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BERICHT/194: Freiheit und Menschenwürde im Diskurs der Antike (ha)


humanismus aktuell Heft 22 - Sommer 2008
Hefte für Kultur und Weltanschauung

Freiheit und Menschenwürde im ethischen und politischen Diskurs der Antike

Von Hubert Cancik


Ursprung und Deutungsanspruch

Ursprung

Die Vorstellungen von Freiheit und Menschenwürde, wie sie in der Neuzeit entwickelt wurden, haben ihren Ursprung in der griechisch-römischen Antike, in der alten Kultur jener beiden Länder, deren Botschaften sinnvoller Weise neben dem Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung stehen, den Botschaften von Hellas (im Bau) und Italien (erbaut 1938-1943).

Die antike Freiheit entsteht, erstens, mit der Selbstbestimmung der Bürgergemeinde, mit der Autonomie und Autarkie der Polis in der archaischen Epoche von Hellas (8.-6. Jh. v. Chr.). Die Symbolorte dieser äußeren und inneren Freiheit des männlichen, wehrfähigen, besitzenden Bürgers (Politen) sind Athen und Marathon. Das kollektive Gedächtnis aller europäischen Länder verbindet mit diesen Orten die Konstruktion von Demokratie als Staatsform und deren auch militärisch durchaus Furcht erregende neuen Energien.

Die antike Freiheit entsteht, zweitens, in dem scharfen, bis tief in die Neuzeit ungelösten Konflikt zwischen erzwungener, unfreier Arbeit (Sklaverei, Hörigkeit, Leibeigenschaft u.ä.) und der Einsicht in die Gleichheit und persönliche Freiheit der Menschen "von Natur aus" (griech. physei, lat. natura) oder, wie die Neuzeit sagt: "by nature equally free and independent". [1]

Die antike Freiheit entsteht, drittens, in der Ethik, und zwar aus der Übertragung der Freiheit des Staates (Polis) und des Bürgers (Politen, civis) auf die Person, den einzelnen Menschen. Das Individuum wird autonom gedacht, autark wie der ideale Staat, frei und selbstbestimmt. Aus dieser grundsätzlichen Freiheit jeder ethischen Handlung und aus der inneren Freiheit der Demokratie wird später die Freiheit der religiösen Handlung abgeleitet: libertas religionis als ius humanum - Religionsfreiheit ist Menschenrecht.

Und schließlich: Das Wort und ein Begriff von Menschenwürde ist im 2./1. Jh. v. Chr. gebildet worden in der stoischen Anthropologie und Moral. Die wichtigsten Aspekte dieser Vorstellung sind: die Herrschaft der Vernunft; ein scharfer Gegensatz zu dem angeblich vernunft- und sprachlosen Tier; die Individualität, Selbstbestimmung und Geschichtlichkeit der Person.


Deutungsanspruch

Soviel, zunächst, zum Ursprung der neuzeitlichen Vorstellungen von Freiheit und Menschenwürde. Die Freilegung dieser Ursprünge ist nicht antiquarischer Kleinkram, Müßiggang der Historiker. Der Nachweis von Herkunft, Abstammung, Ursprung verleiht Rechte und Pflichten, Ansprüche auf Erbe und Teilhabe. Die Behauptung der Urheberschaft impliziert den Anspruch auf Deutung und Nutzung des symbolischen Kapitals einer Gesellschaft.

Wer behauptet, "alle prägnanten politischen Begriffe der modernen Staatslehre" seien "saekularisierte theologische Begriffe", sie seien "aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen", verlagert die Begründung dieser Begriffe und den Deutungsanspruch auf Religion und Theologen. [2]

Für die Antike allerdings trifft die zitierte Behauptung von Carl Schmitt (1888-1985) nicht zu. Die Begriffe Freiheit (eleuthería; libertas, emancipatio), Menschenwürde (dignitas hominis), Demokratie (demokratía), Republik, ja selbst Politik, Monarchie und Diktatur sind gewiß prägnante politische Begriffe, aber keineswegs sind sie aus Religion oder Theologie "übertragen", geschweige denn durch einen Vorgang von "Verweltlichung" oder "Saekularisation".

Es sind vielmehr Begriffe der politischen Erfahrung und Theorie, in öffentlicher Rede und Geschichtsschreibung verbreitet, durch philosophische Reflexion, durch politologische und rechtsgeschichtliche Arbeit vertieft. [3] Weder in den geschichtlichen Vorgängen selbst - bei der Entstehung der Polis, der Demokratie, der "Entfaltung der Persönlichkeit" in einem freien Staat - noch im Bewusstsein der Griechen und Römer ist irgendwo das Verlaufmodell oder die Denkfigur "Saekularisation" vorhanden. Dementsprechend ist aber auch die Rezeption der antiken Politik und Ethik in die Neuzeit kein Akt von Entheiligung oder Verweltlichung, sondern die Nutzung oder Wiedergewinnung antiker Substanz durch humanistische Arbeit und Tradition.


Freiheit und Gleichheit

Demokratie in Athen

Der wichtige und prägnante Begriff "Freiheit" ist in der klassischen Antike nie ein religiöser oder theologischer Begriff. Er wird benutzt von den politischen Denkern der Antike, den Philosophen, Geschichtsschreibern, Rednern und Dichtern, um die "Einrichtung der Demokratie" zu erklären: "Erstens nun sind sie (in der Demokratie) frei", schreibt Platon, "und der Staat ist voll von Freiheit und es gibt offene Rede und die Möglichkeit in ihr, zu tun, was einer will."

Keineswegs sieht Platon in dieser freiheitlichen Einrichtung seinen Idealstaat. Vielmehr betont er die Gewalt und den wirtschaftlichen Zwang, welche die Einrichtung von Demokratie begründen: "Demokratie entsteht, wenn die Armen (die besitzlosen Bürger) gesiegt haben und dann von der anderen Partei (den Reichen) die einen töten, die anderen hinauswerfen (aus der Polis), den übrigen aber gemäß dem Prinzip der Gleichheit (ex ísou) Anteil geben am Staate und den Ämtern." [4]

Auch Aristoteles verbindet die Freiheit in der Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip und politischer Gleichheit bei ökonomischer Ungleichheit: "Wodurch sich die Demokratie und die Oligarchie voneinander unterscheiden, ist Armut und Reichtum". [5] Wo die Besitzlosen herrschen, ist Demokratie. Es sei falsch zu behaupten, die Bürger seien gleich, wenn sie frei seien; denn außer der Freiheit ist der Besitz im politischen Leben entscheidend, und da sind sie, auch wenn frei, doch ungleich.

Die antiken Demokratien versuchten, die Freiheit des Bürgers gegenüber der Ungleichheit der Vermögen zu bewahren durch Begrenzung und Teilung der Macht: Amtsdauer ein Jahr, Einschränkung der Wiederwahl, Verbot der Ämterhäufung, Kollegialität, Losverfahren, Rechenschaftspflicht. Dennoch: "Selbst die glänzendste aller Demokratien, die von Athen, hat es erfahren müssen, daß die Freiheitsliebe der wirtschaftlich Stärkeren, der Besitzenden und Gebildeten, und der Gleichheitsdurst der niederen Massen auf die Dauer nicht zusammengehen können, weil eben die Freiheit stets die Tendenz in sich trägt, zur Herrschaft der Stärkeren über die Schwachen, die Gleichheit aber die, zur Freiheitsbeschränkung der Stärkeren zu entarten, weil Freiheit und Gleichheit - extrem gefaßt - sich gegenseitig ausschließen." [6]

Es sind diese realen Dilemmata, diese Erfahrungen mit dem Experiment Demokratie, diese widersprüchlichen und parteilichen Folgerungen, die Dichter, Redner, Historiker und Philosophen aus diesen Erfahrungen zogen, in denen der politische Freiheitsbegriff im 6.-4. Jh. v.Chr. ausgebildet wurde.

Weder dieser Freiheitsbegriff noch die durchaus prägnanten und wichtigen politischen Begriffe, die ihn begründen und konkretisieren, sind theologische Begriffe, auch nicht ehemalige, verweltlichte theologische Begriffe.

Ein demokratisch eingerichteter Staat, so hatte Platon gesagt, "ist voll von Freiheit und es gibt offene Rede und die Möglichkeit in ihr, zu tun, was einer will". In Platons Wortwahl klingt es nach Anarchie und Libertinage. Die Freiheit befördert die Entfaltung individueller Lebensformen. Platon schreibt: "Ein jeder könnte sich seine eigene (idían) Einrichtung des Lebens einrichten, welche einem jeden paßt."

Deshalb gibt es vielerlei Lebensentwürfe. Der Staat wird bunt, sagt Platon, wie ein schönes Gewand, wie mit allen Blumen geschmückt. Auch dies ist ein zwiespältiges Lob. Aber die Vielfalt der Lebensformen und die enorme Energie der Gleichen und Freien wird von allen Beobachtern der Demokratie in Athen berichtet.

Nach der "Befreiung" von den Tyrannen, schreibt Herodot, "wuchsen die Athener. Es ist offenbar, daß Gleichheit (isegoría) nicht in einer Hinsicht allein, sondern überhaupt eine starke Sache ist." [7] Athen überflügelt jetzt die anderen griechischen Staaten, weil jeder Einzelne nicht mehr für einen Despoten, sondern "für sich selbst" arbeitet (hékastos heautó). Politische Freiheit und Gleichheit stimulieren Individualismus und Leistung in Wirtschaft, Bildung, Militärwesen. Die Geschichte Athens lehrt, dass dieser politische und kulturelle Fortschritt zugleich auch Ungleichheit und extreme Unfreiheit erzeugt.

Die ausführlichste und genauste Untersuchung dieser widersprüchlichen Entwicklung hat in der Antike der Flottenkommandeur und Historiker Thukydides geschrieben. [81 Athen ist ihm ein "Paradigma" (2,37,1): Ein immer freies Land, nie von Einwanderern besetzt, hat es jetzt ein Imperium und die völlige Autarkie erreicht (2,36,1-3: pólis autarkestáte).

Der Name seiner Verfassung wird "Demokratie" genannt, weil die Mehrheit bestimmt. Gemäß den Gesetzen gilt in seinen eigenen Angelegenheiten jeder das Gleiche. Frei ist das öffentliche Leben der Bürger, frei auch das alltägliche Leben; jeder kann nach seinem eigenen Geschmack leben. Der Einzelne findet bei uns, in Athen, die meisten Formen des Lebens (2,41,1). Die freie Entfaltung des Einzelnen in einem autarken Staat ist ein Grund, so Thukydides, für die Macht Athens im Jahre 431 v.Chr.

Dieser "Lobes-Hymnus" auf die Stadt Athen entwirft, den Gesetzen der Gattung "Städte-Lob" entsprechend, ein idealisierendes Muster, ein Paradigma. Er benutzt dabei die politischen Theorien seiner Zeit, auch die umstrittene Lehre vom Recht des Stärkeren, jedoch keinerlei theologische Begriffe. Das hohe Lob athenischer Demokratie und Freiheit, kultureller Leistung und Imperialismus bleibt bei einem sorgfältigen Historiker wie Thukydides nicht ohne Korrektiv. Durch Situation und Kontext erhält das Lob Athens Schatten und Profil.

Das Lob ertönt im ersten Jahr eines dreißigjährigen Krieges, der mit der Niederlage der gepriesenen Stadt endet. Das Städtelob ist Teil einer Leichenrede auf die Gefallenen des ersten Kriegsjahres. Schließlich, sozusagen als Gegenstück, stellt Thukydides unmittelbar anschließend an das Städte- und Totenlob den Bericht vom Ausbruch der Pest und ihre detaillierte medizinische Beschreibung.

Soviel zu der ersten Wurzel antiker Freiheit in der Selbstbestimmung der Bürgergemeinde und deren Ausformung als Demokratie im Athen der klassischen Zeit (6.-4.Jh. v.Chr.).


Freiheit mit Sklaverei

Die äußere und innere Freiheit des Bürgers einer "völlig autarken Stadt" wie Athen und die rechtliche und politische Gleichberechtigung ihrer Bürger stehen in einem scharfen, selten eingestandenen, niemals gelösten Widerspruch zu der von diesen freien und gleichen Bürgern praktizierten Sklaverei. Die politische Entwicklung der Demokratie konnte die Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die Verschärfung des Gegensatzes zwischen Arm und Reich nicht auffangen. Was hatte der Besitzlose (áporos, pénes, thétes) von Gleichheit, Freiheit und klassischen Leichenreden bei Thukydides?

Gleichzeitig mit den demokratischen Reformen in Athen durch Solon und Kleisthenes bildet sich um 600 v. Chr. in den griechischen Ländern ein immer wachsender Sklavenmarkt. [9] Die Sklaven werden eingesetzt in den Bergwerken Athens, für Feldarbeit, Handwerk, Dienstleistung. Sie waren käufliche Ware, keine Personen, ohne Namen, ohne Familie: ein zweifüßiges, sprechendes Werkzeug. Das Verhältnis von Freien zu Sklaven wird für Athen im 5./4. Jh. auf eins zu vier geschätzt. [10]

Wie unsicher diese Zahlen sind, zeigt ein Vorschlag des athenischen Redners und Politiker Hypereides im Jahre 338 v. Chr. [11] Nach einer schweren Niederlage durch die Makedonen schlägt er vor, 150.000 Sklaven aus Landwirtschaft und Bergbau freizulassen und in die Armee zu übernehmen. Derartige Freilassungen im Katastrophenfall sind in der Antike und später in den amerikanischen Bürgerkriegen des Öfteren vorgenommen worden. [12]

Athen hatte zu jenem Zeitpunkt etwa 20.000 Vollbürger. Die genannte Anzahl von 150.000 bezieht sich auf junge, wehrfähige Männer. Die absolute Zahl der Sklaven in Attika müsste, wenn Kinder, Frauen, wehruntüchtige Männer (aus Handwerk und Dienstleistung) hinzugerechnet werden, erheblich höher liegen. Dementsprechend wäre das Verhältnis von Freien zu Sklaven nicht 1:4, sondern 1:10.

Sklaverei war in Athen alltäglich. Versklavung konnte jeden treffen, nicht nur die Barbaren jenseits der eigenen Grenzen: Schuldner, Kriegsgefangene wurden versklavt, Menschenraub versorgte zusätzlich den Markt. Sogar Philosophen waren betroffen: Platon, Diogenes, Epiktet.

Aber die Institution war so gefestigt, so notwendig, dass sie für "natürlich" gehalten wurde. Platon und Aristoteles unterscheiden zwischen Menschen, die "von Natur aus" frei oder unfrei sind. Das hilft wenig dazu, Sklaverei als ein strukturelles Gewaltverhältnis in einer prinzipiell freien Gesellschaft verständlich zu machen. Aber auch die Philosophen, die in der Tradition von Stoa und Kynismos Über Freiheit und Sklaverei gelehrt haben, bleiben utopisch oder allgemein [13]: Die Menschen sind von Natur aus gleich, mit Vernunft und Freiheit begabt [14] - immerhin ein Satz, der in das römische Recht gelangte und, in der juristischen Tradition vermittelt, in die Freiheitserklärungen des 18. Jahrhunderts.

Aber die alten Philosophen und Rechtsgelehrten haben die Unveräußerlichkeit dieser Rechte nicht argumentiert, also etwa die Nichtigkeit eines jeden Vertrags über Menschenhandel bewiesen. Sie haben vielmehr die historische Entwicklung, Krieg und Kriegsgefangenschaft als legitimen Grund für die Durchbrechung des Naturrechts zugelassen. [15] Sie haben die gesellschaftliche Unfreiheit verinnerlicht mit der Behauptung, ein Sklave könne innerlich frei sein, ein Freier aber Sklave seiner Begierden.

Es gab in der Antike Aufstände von Sklaven, ja Sklavenkriege. Manche antiken Historiker zeigen Verständnis für "berechtigte Gründe" der Sklaven. Eine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei jedoch, begründet mit den Dogmen des Naturrechts und dem Freiheitspathos der großen Redner, gibt es in der Antike nicht, auch nicht im antiken Christentum: keinen Abolitionismus, keine philosophischen oder religiösen Aktivitäten zur Abschaffung der Sklaverei. [16]

Es blieb in der Antike bei dem Konflikt zwischen der Notwendigkeit von unfreier Arbeit und der resignierten Einsicht von Philosophen und Philanthropen: Sklaverei sei ein Unrecht, müsse aber hingenommen werden.


Freiheit, Menschenwürde, Menschenrecht

Der früheste Beleg für "Menschenwürde"

Der antike Begriff von Freiheit entsteht, erstens, mit der Selbstbestimmung der Bürgergemeinde, ihrer äußeren und inneren Autonomie und Autarkie. Dieser Begriff wird, zweitens, verengt und geschärft durch die Diskussion um den teilweisen Ausschluss der weiblichen Bürger und die akzeptierte Notwendigkeit unfreier Arbeit. Zum antiken Begriff von Freiheit gehört, drittens, die Freiheit der Person, des Einzelnen, der in bestimmten Grenzen selbst entscheidet; der lebt, "wie er will"; der deshalb jede Handlung verantworten muss. Die antiken Worte eleútheros und liber behalten auch in der Ethik ihre politisch-soziale Grundbedeutung.

Nach antiker Vorstellung ist jeder Mensch ein einzelnes und ein gesellschaftliches Lebewesen, es ist immer zugleich "allgemein" und "besonders" (politikón / ídion; commune / proprium). Als Einzelner ist oder wird der Mensch autark: Er wird ein Selbst, das seine Einheit und Identität nach außen abgrenzt und behauptet ("Selbstbewahrung" - conservatio sui). [17]

Die Autarkie des Individuums bedeutet Handlungsfreiheit und Wahlfreiheit, Freiheit von äußerem Zwang und positiv: Freiheit zur Wahl eines Besseren. Der politische Begriff "Autarkie" wird also benutzt, um den individualethischen Begriff der Freiheit zu entfalten. Ebenso werden die politischen Begriffe "souverän" und "autonom" eingesetzt. "Freiheit", definiert Epiktet, "ist etwas Selbstbestimmtes und Eigengesetzliches" [18], oder: "das Vermögen zur Selbsttätigkeit". [19]

Die Freiheit ist ein wesentliches Element in jeder ethischen Handlung und in der Person des Handelnden. [20] Jede Person lässt sich, nach stoischer Lehre, als eine Schichtung von Masken (personae) verstehen.

Die Natur, so heißt es, hat uns vier verschiedene Rollen angepasst: als erstes eine allgemeine, gemeinsame Maske, die alle Menschen von den Tieren unterscheidet, das ist die Vernunft. Die zweite Maske zeigt die jeweilige Besonderheit, die Proprietät des Einzelnen. Die dritte Maske, die Natura in diesem Welttheater den Menschen aufsetzt, ist ihre Geschichtlichkeit, ihre Abhängigkeit von Zeit und Umständen und Zufall. Die letzte Modellierung leistet das Individuum selbst durch seinen freien Willen und sein eigenes Urteil.

Die erste der vier Masken, die allen Menschen gemeinsam ist (communis), die Vernunft, begründet den Vorrang der menschlichen Natur und ihre "Würde", ihre Herrschaft über das Tier und alle unvernünftigen Triebe im Menschen. Der Begriff "Menschenwürde" ist gebildet in der stoischen Anthropologie, Trieblehre und Moral. Er ist nicht "übertragen" aus einem religiösen oder juristischen Zusammenhang. Diese Stelle in Ciceros Schrift Über das Handeln gemäß der Natur ist der früheste Beleg für den Begriff "Menschenwürde". [21]

Die Schrift ist publiziert im Jahr von Caesars Ermordung (44 v.Chr.). Der früheste Beleg für "Menschenwürde" in deutscher Sprache findet sich dementsprechend in der ersten Übersetzung von Ciceros Schrift ins Deutsche. Die erste, die ich kenne, stammt von Johann Neuber, Augsburg 1488: "die ubertreflicheyt und wyrde menschlicher natur".

Der Begriff "Menschenwürde" ist also nicht etwa ein "saekularisierter theologischer Begriff", sondern eine Errungenschaft antiker Philosophie und humanistischer Tradition.


Freiheit der Religion als Menschenrecht

Aus der Freiheit der ethischen Handlung und aus der inneren Freiheit der Demokratie leiten sich die antiken Versuche her, Religionsfreiheit zu denken und rechtlich und staatlich zu garantieren.

Das erste Auftreten der Fügung libertas religionis - "Religionsfreiheit" - lässt sich gut datieren, in die Jahre um 200 n. Chr. In dieser Zeit schreibt Tertullian von Karthago, ein sprachgewaltiger, philosophisch und juristisch gebildeter Laienchrist, zwei Verteidigungsschriften an die kommunale und provinziale Obrigkeit von Karthago und Africa. Er verwendet gut bekannte Ausdrücke der stoischen Ethik, Anthropologie, Rechtsphilosophie und konstruiert daraus das Postulat der Freiheit der Religion und das Ende der Verfolgung der Christianer.

Nach der stoischen Lehre von den moralischen Handlungen erzeugt ein Impuls durch die Sinne eine Vorstellung; diese wird vom Verstand geprüft; der Wille (voluntas / boúlesis) und ein besonderer Akt der Zustimmung (assensio /synkatáthesis) erzeugen schließlich einen vernünftigen Handlungsimpuls (hormé logiké) und, durch Aktivierung von Seele und Gliedern, die Handlung (actio/práxis) selbst. Tertullian überträgt dieses Schema auf die religiöse Handlung. Er betont die intellektuellen und volitiven Elemente [22]: "Wir aber verehren den einen Gott, den ihr alle natürlicher Weise (er)kennt ... Dennoch ist es Menschenrecht und natürliche Fähigkeit für jeden Einzelnen zu verehren, was er eingesehen hat." - "... (Hütet euch), wegzunehmen die Freiheit der Religion und zu untersagen die (freie) Wahl der Gottheit, so daß mir nicht erlaubt ist zu verehren, wen ich will, sondern ich gezwungen werde zu verehren, den ich nicht will".

Eine moralisch richtige Handlung (actio recta) ist ohne Vernunft und freien Willen nicht möglich, ebenso wenig eine religiöse Handlung. Der Begriff libertas religionis ist also, wie es scheint, aus der grundsätzlichen Freiheit der ethischen práxis / actio entwickelt worden, und zwar, wie es scheint, zuerst von Tertullian. In der - weitgehend verlorenen - griechischen Fassung des Apologeticum dürfte hier eleuthería tes threskeías gestanden haben. Das wäre unser frühester Beleg für "Religionsfreiheit" in der griechischen Sprache.

Tertullian nutzt in dem offenen Brief an den Proconsul Scapula einen weiteren Grundbegriff der stoischen Philosophie: physis / natura. Die Regelhaftigkeit und Schönheit der Natur ermöglicht jedem Menschen die Erkenntnis der Gottheit aus ihren Werken "von Natur aus": naturaliter nostis. Die Natur selbst gibt, vor Gesetz und spezieller Offenbarung, allen und jedem Menschen eine natürliche Gotteserkenntnis, eine natürliche Sittlichkeit und damit eine "natürliche Religion" (omnes  ... nostis).

Die Menschen haben hierfür eine natürliche Veranlagung (naturalis potestas) und ein naturgegebenes Recht, diese Möglichkeit zu verwirklichen. Freie Religionsausübung, sagt Tertullian, ist ein Menschenrecht: humani iuris est. Dieses Recht ist allen und jedem einzelnen Menschen gegeben (unicuique).

Es ist also ein allgemeines und subjektives Menschenrecht, auf das Tertullian sich hier beruft, gegen die "Vorsteher des römischen Reiches" und gegen den Proconsul Scapula Tertullus: Menschenrecht und Religionsfreiheit stehen gegen staatliche Repression.

Der zweite Ansatz, Religionsfreiheit in der Antike zu denken und zu praktizieren, datiert in die Jahre 311/313 n.Chr. Die Kaiser Galerius, Licinius und Constantin erlassen Toleranz-Edikte, um die Auseinandersetzungen zwischen Christianern auf der einen, Römern, Hellenen und den staatlichen Stellen auf der anderen Seite zu beenden. Licinius schreibt [23]: "(wir haben beschlossen), daß wir sowohl den Christianern als auch allen (anderen) die Verfügungsgewalt geben, der Religion zu folgen, die ein jeder will ... (damit du weißt), daß wir freie und vollständige Fähigkeit den Christianern gegeben haben, ihre Religion zu pflegen ... Auch den anderen ist in ähnlicher Weise die Möglichkeit, ihre Religion und Observanz auszuüben, offen und frei, sodaß jeder die freie Verfügungsgewalt in der Verehrung dessen hat, was sich ein jeder ausgewählt hat."

Die Kaiser gewähren nicht Toleranz, sondern Religionsfreiheit: libera potestas sequendi religionem quam quisque voluisset. Die Wahlfreiheit hat nicht eine ethnische, politische, religiöse Gruppe, sondern jeder Einzelne - so ist es ius humanum und Wesen der Religion. Und "alle" (omnes) sollen diese Freiheit haben, nicht nur die Christianer.

Ein Leitmotiv in diesen Dokumenten ist die "Toleranzformel": "wie ein Jeder es will", "was einer sich erwählt" hat, griechisch: kathós hékastos boúletai; lateinisch: religio quam quisque voluisset, in colendo quod quisque delegerit; colere quem velim, u.ä.

Die Elemente dieser Formel - "Freiheit", "freie Wahl des Einzelnen", "freier Wille" - sind Topoi der verfassungsrechtlichen Sprache seit Platon und beschreiben im besonderen die Grundlage von Demokratie. In dieser Verfassung hat jeder "die Möglichkeit zu tun, was er will", er bestimmt selbst "die eigene (besondere) Einrichtung seines Lebens", es gibt "Redefreiheit". [24]

Dementsprechend artikuliert die Toleranzformel einen Individualismus der freien Religionsausübung. Das spätantike imperium Romanum vermochte also - jedenfalls zeitweise - pluralistische und monotheistische Religionen im Rahmen einer lose strukturierten Reichsreligion zu organisieren. Die "Erklärung der Religionsfreiheit" für "alle" in dem Reskript von 313 zeigt eine reale Möglichkeit antiker Religionsgeschichte.

Die beiden antiken Versuche, Toleranz und Religionsfreiheit zu konzipieren und zu praktizieren, beruhen auf der stoischen Ethik und der hellenischen Politologie. Beide Versuche sind damals gescheitert. Aber sie lieferten ein Muster, an dem sich die Neuzeit, in den konfessionellen Wirren des 16. Jahrhunderts, orientieren konnte.


Ergebnisse und Folgerungen

In der hellenischen und römischen Kultur wurden die Begriffe von politischer und personaler Freiheit erdacht, formuliert, ausprobiert, ebenso die von Gleichheit, Autarkie, Autonomie, Menschenwürde und Religionsfreiheit, Naturrecht und Menschenrecht. Der Ursprung dieser Begriffe ist die Praxis einiger weniger griechischer Kleinstaaten und die ethische und politische Theorie von Sophisten und Philosophen, Gelehrten und Juristen.

Keiner dieser Begriffe stammt aus der religiösen oder theologischen Sprache. Zwar waren ihre Schöpfer und Benutzer brave Pantheisten, Deisten, Polytheisten und loyale Teilnehmer an der jeweiligen Staatsreligion und Kaiserverehrung. Sie waren aber keineswegs in einem mystisch-magisch-symbolischen Pansakralismus befangen, der sie zu "saekularisierten theologischen Begriffen" gezwungen hätte. Die genannten Begriffe sind religionsfrei konstituiert. Gerade deshalb konnten sie für die europäische Nachantike, ob jüdisch, syrisch, arabisch oder christlich, nützlich werden.

Die Rezeption der antiken Begriffe und Texte, der historischen Paradigmen, Titel und Symbole - von Marathon, dem demokratischen Athen, der römischen Republik, von Freiheitsmütze und "Volkstribun" - ist vielschichtig und paradox. Die Tradierungspfade laufen im Bildungswesen, in der Kunst, in allen Wissenschaften, außerhalb und innerhalb der Religionen. Der Ausdruck "Verweltlichung" ("Saekularisierung") kann diese Rezeption nicht sachgemäß beschreiben.

Carl Schmitts Vermutung, alle prägnanten politischen Begriffe der modernen Staatslehre seien saekularisierte theologische Begriffe, trifft nicht zu. Was antike Errungenschaft ist und humanistische Tradition, kann nicht "Saekularisat" sein.

Ich möchte schließen mit einem Satz aus der Politik des Aristoteles - in Übersetzung und auf Griechisch [25]: "Das Größte von allem, was zum Fortbestand der Staaten und ihrer Verfassungen gesagt wurde, und was jetzt alle vernachlässigen, ist: die Erziehung zur Verfassung." (Auf Griechisch: mégiston de pánton ton eireménon pros to diaménein tas politeías, hou nyn oligoroúsi pántes, to paideúesthai pros tas politeías.)

Diese Erziehung, sagt Aristoteles, ist für die Demokratien besonders wichtig, muss aber mit dem richtigen Verständnis von Gesetz, Herrschaft der Mehrheit, Freiheit verbunden sein. Die Bürger müssen ihre Verfassung nicht als Versklavung begreifen, sondern als "Rettung" (sotería).


Anmerkungen

[1] Virginia Bill of Rights (1776).

[2] C. Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922, 1934 [2.Aufl.]), 1979 [3. Aufl.], S.49.

[3] Einige Namen: (a) Solon, Perikles, Demosthenes, Isokrates; (b) Herodot, Thukydides, Polybios; (c) Platon Zenon, Cicero; (d) Aristoteles: "Politik" und "Verfassung von Athen".

[4] Platon: Staat 8, 557a. - Platon war kein Armer.

[5] Aristoteles: Politik 3, 1279b; 1280 a; 5, 1310a.

[6] R. Pöhlmann: Aus Altertum und Gegenwart. München 1895, S.249 (in Kapitel VII: Die Entstehung des Caesarismus).

[7] Herodot. Historien 5,78 (zu den Reformen des Kleisthenes, 508/07 v.Chr.).

[8] Thuhydides: Historien 2,35-46: Leichenrede auf die Gefallenen des Jahres 431 v.Chr.; wohl gegen Ende des 5. Jh. redigiert.

[9] M.I. Finley: Ancient Slavery and Modern Ideology. NY 1980.

[10] L. Canfora: Kleine Geschichte der Demokratie. Köln 2007, S. 36, 52.

[11] Hypereides: Rede gegen Aristogeiton, frg. 27 Blass-Jensen (= frg. 18 Kenyon = J.O. Burrit, Minor Attic Orators II, 1954, 574f. (Loeb Ciassical Library). - Das Fragment ist überliefert in der Suda 1,1 p. 562,19: "150.000 Sklaven aus den Silberbergwerken und die über das andere Land hin", außerdem Staatsschuldner, Metoeken u.a. - Der Vorschlag des Hypereides wurde nicht angenommen.

[12] John Hope Francklin u. Alfred A. Moss, Jr.: Von der Sklaverei zur Freiheit. (1947), dt. 1999, S.122ff., 285ff.

[13] Antisthenes (ca. 446-336): Über Freiheit und Sklaverei (bei Diogenes Laertios 6,16). - stoische Lehre (Zeno) bei Diog. Laert. 7,121f. - Epiktet. Über Freiheit (Diatriben IV 1, p. 355-389 Schenkl). - Dio Chrysostomos (ca. 40-120 n.Chr.), or. 14: Über Sklaverei und Freiheit I, or. 15: Über Sklaverei und Freiheit II; or. 80: Über Freiheit.

[14] Corpus Iuris Civilis, Institutiones 1,2 (Naturrecht und Freiheit): iure enim naturali ab initio omnes homines liberi nascebantur. Durch Kriege und Gefangenschaft wurde dieses Recht allgemein gebrochen.

[15] Institutiones 1,2: .... bella enim orta sunt et captivitates secutae et servitutes, quae sunt iuri naturali contrariae.

[16] Einen ausdrücklichen Protest gegen Menschenhandel mit stoischen und christlichen Argumenten führt Greger von Nyssa, in Ecclesiasten (homilia 4,1; ca. 370). - Ich danke Egon Flaig für den Hinweis auf diesen Text.

[17] Vgl. H. Cancik: Persona and Self in Stoic Philosophy, in: Self, Soul & Body in Religious Experience Ed. by Albert I. Baumgarten with Jan Assmann & Guy G. Stroumsa, Leiden: Brill 1998, 335-346.

[18] Epiktet: Diatriben 4,1,56: he eleuthería autexoúsion ti kai autónomon.

[19] Stoische Lehre über den vollkommenen Menschen, den "Weisen" (sophós) bei Diogenes Laertios 7,121; hier auch zu dem stoischen Paradox, dass nur der "Gute" frei, alle Schlechten aber Sklaven seien.

[20] Cicero, de officiis 1,30, 106-107; 1,32,115.

[21] Cicero, de officiis 1,30,106; der ciceronischen Formel dürfte eine griechische Fassung zugrunde liegen.

[22] a) Tertullian, An Scapula 2: Nos autem Deum colimus quem omnes naturaliter nostis ... Tamen humani iuris et naturalis potestatis est unicuique quod putaverit colere. b) Apologeticum 24,5-6. libertas religionis; optio divinitatis; colere quem velim - cogar colere quem nolim.

[23] Brief (litterae) des Licinius bei Lactanz, de mortibus persecutorum 48; griechische Fassung bei Euseb, Kirchengeschichte 10,5.

[24] Plato, Staat 557b; Aristoteles, Politik 1310a: ..., "sodaß lebt in derartigen Volksherrschaften ein jeder, wie er will" (hos boúletai).

[25] Aristoteles, Politik 5,9, 310a.


Bibliographische Notiz

M.I. Finley: Ancient Slavery and Modern Ideology. NY 1980.

V. Grieb: Hellenistische Demokratie: politische Organisation und Struktur in freien griechischen Poleis nach Alexander dem Großen. Stuttgart 2007.

humanismus aktuell 6/10, Frühjahr 2002: "Säkularisierung".

H. Krämer: Die Grundlegung der Freiheit in der Antike. In: J. Simon (Hg.), Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, Freiburg 1977, S.239-270.

D. Nestle: Eleutheria. Studien zum Wesen der Freiheit bei den Griechen und im Neuen Testament, Teil I: Die Griechen, Tübingen 1967.

K. Raaflaub: Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftspraxis eines politischen Grundbegriffes der Griechen. München 1985.

W. Suerbaum: Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff. Münster 1977 (3. Aufl.).


Vorarbeiten des Verfassers:

"Alle Gewalt ist von Gott". Römer 13 im Rahmen antiker und neuzeitlicher Staatslehren, in: B. Gladigow (Hg.), Staat und Religion, Düsseldorf 1981, S.53-74.

Gleichheit und Freiheit. Die antiken Grundlagen der Menschenrechte (1983). In: H. Cancik, Antik - Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hg. v. R. Faber, B. von Reibnitz, J. Rüpke, Stuttgart und Weimar 1998, S.293-315.

Theokratie und Priesterherrschaft. Die mosaische Verfassung bei Flavius Josephus, contra Apionem 2, S.157-198 (1987). In: H. Cancik, Religionsgeschichten. Gesammelte Aufsätze II, hg. von Hildegard Cancik-Lindemaier, Tübingen 2008, S.193-208.

Die frühesten antiken Texte zu den Begriffen "Menschenrecht", "Religionsfreiheit", "Toleranz". In: Klaus M. Girardet / Ulrich Nortmann, Menschenrechte und europäische Identität - Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005, S.94-104.


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 22 - Sommer 2008, Seite 20-28
Hefte für Kultur und Weltanschauung
Herausgegeben von der Humanistischen Akademie Berlin
diese Ausgabe in Kooperation mit der Humanistischen Akademie
Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2008