigungsverhältnissen, von 'zweiten' und 'dritten' Arbeitsmärkten und von abrupt eintretenden Armutsphasen geprägt sein", prognostizierte Karl Heinz Roth schon vor 15 Jahren. Was damals sich als eine undeutliche Tendenz abzeichnete, ist mittlerweile Realität prägend geworden.

Die "Grundelemente des Dramas der Lohnarbeiterlage, deren Los die Verwundbarkeit" ist (Robert Castel), treten wieder offen zu Tage. Soziale Ausgrenzungs- und Spaltungstendenzen stellen, ebenso wie die Ausdehnung von Armut und Bedürftigkeit, jedoch keine zufällige "Entgleisung" dar. Vielmehr sind sie konstitutiver Bestandteil des verwertungsorientierten Umgestaltungsprogramms: Denn zur Durchsetzung der ambitionierten Ziele des neoliberalistisch begründeten Sozialabbaus und zur langfristigen Sicherstellung einer Umverteilung des Sozialprodukts von Unten nach Oben, muss es Ungleichheit, auch spürbare Formen der Bedürftigkeit und Armut geben.

Die Prekarisierungs- und Verarmungsprozesse sind als Teil einer neuartigen Herrschaftsform zu begreifen, die ihre Basis in der Verfestigung sozialer Unsicherheit hat, und von der Zielvorstellung geleitet wird, die Lohnabhängigen zur Hinnahme ihrer sozialen Rückstellung zu zwingen. Nur auf Grundlage der auf diesem Wege organisierten Einschüchterung der Lohnabhängigen lässt sich auch die universale Verfügbarkeit über die Arbeitskräfte und die vollständige Einordnung des menschlichen Lebensrhythmus in den sich beschleunigenden Kreislauf der Kapitalakkumulation sicherstellen.

Die kapitalistischen Akteure haben die aus der sozioökonomischen Widerspruchsentwicklung sich ergebenden Möglichkeiten konsequent beim Schopfe gefasst. Nach fast zwei Jahrzehnten einer kontinuierlichen Erhöhung der Arbeitslosenzahlen. sah das Unternehmerlager spätestens nach dem Ende des kurzfristigen "Wende-Booms" in den 90er Jahren die Zeit für gekommen, die sozialpolitischen Zugeständnisse aus der Zeit der kapitalistischen Prosperitätsphase (der "Wirtschaftswunder"-Zeit) nach dem Zweiten Weltkrieg aufzukündigen: "Wir müssen die Krise jetzt nutzen, denn jetzt sind die Menschen reif", forderte 1993 der damalige BDI-Präsident Tyll Necker. Den durch Arbeitslosigkeit und soziale Statusbedrohung verunsicherten Beschäftigten konnten immer weiter "Zugeständnisse" abverlangt werden und - wie von den aggressiven Umwälzungsstrategien intendiert - der Anteil der abhängig Beschäftigten am Sozialprodukt nachhaltig reduziert werden: Während er in den 70er Jahren einen Höchststand mit 73,7 Prozent erreichte, betrug er 1997 nur noch 67,7 Prozent und ist seitdem weiter gefallen. Und nach jeder "Reformrunde" wurde verkündet, dass dies erst der Anfang sei.


Prekarisierung als biographisches Endstadium

Als Konsequenz des sozialdestruktiven Umbaus der Arbeits- und Lebensverhältnisse breiten sich Armut und Bedürftigkeit aus. Je nach Erhebungsmethode leben in der Bundesrepublik zehn bis zwölf Millionen Menschen in "Armutslagen". Bisher war für viele die Bedürftigkeit nur ein Durchgangsstadium. Zwischen 1988 und 2003 gelang es der Hälfte der Betroffenen ihre Lage zu verbessern - auch wenn das in der Regel nur eine geringfügige Konsolidierung der Einkommenssituation bedeutete. Ein Platz jenseits der statistischen Armutsgrenze ändert meist nichts an der grundsätzlichen Unsicherheit der Lebensverhältnisse und der Gefahr eines neuerlichen Absturzes.

Selbst bescheidene Verbesserungsperspektiven existieren für viele Menschen in den gesellschaftlichen Randzonen nicht mehr. Für sie droht Prekarisierung zu einem biographischen Endstadium zu werden. Das eigentliche Problem ist für die Betroffenen dabei nicht nur die bescheidene materielle Ausstattung. Nicht weniger eklatant sind die psychischen und emotionalen Belastungen, weil für die Menschen in den "Armutskulturen" das Leben eine Kreisbewegung, ohne Struktur und festes Ziel geworden ist. Nach längerer Erwerbslosigkeit sind mit dem Zusammenbruch der arbeitsgesellschaftlich geprägten Zeitstrukturen auch elementare Orientierungsmuster erodiert. Nicht selten haben die Ausgegrenzten jede Hoffnungen verloren, dass es wieder aufwärts gehen könnte. Sie leiden still an ihrer sozialen Randstellung und sind weit von einem wirkungsvollen Aufbegehren entfernt. Die psychischen Reaktionsmuster der Krisenopfer werden im Laufe der Zeit einförmiger; nicht selten gewinnen Depressionen und Resignation zunehmenden Einfluss. Für diese Menschengruppe ist der nicht ganz falsche Begriff "abgehängtes Prekariat" geprägt worden.

Der Ausschluss aus den gesellschaftlichen "Normalitätszonen" besitzt Züge des Barbarischen: Wer länger arbeitslos ist, erkrankt häufiger und nachhaltiger als die noch Beschäftigten, hat auch eine geringere Lebenserwartung als die Arbeitskollegen ohne gebrochene Arbeitsbiographie. Die Menschen in den sozialen Kellergeschossen sterben mittlerweile im statistischen Durchschnitt fast zehn Jahre früher als ihre wohlhabenden "Mitbürger" an der Gesellschaftsspitze. Nicht selten sind die Konsequenz der durch die Ausgrenzung geprägten sozialen und psychischen Ausnahmesituation zivilisatorische Rückbildungstendenzen (vom Analphabetismus und selbstdestruktiven Gewaltformen bis zur sozialen Verwahrlosung), die von den ideologischen Apparaten aufgegriffen werden, um die sozialen Verwerfungen zu "individualisieren": Die Verantwortung für ihre Situation wird den Opfern in die Schuhe geschoben, das gesellschaftlich erzeugte "moralische Elend" als individuelles Versagen dargestellt.


Negatives Selbstwertgefühl

Die bedrückenden Lebensverhältnisse bleiben nicht ohne Folgen auf die Heranwachsenden in den betroffenen Familien. Viele der 2,2 Millionen in Armutsverhältnissen lebenden Kinder leiden unter Minderwertigkeitsgefühlen, starken Selbstzweifeln und hohen emotionalen Belastungen. "Früh im Leben erfahrene Armut beeinflusst das Selbstwertgefühl der hiervon betroffenen Kinder langfristig negativ", heißt es in einer sozialpsychologischen Studie über in Armut aufwachsende Kinder. Sie sind auch öfter krank und haben Nachteile in der Sprach- und Intelligenzentwicklung."

Das BRD-Schulsystem ist wenig geeignet, diese Tendenz zu kompensieren. Im Gegenteil: Die soziale Spaltung wird durch ebenso offene wie versteckte Selektionspraktiken verstärkt, "die materielle, kulturelle und soziale Trennungen reproduzieren", wie es in einer Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) heißt. Schon in der Grundschule zeichnet sich ab, wer zu den zukünftigen Gewinnern und Verlierern gehören wird.

Es findet gegenwärtig eine Umgestaltung der Klassengesellschaft statt, bei der sich die Konturen eines dreigeteilten Gesellschaftskörper herauskristallisieren. Er wird bei Fortentwicklung der gegenwärtigen Trends aus einem gut situierten knappen Bevölkerungsdrittel (das auch die herrschende Klasse und ihre Funktionseliten umfasst) und einem weiteren Drittel mit phasenweise auskömmlichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen bestehen, das jedoch permanent von sozialer Zurückstufung bedroht ist.

Übrig bleibt ein Restdrittel, das zur ökonomischen Dispositionsmasse degradiert ist und kaum noch Chancen besitzt, den Zonen der Bedürftigkeit und existenzieller Unsicherheit entkommen zu können. Vor allem der Übergang zwischen dem unteren und dem mittleren Drittel ist fließend, weil die Zonen der Sicherheit schrumpfen.


Dr. Werner Seppmann, Herausgeber der Marxistischen Blätter


*


Quelle:
Freidenker - Nr. 1-07 März 2007, Seite 17-21, 66. Jahrgang
Herausgeber:
Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.
Schillstraße 7, 63067 Offenbach
E-Mail: vorstand@freidenker.de
Internet: www.freidenker.de

Erscheinungsweise: vierteljährlich
Bezugspreis jährlich Euro 10,- plus Versand.
Einzelheft Euro 2,50 plus Versand.
(Für die Mitglieder des DFV ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten.)


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2010