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BERICHT/178: Das gläserne Kind oder die Chance, andere Wege zu gehen (diesseits)


diesseits 1. Quartal, Nr. 78/2007 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Das gläserne Kind oder die Chance, auch andere Wege zu gehen

Von Kerstin Volgmann


Beobachtung und Dokumentation ist seit einigen Jahren ein Schwerpunktthema in der frühkindlichen Erziehung. Alle Bundesländer haben dieses Thema aufgegriffen und mit Hilfe wissenschaftlicher Begleitung unterschiedliche Konzepte entwickelt. Ob dem vorbehaltlos zuzustimmen ist, diskutieren die Kitaerzieherinnen im Humanistischen Verband Berlin.


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Seit 2006 ist der Humanistische Verband Berlin nunmehr Träger von 22 Kindertagesstätten und somit direkt von den zahlreichen bundesweiten Neuerungen in der frühkindlichen Bildung betroffen, die spätestens seit der Pisastudie immer mehr in den Fokus von Wissenschaft und Politik gerückt ist. Kindertagesstätten werden jetzt ernsthaft als Bildungseinrichtungen angesehen, woraus sich neue Anforderungen an das professionelle Handeln ergeben. Als eine wichtige Arbeitsaufgabe der ErzieherInnen wird das Beobachten und Dokumentieren angesehen. Das heißt, es muss wahrgenommen, beschrieben und gedeutet, reflektiert und dann aufgeschrieben werden, wie Kinder sich verhalten und wie ihr Entwicklungsstand ist. Für das Land Berlin wurde eigens das Sprachlerntagebuch entwickelt und im Sommer 2006 für alle Kitas in Berlin verbindlich eingeführt. In diesem Beobachtungsinstrument wird der Sprachstand festgestellt und gleichzeitig ein Austausch mit Eltern und Kindern über deren Wahrnehmung ihrer häuslichen sowie der institutionellen Situation über entsprechende Formulare eingefordert.


Flächendeckende Beobachtung

Inzwischen ist Beobachtung und Dokumentation in allen Bildungsplänen der frühkindlichen Erziehung verankert. Es sind sehr schnell eine Unmenge verschiedener Beobachtungs- und Dokumentationskonzepte auf den "Markt" geraten, die meines Erachtens in vielen Fällen von einem defizitären Bild vom Kind ausgehen. Grundlagen sind hier in der Regel Einschätzskalen, Entwicklungskurven bzw. Arten von Multiplechoice-Verfahren, das heißt eine Reduzierung auf Ja- oder Nein-Antworten, um zu analysieren und in einigen Fällen sogar zu diagnostizieren, was das Kind kann bzw. nicht kann, um es dann zielgerichtet in seiner Entwicklung zu fördern. Aber wird damit dem Kind wirklich eine Chance gegeben, seine individuelle Geschichte zu erzählen und zu entwickeln? Oder wird es nicht ausschließlich nach seinen sichtbaren Leistungen und seinem Verhalten, das durch den Erwachsenen eingeschätzt wird, charakterisiert und somit fremdgesteuert? Und das mit dem "einfach nur Spielen" hat sich damit auch erledigt. Nun beobachten wir die Kinder und gestalten die entsprechenden pädagogischen Angebote. Und wer nicht ständig beobachtet und dokumentiert, ist nicht professionell. Aber ist das wirklich so einfach? Setzt dieses professionelle Handeln nicht die Auseinandersetzung mit der wichtigen Frage nach der ethischen Grundhaltung im Prozess von Beobachtung und Dokumentation voraus? Und wie steht es mit dem rechtlichen Hintergrund? Sind uns nicht aus der eigenen Geschichte oder aus den Medien genügend Beispiele für Verletzungen der Persönlichkeitsrechte bekannt? Abhorch-, Aushorch- bzw. Ausforschgeschichten sind immer wieder in der aktuellen öffentlichen Diskussion.

Bevor wir daher unsere Kitas mit dieser Thematik konfrontierten, stellte sich für uns als Fachbereich Kindertagesstätten des Humanistischen Verbandes Berlin vor allem die Aufgabe der Positionierung zu dieser Fragestellung. Ausgehend vom humanistischen Menschenbild standen dabei die ethischen Verpflichtungen im Vordergrund, die wir gegenüber den Menschen haben, in diesem Fall insbesondere gegenüber den Kindern, und wie wir die Rechte der Kinder im Beobachtungs- und Dokumentationsprozess beachten sowie schützen können und müssen. Aus unserer Sicht darf Beobachtung und Dokumentation, auch wenn es vielleicht überspitzt klingt, nicht zu einer Art Überwachungsmechanismus im Kitaalltag werden. Nicht das "gläserne Kind" ist das pädagogische Ziel, sondern durch die Beteiligung und Mitbestimmung der Kinder und Erwachsenen muss Beobachtung und Dokumentation vielmehr ein "gläserner Prozess" sein.

Ohne Frage verlangt diese Herangehensweise eine hohe Sensibilität bei allen Beteiligten. Der Zugang zu diesem Thema ist immer durch die eigene biographische Erfahrung und der daraus resultierenden persönlichen ethischen Haltung geprägt. Doch unser humanistisches Selbstverständnis erfordert von uns ein reflexives Handeln, um die Kinder, aber auch die Erwachsenen, nicht zu Beobachtungsobjekten zu machen. Das erscheint einleuchtend, aber wie gelingt es uns in der Praxis, die Forderungen des Landes Berlin, die individuellen Erfahrungen der Erwachsenen und die Bedürfnisse und Rechte der Kinder im Alltag mit unseren humanistischen Grundauffassungen in Übereinstimmung zu bringen?


Die Würde des Kindes

Dass alle Menschen das Recht haben, als Subjekt wahrgenommen zu werden, steht in der Verfassung. Damit sollte eigentlich die Partizipation der Betroffenen im Beobachtungs- und Dokumentationsprozess eine Selbstverständlichkeit sein. Auch das Kind hat demnach dieses Recht, unabhängig von seinen Eigenschaften, seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder sozialen Status.

Aber so selbstverständlich scheint diese Position doch nicht zu sein, denn erleben wir nicht auf allen Ebenen immer wieder das Gegenteil? So wurden gerade in letzter Zeit verschiedene Gesetze verabschiedet, die heftig diskutiert wurden, ob der Artikel 1 des Grundgesetzes hinreichend berücksichtigt wurde. Also eine immer wiederkehrende und aktuelle Diskussion.

Nicht zuletzt deshalb ist es für uns im Kitabereich ein wichtiges Thema. Es spiegelt unsere Menschenhaltung, unser humanistisches Menschenbild wider. Es prägt unseren pädagogischen Alltag und entscheidet über die Qualität unserer gelebten Beziehung.

Wenn ich das Recht der Menschen ernst nehme, über die sie betreffenden Angelegenheiten entscheiden bzw. partizipieren zu können, dann muss eine authentische Reziprozität, das heißt eine gleichwürdige Wechselseitigkeit im Alltag auf allen Ebenen gelebt werden. Auch wenn es keine Gleichberechtigung zwischen Erwachsenen und Kindern geben wird, so verfügen Kinder doch als Menschen über die gleiche Würde. Das heißt für uns, die Verschiedenartigkeit, Individualität anzuerkennen und zu achten, reziproke befriedigende Beziehungen zu gestalten und zu leben sowie die individuellen Bedürfnisse wahrzunehmen und anzuerkennen. In der Kita sind gerade die Bedürfnisse der Kinder zu achten und zu respektieren. Es dürfen keine gedankenlosen Dokumentationen über Menschen angefertigt werden, die dann demütigend sind. Es liegt eine große Verantwortung in diesem pädagogischen Auftrag, der nur mit großem Bewusstsein zu unseren biographischen Erfahrungen sowie zu unserer ethischen Haltung angenommen werden darf.


Achtsame Wahrnehmung

Darum widmen wir uns seit Monaten intensiv diesen Themen und es findet dabei auf allen Ebenen ein konstruktiver Austausch statt. Es gibt Foren, in denen an den Zielen und Handlungsmaximen von Beobachtung und Dokumentation gearbeitet wird. So wurde zum Beispiel eine Forschungsgruppe ins Leben gerufen, in der wir zusammen mit Erzieherinnen aus unseren Kitas bei gleichzeitiger externer wissenschaftlicher Begleitung uns diesem Thema stellen. Hier werden in der Empirie alle Erfahrungen und Forschungsfragen gesammelt, dann in der Forschungsgruppe bearbeitet und zur Überprüfung in die Praxis gegeben. Darüber hinaus beschäftigt sich die Gruppe mit altem und neuem theoretischen Wissen, um im Ergebnis eine humanistische Beobachtungsphilosophie für unseren Fachbereich zu erarbeiten. Ziel ist es, ein handhabbares Beobachtungs- und Dokumentationsgerüst für den pädagogischen Alltag zu entwickeln.

Eine unserer wichtigsten erarbeiteten Handlungsmaxime ist, dass Beobachtung und Dokumentation vor allem als Beachtung und Wertschätzung der kindlichen Persönlichkeit zu verstehen ist, weg vom professionellen systematischen Erfassen kindlicher Daten - hin zum professionellen, achtsamen Wahrnehmen. Es geht um eine beachtende, neugierige Begegnung von Kindern und Erwachsenen, nur so haben Kinder und Erwachsene die Chance, eine individuelle Begleitung und Stärkung ihrer Person zu erfahren.

Dieses Verständnis von Pädagogik impliziert unser humanistisches Menschenbild und wirkt handlungsweisend bei der Erarbeitung unserer Beobachtungs- und Dokumentationsphilosophie. Wir sind sehr an einer breiten Diskussion interessiert und suchen immer Mitstreiter.

Kerstin Volgmann ist Referentin im Fachbereich Kita des Humanistischen Verbandes in Berlin.


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Quelle:
diesseits 1. Quartal, Nr. 78/2007, S. 22-23
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. Oktober und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 12,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2007