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STANDPUNKT/052: "Erinnerungsschlacht" und Weltanschauung (Freidenker)


Freidenker Nr. 4-09 Dezenber 2009
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

'Erinnerungsschlacht' und Weltanschauung

Von Erich Hahn


Die 'Erinnerungsschlacht' in ihrem zwanzigsten Jahr weist einige besondere Kennzeichen auf. Normal ist, dass der antikommunistische Hass publizistisch immer neue Kapriolen schlägt. So relativiert er unsere Niederlage - er gibt kund, wie ernst er diesen Sozialismus noch heute nimmt!

Wichtiger jedoch ist das massivere und entschiedenere Aufbegehren von DDR-Bürgern gegen die alltägliche Flut von Lügen und Verleumdungen. Überdruss! Wut! Empörung! Der zunehmende Unwille, Sack und Asche als letztes Wort politischen Selbstbildes zu akzeptieren. Auslöser und roter Faden dieser unzähligen Wortmeldungen auf einschlägigen Leserbriefseiten ist der unerträgliche Kontrast zwischen dem massenmedialen Zerrbild", "Es ist, als sei ich nicht dabei gewesen!"

Aber auch im bewussten politischen und theoretischen Kampf gegen die geschichtspolitisch verordnete Erinnerung zeichnet sich eine neue Qualität ab - das wäre ein weiteres Kennzeichen. Er wird schärfer, konzentrierter, direkter. Ich denke an Bücher wie die "Klartexte" von Genossen der 'Kommunistischen Plattform', an Daniela Dahns "Wehe dem Sieger" oder an die "Erinnerungsschlacht" des 'Marxistischen Forums Leipzig'. Gar nicht zu reden von den inzwischen Dutzenden nüchternen Schilderungen von Zeitzeugen, die manche scheinbare Gewissheit in ein neues Licht rücken - Beispiel der Bankrott-Mythos und die angeblich "flächendeckende Bespitzelung". (1)

Und schließlich. Zwanzig Jahre "Erinnerungsschlacht" erhärten die Erfahrung, dass es nicht nur um die Bewertung dieser oder jener Vorgänge und Ereignisse eines unterlegenen Systems, um die immer wieder beschworene 'Aufarbeitung' geht. Es geht historisch-praktisch um die Etappe eines epochalen klassenmäßigen Antagonismus und ideologisch um einen grundsätzlichen weltanschaulichen Konflikt. Dazu in Thesenform fünf überlegungen.


1. Gängige Anti-DDR-Positionen oder Fehlurteile gehen in der Regel mit einer Reihe weltanschaulicher Denkmuster einher. Da ist vor allem die formalistische Leugnung des Klassencharakters gegebener Erscheinungen, seien das - um nur drei Beispiele zu nennen - die 'Totalitarismus-Doktrin', die Gegenüberstellung von Demokratie und Diktatur oder das Missverständnis des 'Kalten Krieges' als ein vom Himmel gefallener, anonymer Mechanismus ohne Subjekte und ohne konkrete Entstehungsgründe. Sosehr ein derartiger Systemkonflikt zwischen Großmächten oder Mächtegruppierungen eigene Gesetze hervorbringt, sowenig darf seine historische Genese, die Rolle bestimmter Klassenkräfte bei seiner Entstehung und seinem Verlauf übersehen werden.

Eine nicht geringe Rolle spielen auch irrige Auffassungen vom Sozialismus - als historischer Irrtum oder als Verfallsgeschichte von Anfang an. Auch seine Verfälschung als übergeschichtliches Ideal, als moralisches Postulat oder als utopisches Wunschbild, als ein Gedankengebilde also, das der Realität übergestülpt wird und daher zwangsläufig an der menschlichen Natur scheitert. Dieses Zerrbild eignet sich dazu, jeden in der sozialistischen Praxis auftretenden Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit zuungunsten des gesamten Ansatzes auszuschlachten. Flankiert wird dies durch eine neue Welle von Versuchen, den Marxismus zu einem liberalen Konzept zu verbiegen.

Erwähnt werden muss schließlich der postmoderne Relativismus, die Verkündung von Beliebigkeit und Ungewissheit als endgültige Norm menschlicher Weltsicht. Es gibt keine zuverlässige Erkenntnis - wird behauptet - keine Wahrheit und keine Wirklichkeit. Sinnentleerte, inhaltlose Begrifflichkeiten gelten als letztes Wort philosophischen Denkens. Letzteres richtet sich natürlich gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Begründung des Sozialismus. Klaus Lederer erhebt in seinem jüngsten, auch in der 'Jungen Welt' aufgegriffenen Artikel derartige Denkweisen zum Credo eines zeitgemäßen linken Selbstverständnisses.(2)


2. Unter Theoretikern der konsequenten Linken wächst der Konsens darüber, dass die DDR in ihrem historischen Kontext gesehen werden muss. Der Blick auf die erwähnten Denkmuster zeigt, dass dies nicht nur als banale Forderung an eine wissenschaftliche Analyse zu verstehen ist. Und bis heute reicht sogar in linken Gremien der Hinweis auf die historischen Startbedingungen der Oktoberrevolution oder auch der DDR aus, um sich dem Verdacht auszusetzen, man wolle den Sozialismus 'verklären', ihm 'mildernde Umstände' zugestehen.

Es geht also um mehr. Auf dem historischen Kontext dieses Sozialismus zu bestehen, bedeutet, ihn als Moment eines weltgeschichtlichen Prozesses zu begreifen, als Moment des neuzeitlichen Ringens um Fortschritt, des Kampfes gegen die kapitalistische Ausbeuterordnung, des Eintretens für eine Alternative zu den menschheitsgefährdenden Tendenzen der Kapitalherrschaft in der Gegenwart!

Und das bedeutet gleichzeitig, gedanklich einen Bogen zu schlagen vom Vernunftbegriff der klassischen deutschen Philosophie zur marxistischen Dialektik. Die Klassik stellte - das betonte immer wieder der kürzlich verstorbene Manfred Buhr - das Denken über Geschichte, die Frage nach ihrer Erkennbarkeit und rationalen Gestaltung durch den Menschen in das Zentrum weltanschaulicher Aufmerksamkeit. Darauf fußend hat der moderne, der historische Materialismus - so Friedrich Engels - die innere Gesetzmäßigkeit des Entwicklungsprozesses der Menschheit nachgewiesen.

Im Verständnis der Geschichte als objektiver, gesetzmäßiger, widerspruchsvoller Prozess, der sich über den Wechsel sozialer Formationen vollzieht, sehe ich die entscheidende theoretische Voraussetzung für eine angemessene historische Bewertung der DDR. Nur auf diesem Fundament ist zu begreifen, warum die realsozialistische Entwicklung so und nicht anders verlaufen ist. Nur so erschließt sich ein Zugang zu den Zielen dieses Staates und zum Selbstverständnis ihrer Akteure.

In meinem Artikel habe ich das Problem einer wissenschaftlichen Berechtigung dieses Anspruchs aufgeworfen.(3) Hier beschränke ich mich auf eine Überlegung.

Im 'Kommunistischen Manifest' legen Marx und Engels ihre Meinung zum geschichtlichen Platz des Kapitalismus dar. Sie charakterisieren ihn als eine Gesellschaft, die sich um der Lösung herangereifter realer Probleme willen durchgesetzt hat und insofern einen geschichtlich notwendigen, einen alternativlosen Fortschritt markiert. Aus dem Auftreten neuer, spezifischer Widersprüche im Gang der kapitalistischen Dinge und deren allgemeiner Tendenz leiten sie zugleich ihre Überzeugung ab, dass diese kapitalistische Formation nicht das letzte Wort der Geschichte sein kann. Das verstehe ich unter einer rationalen historischen Erklärung dieser Gesellschaft.

Gleiches lässt sich von der Sicht der bürgerlichen Ideologie auf den Sozialismus nicht sagen! Die Bourgeoisie hat keine angemessene Sicht auf ihren eigenen geschichtlichen Charakter und die objektive Möglichkeit einer grundsätzlichen Alternative zu ihrer Herrschaft. Sie begreift ihre Ordnung als naturgegebene Normalität und den Sozialismus als eine vorübergehende, korrigierbare Abweichung. Deshalb vor zwanzig Jahren die Siegesfanfare: "Ende der Geschichte!" Und deshalb ist in dieser Perspektive 1989 das einzig legitime Jubiläum des neueren Deutschland - und nicht etwa 1945! Deshalb aber eben auch kein rationaler Zugang zu dem, was sich da zwischen 1945 und 1989 jenseits von Elbe und Werra getan hat.

Dass sie seit dem 'Kommunistischen Manifest' und seit 1917 eine weltanschauliche Ahnung von etwas hat, das sich möglicherweise ihrer Kontrolle entzieht und dass sie dem mit klassenmäßigem Instinkt und allen Mitteln Einhalt zu gebieten versucht, steht nicht auf einem anderen Blatt - es ist die Konsequenz der skizzierten Wahrnehmungsblockade!


3. Aus dieser Grundposition ergeben sich Folgerungen. Zunächst. Geschichtliche Prozesse und Zustände sollten von ihrem historisch-praktischen Ausgangspunkt und nicht von ihrem Ende her analysiert werden.

Unter einem derartigen Ausgangspunkt verstehe ich nicht nur die gegebenen (förderlichen oder hinderlichen, günstigen oder ungünstigen) Bedingungen, von denen immer wieder die Rede ist. Ich meine vielmehr die jeweilige historische Gesamtsituation, die Summe der sie bestimmenden Tendenzen, Widersprüche, Klassenkräfte, Grenzen und Perspektiven.

1917 und 1945 war der Ausgangspunkt der revolutionären Prozesse eine gesamtgesellschaftliche existentielle Katastrophe, die Hinterlassenschaft verheerender Weltkriege! Eine Katastrophe freilich mit einem klassenmäßigen Vorzeichen - sie war Resultat der Logik des Profitsystems. Ein tiefgreifender historischer Bruch stand auf der Tagesordnung - die Beseitigung der imperialistischen Wurzeln des Krieges.

Zu betonen ist also, dass der auf diese Weise entstandene Grundkonflikt von prägender Bedeutung für den Charakter der gesamten folgenden Entwicklung - bis hin zur Niederlage von 1989/91 - war. Die DDR war - schrieb der Romanist Winfried Schröder einmal - "die erste reale Herausforderung für die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland..."

Das ist der Kern deutscher Nachkriegsgeschichte! Der nach 1945 staatliche Existenz annehmende Klassenantagonismus war nicht nur die Reproduktion des geschichtlichen Ausgangspunktes in Gestalt einer äußeren Bedingung. Es handelte sich auch nicht nur um die Einwirkung beider Seiten aufeinander bis hin zur Modifikation der jeweiligen inneren Entwicklung. Dieser Antagonismus war vor allem eine innere Komponente aller wichtigen politischen Entscheidungen. Die Entwicklung auf beiden Seiten war objektiv Moment dieses Antagonismus; was in Gestalt der Phasen politischer Zuspitzung (1956, 1961, 1968, 1989) unübersehbar an der Oberfläche der Geschehnisse in Erscheinung trat, latent jedoch immer gegeben war. (4) bestimmenden Faktoren, der objektive Charakter der Aktionen und Ereignisse und nicht zuletzt die maßgeblichen Motive der Handelnden in beiden deutschen Staaten lassen sich deshalb nicht rückblickend, vom Ende her ausmachen. Und deshalb halte ich die Position, "Nur die kritische und selbstkritische Analyse des Scheiterns der DDR" könne "den Weg für gesellschaftliche Zukunftsprojekte öffnen"(5), für problematisch.

Die Fortdauer des Klassenantagonismus macht sich meines Erachtens auch in der historischen Kontinuität des Antikommunismus bemerkbar. Bezugnehmend auf den unsäglichen Beschluss des CDU-Parteitages vom Ende vorigen Jahres schrieb Jan Korte, Bundestagsabgeordneter der 'Linken', die "antikommunistische Ideologie und Agitation der Konservativen" habe sich "in über 50 Jahren kein Stück weiterentwickelt - weder inhaltlich noch sprachlich."(6)

Die Argumente, aber auch bestimmte Institutionen und Akteure, die uns nach '89 beglücken, unterscheiden sich in der Tat kaum von denen vor '89. Nicht ihre Defizite oder Fehler, sondern die Tatsache der DDR sind das Problem für den Antikommunismus. Seine anwachsende Präsenz in der Geschichtsdebatte signalisiert, dass es immer weniger um Aufarbeitung geht. Ihre Substanz hat sich insofern gegenüber den neunziger Jahren verlagert.


4. Ein enormer Fortschritt der Geschichtsdebatte ist darin zu sehen, dass dem pausenlosen Verweis auf Defizite und Fehlentwicklungen entgegengehalten wird, dass es da auch Positives, Errungenschaften, Bewahrenswertes gegeben hat. Auch dies eine Reaktion auf die zunehmend intensive Bekanntschaft mit dem 'gewöhnlichen' Kapitalismus.

Allerdings bezieht diese Richtigstellung ihr eigentliches Gewicht meines Erachtens erst aus ihrer Beziehung auf das Ganze, auf die Grundinteressen und historischen Ziele eines sozialistischen Systems. Errungenschaften und Fehlentwicklungen stehen nicht nur in einem äußeren, mechanischen Verhältnis zueinander. Sie stellen vielmehr ihrem Wesen nach Momente der widersprüchlichen Entwicklung eines konkret-historischen Ganzen, einer Totalität dar. Das wäre eine weitere Folgerung.

Ein eklatantes Beispiel für das Auseinanderreißen von Positivem und Negativem sowie für die Isolierung beider gegenüber dem Ganzen ist die Zuweisung aller Fehlentwicklungen auf die SED oder die Regierung und alles Positiven auf das Wirken anonymer Kräfte oder sogar auf die Opposition gegen diesen Staat.

Die Frage drängt sich auf, ob es gesamtgesellschaftliche Errungenschaften gibt - im Bildungs- und Gesundheitswesen, in der Kultur, bei der Realisierung sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit, in Gestalt des Arbeitsrechtes oder wo auch immer - deren Idee, Entwurf und Konzept ihren Weg nicht durch Beschlüsse der SED und der Regierung genommen hätten?

Oder - es wird kaum in Abrede gestellt, dass es Wirkungen dieses Staates auf die nichtsozialistische Welt gegeben hat, Wirkungen, die auf Solidarität mit den Armen, auf nationale und koloniale Befreiung, auf die Stärkung antiimperialistischer Bewegungen und Friedenssicherung zielten. Auf der Marxismus-Konferenz 2007 fragte der Marburger Sozialwissenschaftler Frank Deppe, wie es sein könne, dass ein ökonomisch maroder Unrechtsstaat Maßstäbe selbst für den entwickelten Kapitalismus setzen konnte (Soziale Zugeständnisse), die heute wieder eingerissen würden?(7)

Es geht in diesem Zusammenhang nicht nur um die früher oft ins Feld geführte "Beispielwirkung" des sozialistischen Systems. Es geht um die Existenz einer realen Gegenmacht. "Die Welt war berechenbarer und um viele Hoffnungen reicher, als dieser unvollkommene, frühe Sozialismus eine unbegrenzte Kapitalherrschaft auf diesem Planeten verhinderte" heißt es in einer Erklärung von Michael Benjamin und anderen aus dem Jahr 1995.

All diese Wirkungen waren keine zufälligen Effekte dieser Staaten, sondern Konsequenz ihrer sozialen Qualität. Sie zwingen zu Rückschlüssen auf seine inneren, unverwechselbaren Wesenszüge. Die Frage nach ihren Ursachen und ihrem Charakter kann nicht beantwortet werden, ohne sie auf das Gesamtsystem zu beziehen.

Natürlich gilt dies so oder so auch für Negatives! Jede Fehlentwicklung hat ihre spezifischen Ursachen - objektive und subjektive. Sie waren vermeidbar oder strukturell bedingt oder unumgängliche Begleiterscheinung notwendiger Prozesse. Worum es geht, ist, bei der Analyse den widersprüchlichen Charakter auch dieses Gesellschaftssystems anzuerkennen. Zu Recht hat Michael Schumann vor langer Zeit schon darauf aufmerksam gemacht, dass es zur Strategie des gegnerischen Umgangs mit der DDR gehört, deren "spezifische historische Widersprüchlichkeit" auszuklammern.(8) Ist dies doch eine methodische Voraussetzung, um diesen Staat willkürlich auf bestimmte Seiten zu reduzieren und deren Auftreten zu mystifizieren.

Nicht zu vergessen ist auch die übergreifende Verkettung innerer und äußerer Widersprüche (Beispiel '89, Beispiel Triebkräfte). Innere Prozesse und Widersprüche der DDR, die ihrer Natur nach keinen politischen Charakter trugen, wurden zum Politikum durch ihre Funktion im internationalen Geschehen. Victor Grossman hat dieses Dilemma einmal so beschrieben:

"Weiß Gott, es wurden viele Fehler in der DDR gemacht, auch verhängnisvolle, wie man nach dem Untergang leichter erkennt. Doch nicht ohne Anlass, denn etliche böse Maßnahmen... stammten aus der Hoffnung - oft verzweifelt, dumm, brutal, meistens auch kontraproduktiv -, die DDR vor den unaufhörlichen, mächtigen, am Ende erfolgreichen Angriffen zu retten."(9)


5. Die historische Bewertung wesentlicher Prozesse und Erscheinungen der sozialistischen Realität muss die ihnen eigenen Triebkräfte und Gesetzmäßigkeiten in Rechnung stellen.

In der Kontroverse um den künftigen linken Justizminister Brandenburgs sagte der Generalstaatsanwalt des Landes Rautenberg vor kurzem, "es sei nicht angängig, alle Staaten, welche die Rechtsstaatskriterien (des Grundgesetzes - E.H.) nicht erfüllen, deswegen in Bausch und Bogen zu Unrechtsstaaten zu erklären".(10) Diese goldrichtige, aber leider sehr vereinzelte Einsicht berührt eine zentrale Achse der Erinnerungsschlacht. Es ist ein allgemeines Verfahren ideologischer Verkehrungen, den historischen und den Klassencharakter von Wertvorstellungen dadurch zu verschleiern, dass ihnen formal ein allgemeinmenschlicher Ausdruck verliehen wird.

Stichwort 'Demokratie'. Dass es unterschiedliche historische Typen von Demokratie gibt, wird im antisozialistischen Denken bestenfalls für die Vergangenheit gelten gelassen. Dass es bürgerliche und sozialistische Demokratie geben könne, wird selbst in linken Debatten nicht selten ignoriert. Wenn aber die politische Struktur der DDR ausschließlich am Demokratieverständnis der heutigen kapitalistischen Gesellschaft gemessen wird, steht das Urteil von vornherein fest. Natürlich darf hier nicht vereinfacht werden. Es geht auch hier um das Reduzieren. Das eine ist, dass sich das Demokratieproblem mit dem Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft neu stellt. Marx hat dies philosophisch begründet. Originäre bürgerliche Demokratie wurzelt in dem Grundkonflikt von formaler, politischer Freiheit und sozialer Ungleichheit. Die Möglichkeit, diesen Widerspruch zu überwinden, bietet das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln. Die Ansätze und ersten Schritte auf diesem Weg, die in der DDR begangen wurden, fallen unter den Tisch, wenn als demokratisch nur gilt, was die bürgerliche Begrifflichkeit zulässt.

Andererseits wurde von uns theoretisch und praktisch der historische Bruch zwischen bürgerlicher und sozialistischer Demokratie verabsolutiert. Unverzichtbare Elemente und Errungenschaften vorsozialistischer Demokratie wurden beseitigt. Nur - während vor 1989 sogar von konservativen westlichen Intellektuellen die Merkmale einer neuen Art von Demokratie (Garantie sozialer Rechte) öffentlich anerkannt wurden, ist davon in der Erinnerungsschlacht nicht mehr die Rede. Alles ist auf deren nachträgliche Liquidation angelegt.

Antidemokratische Praktiken dürfen auch im Nachhinein nicht gerechtfertigt werden. Allerdings gilt meines Erachtens nach wie vor der Satz aus dem 'Kommunistischen Manifest': "Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, dass in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird."


Prof. Dr. Erich Hahn, Berlin


Anmerkungen

(1) Vgl. dazu unter anderem: Jörg Roesler, Der verordnete Bankrott. Mythen über die wirtschaftliche Lage der DDR Ende der 1980er Jahre. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Nr. 79, September 2009. S.67ff. Daniela Dahn, Wehe dem Sieger. Ohne Osten kein Westen. Hamburg 2009. S. 164f

(2) Vgl. Klaus Lederer, Links und Libertär? Warum die Linke mit individueller Freiheit hadert. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 7/2009. S.98ff. Marianna Schauzu. Antisozialistische Agenda. In: Junge Welt, 6. Oktober 2009

(3) Vgl. Erich Hahn, Zum Streit um die DDR. in: Marxistische Blätter. Heft 3-09. S.33ff

(4) Der Kapitalismus und das sozialistische Weltsystem "stießen sich komplementär voneinander ab und waren zugleich ineinander verschlungen, man ist versucht zu sagen, wie Yin und Yang. Der eine Ursprung war der Mensch in der hierarchischen Gesellschaft, die Vielfalt der Erscheinung zeigte sich in den antagonistischen Ordnungen. Seit der Oktoberrevolution konnte keiner mehr isoliert agieren, alles Handeln hatte seinen Bezug im anderen. Als dynamische Gegensätze haben sie einander geschwächt und bestärkt. Da sie nur in Relation zueinander komplett waren, verbargen sie ihre Unvollkommenheit unter dem Mantel der Konkurrenz. Im Laufe der Zeit, die Paradoxien der Gewöhnung opfert, konnte man sich der Illusion hingeben, es mit autonomen Systemen zu tun zu haben." Daniela Dahn, Wehe dem Sieger. Ohne Osten kein Westen. Hamburg 2009

(5) ND 12./13.IX.2009

(6) ND 4./5.X.2008, S. 1

(7) Vgl. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Nr. 70, S. 192

(8) ND 3.XI.1992

(9) ND 31.V.2001

(10) ND 2.X.2009


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Quelle:
Freidenker - Nr. 4-09 Dezember 2009, Seite 19-24, 68. Jahrgang
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2010