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BERICHT/198: Vielfalt als Chance - Lebenskunde international (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 84/2008 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Vielfalt als Chance - Lebenskunde international

Von Bernhard Stolz


MILES, dahinter verbirgt sich Migration Learning in European Schools, ein internationales Projekt in dem der Lebenskundebereich des HVD Berlin neben fünf anderen Institutionen aus verschiedenen europäischen Ländern aktiv ist.


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In vielen Berliner Schulen in den Innenstadtbezirken liegt der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund mittlerweile bei über 80 Prozent, in naher Zukunft wird jeder zweite Berliner Schüler auf eine Einwanderungsgeschichte in der eigenen Familie zurückblicken. In den Lehrplänen der Schulen gibt es zwar Ansätze zu interkulturellem Lernen (wenn auch viel zu wenige), aber die Migrationsgeschichte der Familien, und die daraus resultierenden Fähigkeiten und Ressourcen der Kinder werden eher selten beleuchtet.

Schlechte Deutschkenntnisse, Parallelgesellschaften, gewaltbereite ausländische Jugendliche, fast immer wird Migration in einem problembehafteten Kontext diskutiert. Nicht, dass es keine Probleme gäbe, aber die fast reflexhafte Fixierung auf diese negativ besetzten Themenfelder ist für den Schulalltag alles andere als hilfreich.


Migration als Herausforderung

Dies zu ändern hat sich das Comeniusnetzwerk "Learning Migration" zur Aufgabe gemacht. Auf jährlichen Konferenzen treffen sich Lehrerinnen und Lehrer, Menschen aus der Lehrerausbildung und Vertreter der Bildungsforschung und der Bildungsverwaltung aus mittlerweile 13 europäischen Ländern zu einem Austausch über die jeweilige Arbeit und zur Diskussion von neuen Projekten. Migration als Herausforderung und Bereicherung und nicht nur als Problem für die Schulen des 21. Jahrhunderts ist dabei der gemeinsame Nenner. Der Lebenskundebereich ist seit mehreren Jahren aktiver Partner, auf den Konferenzen wurden Beispiele aus dem Unterricht vorgestellt und so entstand die Idee eines neuen Projekts, bei dem die Unterrichtsideen aus verschiedenen Ländern ausgetauscht und weiterentwickelt werden und so ein internationaler Lehrer-Fortbildungskurs rund um das Thema Migration auf europäischer Ebene entwickelt wird.

Das MILES-Projekt war geboren. MILES, dahinter verbirgt sich Migration Learning in European Schools, ein internationales Projekt in dem der Lebenskundebereich neben fünf anderen Institutionen aus verschiedenen europäischen Ländern aktiv ist. Neben Partnern aus Nordirland sind noch eine Lehrerfortbildungseinrichtung in Rumänien und Norwegen und die Universitäten in Ankara und Oldenburg beteiligt. Wie können positive Integrationsimpulse von der Schule ausgehen? Wie können wir durch den Austausch und die Weiterentwicklung von Methoden rund um das Thema Migration neue Impulse in die jeweiligen Schulen einbringen? Das sind die zentralen Fragestellungen des MILES-Projekts. Nach Antworten sucht ein von mir entwickeltes Filmprojekt im Lebenskundeunterricht:

Was bedeutet "türkisch sein" und "deutsch sein" für mich, eine Frage, zu der sich Lebenskundekinder der Kreuzberger Otto-Wels-Grundschule interviewt haben. Der daraus entstandene Film gibt einen kleinen Einblick in die große Bandbreite der jeweiligen Identitätsentwürfe und Zuschreibungen, mit denen sich Kinder mit Migrationshintergrund auseinanderzusetzen haben. Die Kinder haben auch Eltern, Großeltern befragt. Heraus kamen Geschichten über Auswanderung oder Flucht, die ihre Wirkung in der öffentlichen Filmvorführung beim Lebenskundefilmfest im Kino nicht verfehlten. Forschendes, biografisches Lernen im besten Sinn.


Blick in die Geschichte

Ein norwegischer Kollege berichtete über ein Projekt, bei dem Schüler anhand von Einwohnerlisten über 200 Jahre die Mieter von Häusern im Stadtzentrum von Mandal recherchieren. So erfahren sie auf direktem Wege, dass in Norwegen Aus- und Einwanderung der Normalfall und nicht etwa die problematische Ausnahmesituation ist, zu der rechte norwegische Politiker die momentane Immigrationsdebatte umfunktionieren wollen. Aber auch in Deutschland ist ein Blick in die Geschichte hilfreich, vergisst man doch zu leicht, dass auch hier viele Menschen in den letzten 150 Jahren das Land verlassen haben. Unsere Partner von der Museumspädagogik des nordirischen Ulster American Folk Parks vermitteln das Thema Migration auf eine hautnah erfahrbare Weise. In einem Open-Air-Museum sind die armseligen Hütten aus dem 17. Jahrhundert aufgebaut und echte Menschen erzählen die Geschichten dieser Zeit. Die Auswanderung nach Amerika kann man auf dem Schiff in den engen Kojen der 3., 4. und 5. Klasse nachempfinden. In einer Straße in New York begrüßen am Ende des Rundganges Taschendiebe, Händler und Fotografen aus dieser Zeit die Besucher.

Trotz völlig unterschiedlicher Voraussetzungen in den beteiligten Ländern ist das Thema Integration überall auf der Tagesordnung, sei es bei den Sinti und Roma in Rumänien oder bei der Wandlung in Irland vom Hauptauswanderungs- zum Haupteinwanderungsland in der EU.

Die Schule ist eine Schlüsseleinrichtung bei der Integration und gerade der Lebenskundeunterricht mit seinem Ziel, selbstbewusste Entscheidungen unter Berücksichtigung der Ressourcen der Kinder zu fördern, kann hier einen wertvollen Beitrag leisten.


Bernhard Stolz ist Lebenskundelehrer und koordiniert im Verband das MILES Projekt

Weitere Informationen über das Projekt:
http://www.uni-oldenburg.de/PolitischeBildung/31288.html


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 84/September/08, S. 18-19
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2008