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BERICHT/214: Patientenverfügungsgesetz - eine Überraschung (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 88/2009 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Patientenverfügungsgesetz - eine Überraschung
Dramatisches Indiz für neue Kräfteverhältnisse?

Von Gita Neumann


Das hatten wohl die wenigsten Anhänger der Patientenautonomie zu hoffen gewagt. Hatte es doch zuletzt so ausgesehen, dass nach über 5-jähriger Debatte das Gesetz zur Patientenverfügung (PV)(*) im Gezänk um Geschäftsordnung und Abstimmensreihenfolge vier verschiedener Anträge im Bundestag untergehen würde.


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Umso fraglicher musste in dieser Gemengelage erscheinen, dass ausgerechnet der autonomiefreundlichste Vorschlag von Joachim Stünker/Michael Kauch u. a. eine Mehrheit finden könnte. Und doch kam es genau so - verbunden mit einer schweren Niederlage für die Kirchen. Dass damit nicht der kritische Blick auf ein durchaus mögliches Spannungsverhältnis zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung zum Verschwinden gebracht wird, bleibt humanistisches Anliegen.

Zur Ausgangssituation zwei Wochen vor der Abstimmung: Jede Aussicht auf eine Kompromisslösung war am hartnäckigen Widerstand der Gruppe um die Unionsabgeordneten Zöller und Faust gescheitert, sich auch nur mit den Kollegen Stünker (SPD) und Kauch (FDP) zu einem Gespräch zusammenzufinden. Deren Gesetzentwürfe unterschieden sich nur in Nuancen, so dass ihr Zusammengehen in der Expertenanhörung des Rechtsausschusses vorgeschlagen worden war. Ein dritter Entwurf von Unionsfraktionsvize Bosbach u. a. setzte sich von diesen beiden ab, sah massive Einschränkungen bei der Verbindlichkeit einer PV vor und eine Regelkontrolle durch das Vormundschaftsgericht. Schließlich wurde von Hüppe (CDU) auch noch ein vierter Antrag eingebracht, dass auf eine gesetzliche Regelung ganz zu verzichten sei.

Am Nachmittag des 18. Juni wurde dann das Ergebnis der namentlichen Abstimmung im Deutschen Bundestag bekannt gegeben. Die morgens noch bedrohlich lichten Reihen hatten sich gefüllt, schließlich waren 555 Abgeordnete anwesend. Am Ende stimmten 317 von ihnen für den Entwurf von Joachim Stünker/Michael Kauch u. a.: Ein Großteil der SPD sowie der FDP, viele Abgeordnete der Linken und auch von den Grünen. Aus dem Lager der Union erhielt der Antrag eine einzige Stimme - der CSU-Abgeordneten Dagmar Wöhrl aus Nürnberg.


Stünker: Wir müssen die Kraft aufbringen

Union und die Kanzlerin hatten zuletzt wohl darauf gesetzt, dass die Gesetzgebung scheitern würde. Eine scheinbare "Problemlösung", die massiv unterstützt wurde von beiden Kirchen und dem (streng katholischen) Bundesärztekammerpräsidenten Prof. Hoppe. Deren Hauptargument: Das Sterben könne nicht bis zur letzten Minute geregelt werden, schon gar nicht gesetzlich. Eine vorsorgliche Willenserklärung sei zwar durchaus sinnvoll und auch beachtlich - es dürfe aber keinen "Automatismus" geben, der dann in einer auch vom Verfügenden selbst ja nie völlig vorhersehbaren Situation nur noch "exekutiert" würde. Eben dies wurde dem Stünker-Entwurf unterstellt - ohne dass dies belegbar gewesen wäre. Angeblich würde er das Fürsorgeprinzip außer Acht lassen.

Der Kern dieses Vorbehaltes liegt darin: Der moderne Mensch will (und soll) individuell, selbstbestimmt, frei und unabhängig nicht nur sein Leben gestalten, sondern auch noch sein Sterben kontrollieren können. Doch stellt die ernsthafte Erkrankung eine Lebenskrise, eine Kränkung dar, die es nicht sinnvoll erscheinen lässt, Autonomie und Eindeutigkeit im Willen absolut zu setzen. Dies sind durchaus richtige Bedenken, doch führten sie bei den Gegnern insbesondere des Stünker-Entwurfs zu einer Fülle unauflösbarer Widersprüchlichkeiten. So stellten Unionsvertreter gleich zwei alternative Gesetzesanträge zur Abstimmung. Bis zuletzt war alles offen. Schließlich sollten Stünkers letzte mahnende Worte unmittelbar vor der Abstimmung wirksam werden: "Wir müssen die Kraft aufbringen, heute eine Entscheidung zu treffen. Die Leute warten darauf!"

Dieser Eindruck wurde unterstützt dadurch, dass sich zuletzt auch Sozial- und Wohlfahrtsverbände für eine Klarstellung durch die Politik ausgesprochen hatten. Neben dem Humanistischen Verband und der Humanistischen Union hatte auch die Deutsche Hospizstiftung in einer Kampagne dazu aufgefordert, diesbezüglich Abgeordnete anzuschreiben. Dabei kam es v. a. auf diejenigen an, die sich im Vorfeld noch nicht positioniert hatten. Schließlich sprangen so gut wie alle Medien auf den Zug auf. Tendenz: Die Verunsicherung, durch die politische Debatte nicht zuletzt selbst befördert, muss beendet werden. U. a. sorgte der HVD Berlin dafür, dass in einer Serie der BILD-Zeitung in der Woche bis zum Abstimmungstag noch - Herz und Gemüt ergreifende - Fälle mit Fotos unserer Mitglieder vorgestellt wurden. Durch die enorme Medienresonanz dürfte dem letzten Abgeordneten, der sich noch nie mit dem Thema befasst hatte, klar geworden sein: Hier geht es jetzt um die Außenwirkung des Parlaments.

Das Ende war und bleibt aber überraschend: Kein Kompromiss etwa durch Änderungsanträge, sondern der konsequenteste Vorschlag eines der streitenden Lager setzte sich durch. Was hatte die Kräfteverhältnisse zuletzt so dramatisch geändert?


Katholische Kirche - zunächst unsichtbarer Akteur

Im Rückblick fällt ein Mentalitätswandel in der über 5-jährigen Debatte auf. Zu Beginn drückten ihr Politikerinnen wie die grüne Bundestagsabgeordnete Christa Nickels und die CDU-Abgeordnete Julia Klöckner ihren Stempel auf, beide Mitglieder im Zentralkomitee der Katholiken. Mithilfe der Enquetekommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" gelang es ihnen zunächst, das Rad der Patientenautonomie zurückzudrehen: Die Selbstbestimmung sollte plötzlich im Namen des Fürsorgegedankens stark zurückgedrängt werden. Andersdenkende in diesem Gremium wie der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel (von der FDP nominiert) wurden im Namen des Lebensschutzes mit aggressiven Verbalattacken in die Schranken gewiesen. Einigkeit konnte in dem Gremium nicht erzielt werden, aber Nickels und Klöckner vermochten zu dominieren und zunächst sogar eine Mehrheit des Parlaments auf ihre Seite zu ziehen. Danach sollte nunmehr der vorsorgliche Behandlungsverzicht allenfalls im eingetretenen Sterbeprozess oder irreversibel tödlichen Verlauf gelten.

Bei den Konflikten, in der o. g. Enquetekommission vordergründig im Namen der hospizlichen Sterbebegleitung ausgetragen, trat ein wichtiger Akteur nur indirekt in Erscheinung: die katholische Kirche. In seiner Enzyklika Evangelium vitae hatte Papst Johannes Paul II. einen umfassenden Werteverfall angeprangert. Er beklagte als Folge eine "entartete Vorstellung von Freiheit", die sich in Verbrechen gegen das Leben ausdrücke. Dazu zählte der Papst neben Mord, Völkermord, Abtreibung und Euthanasie eben auch den Vorsatz, dass man "den Tod in dem Augenblick vorwegnimmt, den man selbst für den geeignetsten hält". (Es war kein Zufall, dass zeitnah der humanistische Hospizdienst VISITE des HVD aus der Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz ausgeschlossen wurde.)

Parallel zur Enquetekommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" war von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries - durchaus als Alternative angelegt - eine AG "Patientenautonomie am Lebensende" ins Leben gerufen worden. Diese fand zu einem anderen, konsensualen Diskussionsstil und zu liberalen Ergebnissen, die einem pluralistischen Werteverständnis angemessen sind (neben gesellschaftlich relevanten Gruppierungen wie auch den Kirchen wirkte hier erstmalig eine Vertreterin des Humanistischen Verbandes Deutschlands mit). Es folgten die penible Sacharbeit in den Ausschüssen, medizin-ethische Stellungnahmen und ideologiefreie Veröffentlichungen, empirische Untersuchung von Fallkonstellationen.


Verheerende Niederlage - Entfernung von der Wirklichkeit

Die deutsche Öffentlichkeit zeigte sich von international Aufsehen erregenden Fällen erschüttert. In den USA und dann in Italien kämpften Familienangehörige dagegen an, dass Komapatienten auch nach Jahrzehnten nicht friedlich sterben durften. Die katholische Kirche nahm dazu haarsträubende Positionen ein, religiöse Fundamentalisten attackierten Richter, die nicht in ihrem Sinne entschieden. Auch in Deutschland gab es Strafverfahren gegen Mediziner und Anwälte, die unbestreitbar zum Wohl von Patienten gehandelt hatten. Durch solche konkreten Vorfälle wurde das Lager der Lebensschützer stark geschwächt.

Zwar grenzte sich die evangelische Kirche zunächst von der päpstlicherseits so genannten "Kultur des Todes" ab und wählte einen anderen Weg, den der "Kunst des Sterbens". Dabei sollte eine Patientenverfügung durchaus hilfreich sein. Nur, so verkündete Bischof Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche, in der Fernsehsendung busch@n-tv in Richtung einer anwesenden Vertreterin des HVD: Er würde mit allen verfügbaren Mitteln dagegen ankämpfen, dass der vom Humanistischen Verband unterstützte Stünker-Entwurf durchkäme.

Zwischen den beiden Kirchen waren die Patientenverfügungen durchaus umstritten. Doch erschien es ihnen machtstrategisch nicht ratsam, getrennt zu marschieren. Dies wurde 1999 bereits durch die Einführung einer gemeinsamen so genannten christlichen Patientenverfügung vorgegeben. Diese erhält zum Behandlungsverzicht nur eine einzige Aussage: Keine lebensverlängernde Maßnahmen mehr, wenn "festgestellt wird, dass jede lebenserhaltende Maßnahme ohne Aussicht auf Besserung ist und mein Sterben nur verlängern würde". Ein wirkungs- und folgenloser Zirkelschluss.

Nun erfolgte also, vereint zu Papier gebracht, eine christliche Abschluss-Stellungnahme zum Patientenverfügungsgesetz, um vermeintlich stärkeren politischen Einfluss ausüben zu können. Das Ergebnis kam einer larmoyanten Kapitulationserklärung gleich. Ein "in jeder Hinsicht überzeugender Regelungsvorschlag liegt bislang nicht vor" - zu mehr als dieser Quintessenz konnten sich die Kirchen nicht durchringen. Kein Wort darüber, wie ein konkreter Gesetzesvorschlag wohl auszusehen hätte, wie der diesbezüglichen Sorge der Menschen zu begegnen sei.

Ohne Not näherte sich im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Lebensschutz die evangelische Kirche immer mehr der päpstlichen Doktrin an - zusammen sollten sie eine verheerende Niederlage erleiden. Doch bis es soweit war, wurde noch ordentlich polemisiert. Dabei fällt auf, wie fremd heute schon Tonfall und Gedankengang der Beiträge gegen ein PV-Gesetz wirken. Die Empörung über die "Selbsttötungs- und Selbstliquidierungs-Propaganda", wie sie angeblich das liberale Lager betrieb. Die Beschreibung von Dammbruch-Szenarien, nach denen die alternde Gesellschaft ihre Kranken und Schwachen aus Kostengründen dazu dränge, aus dem Dasein zu scheiden. Die Autonomie-Gegner haben sich damit zu weit entfernt von einer Wirklichkeit, wie wir sie heute empirisch vorfinden. Ältere Menschen selbst scheinen kaum von der Angst vor dem sozialen Druck geplagt, frühzeitig versterben zu sollen. Vielmehr ging zumindest vor dem Patientenverfügungsgesetzt die Sorge um, der eigene wohlerwogene und schriftlich niedergelegte Wille könnte einer Fremdbestimmung zum Opfer fallen.

Am Ende hatte vor allem die katholische Kirche nur noch wenige Ansprechpartner im Bundestag, selbst in den Reihen der Unionsfraktion. Und die "Kunst des Sterbens" im evangelischen Sinne wurde von der grünen Fraktionsvorsitzenden Renate Künast so massiv gegen die Patientenautonomie ins Feld geführt, dass sie dafür in einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung von eigenen Anhängern schon ausgebuht worden war. Kein Wunder, dass sie ihre Parteimitglieder nicht davon zu überzeugen vermochte, dass im Dauerkoma ein erklärter Ernährungsverzicht nicht zu befolgen sei, dass es vielmehr auf den Ausbau der Hospizarbeit ankäme. Im Gegenteil stimmte auch die überwiegende Mehrzahl der grünen Abgeordneten für den Entwurf Stünker/ Kauch. Eine Überraschung für sich. In der Presse wurde gar über ein Ende des herkömmlichen schwarz-grünen Konsenses in bioethischen Fragen spekuliert. Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach zeigt sich von seinen eigenen Reihen enttäuscht: "Wenn sich meine eigene Fraktion bei dieser wichtigen Frage in drei Fraktionen spaltet, darf man sich über dieses Ergebnis nicht wundern."


Schlechte Verlierer - neue Verantwortung

Auch nach ihrer deutlichen Niederlage bedienten sich die Gegner der gefundenen Lösung höchst fragwürdiger Mittel. Prof. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, erwies sich als besonders schlechter Verlierer. Er drohte in der Kölner Rundschau: "Die Ärzte werden sich sehr genau überlegen müssen, ob sie überhaupt einen Behandlungsvertrag eingehen, wenn eine Patientenverfügung vorliegt. Der Gesetzgeber hat ja überhaupt nicht bedacht, dass ein Behandlungsvertrag eine beiderseitige Angelegenheit ist."

Und die WELT wunderte sich: "Ärztekammer-Vizepräsident Frank Ulrich Montgomery erklärte am Freitag, nun hätten viele Menschen Angst, eine Verfügung zu verfassen. Denn es gebe laut dem neuen Gesetz keine Möglichkeit, eine Verfügung zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen zu widerrufen. Dabei steht in dem beschlossenen Gesetz: 'Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.'"

Diese Stimmen sollten uns nicht dazu verführen, am Ende sämtliche Befürchtungen des unterlegenen Lagers zu ignorieren. Dies betrifft insbesondere Bedenken gegen eine verabsolutierte Autonomie und die Unmöglichkeit, zukünftige Krankheits- und Erlebenssituationen präzise voraussagen zu können.

Zu wünschen ist ein gesellschaftliches Umfeld, in dem wir Hilfe annehmen und gleichzeitig Unabhängigkeit fördern können. Gehört dazu nicht auch, sich mit unseren Ambivalenzen auseinanderzusetzen, ohne sie gleich in eine bestimmte Richtung auflösen zu müssen? Ein widersprüchliches "Sowohl als auch" im Umgang mit schweren Therapieentscheidungen und letzten Wünschen auszuhalten ist eine Aufgabe, die sich der humanistischen Begleitung und Beratung seit langem stellt. Eine Herausforderung, konkret Verantwortung zu übernehmen, die auch bei den Betroffenen bis zuletzt andauern kann.


(*) Bei einer Patientenverfügung handelt es sich um eine vorsorgliche Willenserklärung. Darin enthalten sind neben Wertvorstellungen und Wünschen v.a. Anweisungen zu Behandlungsmaßnahmen. Diese können für bestimmte medizinische Situationen eingefordert, eingeschränkt oder auch völlig abgelehnt werden. Die Patientenverfügung wird wirksam, wenn der Betroffene nicht mehr in der Lage ist, seine notwendige Zustimmung oder Ablehnung zu Behandlungsmaßnahmen direkt kund zu tun.


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 88 3/2009, S. 14-16
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2009