Schattenblick →INFOPOOL →WELTANSCHAUUNG → HUMANISTISCHER V.D.

GESELLSCHAFT/021: Miteinander in tragenden Beziehungen lernen (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 83/2008
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Miteinander in tragenden Beziehungen lernen - eine Alternative zum Lob der Disziplinierung

Von Brigitte Wieczorek-Schauerte


Es ist gut, dass wir angesichts gewalttätiger Jugendlicher in unserem Land immer noch entsetzt sind - trotz allseits bedauerter emotionaler Abhärtung durch die mediale Flut von territorialen Massakern und Umweltkatastrophen. Das heißt, wir sind immer noch wachsam auf ein friedliches, demokratisches Miteinander im sozialen Leben bedacht und wollen dafür Sorge tragen. Hieraus ergibt sich eine Chance umzudenken.


*


Es ist wenig aussichtsreich, wenn Politiker überstürzt, einigen Stimmen aus dem Volk folgend, nach höheren Strafen für jugendliche Gewalttäter rufen. Es ist verständlich, dass sich Empörung und Hilflosigkeit in Wut und dem Ruf nach Rache und Genugtuung artikuliert, aber es bedeutet auch, dass wir auf dem gleichen Weg voranschreiten, auf dem sich diese Jugendlichen oft seit Beginn ihrer Existenz bewegen - der Konfrontation mit elterlicher Gewalterziehung.

Erfolgversprechender ist es, sich besonnen mit Experten aus dem Bereich der Sozialwissenschaften zusammenzusetzen und deren Untersuchungen und durchaus erfolgreich praktizierte Projekte endlich einmal für die gesellschaftliche Erziehung allgemein nutzbar zu machen. Ein Beispiel ist die Unterbringung in Pflegefamilien, in denen jugendliche Straftäter eher alltagstauglich und gesellschaftsfähig werden.

Um bei Jugendlichen im Strafvollzug eine Einstellungsänderung hinsichtlich ihrer einseitigen gewalttätigen Problemlösungen zu erwirken, müssen zwei Voraussetzungen bedacht werden: Erstens muss vom Delinquenten erkannt werden, dass Gewaltfreiheit ein Wert in unserer Gesellschaft ist und er mit seiner Tat der Gemeinschaft geschadet hat. Diese Einsicht setzt ein gewisses Maß an Empathie voraus, das Jugendliche wiederum zuvor in Interaktionen mit ihren Beziehungspartnern erfahren haben müssen. Sonst ist das Eingesperrtwerden nur ein neuer Gewaltakt, gegen den es gemeinsam mit den Mithäftlingen Überlebensstrategien zu entwickeln gilt. Zweitens müssen die im Strafvollzug tätigen Erwachsenen in der Lage sein, eine verlässliche Beziehung zu den Häftlingen aufzubauen - verlässlich auch dann noch, wenn sie mit Ablehnung und Kränkungen konfrontiert werden. Sie müssen das Vertrauen aufbauen, das gewalttätigen Jugendlichen in ihrer Kindheit gefehlt hat, um den erwünschten Entwicklungsprozess in Gang zu setzen.


Suche nach verlässlichen Beziehungen

Der Jugendstrafvollzug wurde um Vieles verbessert und die Rückfallquote liegt nur mehr bei ca. 50 Prozent. Aber wenn man den untersuchenden Wissenschaftlern genau zuhört, sind es die Jugendlichen, die aus liebevollen Familien kommen oder zumindest eine positive Identifikationsfigur in ihrer Umgebung nutzen können - die also pubertätsbedingt vorübergehend unter schlechten Einfluss gerieten - die nicht wieder rückfällig werden. Diese sind dann wirklich aufgewacht, als sich zum ersten Mal Gefängnistore hinter ihnen schlossen. Für diejenigen, die mit Gewalt innerhalb der Familie und auf der Straße aufwuchsen, ist die Jugendstrafanstalt eher ein Ort, wo sie neue "Freunde" kennen lernen.

Was uns als Menschen und somit als sozialen Wesen gemeinsam ist, das ist die Suche nach Beziehungen zu anderen Menschen und der Wunsch und die Fähigkeit, soziale Bindungen einzugehen. Wird uns dies schon früh verwehrt, schon in der Familie, die am Anfang unsere ganze Welt bedeutet, nehmen wir Schaden und folgern, Beziehungsaufbau ist mit Ablehnung und Gewalt verbunden - physisch wie psychisch. Vor mehr als fünfzig Jahren untersuchte der englische Psychoanalytiker John Bowlby jugendliche Straftäter und fand heraus, dass diese häufig in Heimen aufgewachsen waren und keine festen Bindungen an irgendeine erwachsene Beziehungsperson hatten. Bindungslosigkeit wirkt sich dahingehend aus, dass es den Kindern und Ju gendlichen schwer fällt, sich in andere Personen hineinzuversetzen. Ihr Leben ist Hass und Kampf, da ihnen das Modell fehlte, an dem sie sich hätten orientieren können - ein Modell, das ihnen zeigt, dass sie wichtig sind und ernst genommen werden mit ihren eigenen Affekten und Intentionen und dieses Konzept zu übernehmen sich im Miteinander lohnt.


Familienbildung von Anfang an

Um als Modell oder Beispiel für Kinder und Jugendliche zu wirken, muss die erwachsene Beziehungsperson über eine besondere Feinfühligkeit verfügen. Ist eine sichere Bindung einmal entstanden, geht das Kind mit der Fähigkeit ins Leben, empathisch mit sich selbst und anderen Menschen umzugehen und kann sich ein soziales Netz aufbauen, das es in Krisen hält. Es ist dann auch beeinflussbar über die sichere Bindung zu einer oder mehreren Personen, denen es vertraut. Es kann deren Werte zwar hinterfragen, wird sich aber für den Respekt anderen Menschen gegenüber entscheiden, weil es diesen früh selbst erfahren hat.

War die Familie hier als Modell untauglich, suchen Kinder und Jugendliche im Kindergarten, in der Schule oder in Freizeiteinrichtungen weiter nach einer tragenden Beziehung, und sie können so dem eigenen Lebensweg immer noch eine positive Richtung geben. Erst wenn viele Versuche gescheitert sind, beginnt eine kriminelle Karriere.

Die Feinfühligkeit von Eltern und Pädagogen ist wiederum das Ergebnis einer sicheren Bindung aus deren eigener Kindheit und Jugend. Hier liegt das eigentliche Potenzial für eine gesellschaftlich organisierte Erziehung. Eltern müssen frühzeitig begleitet werden, begleitet und beraten, ohne als erziehungsunfähig stigmatisiert zu werden. Erzieher und Lehrer sollten den gesellschaftlichen Bedingungen entsprechend ausgebildet werden. Hier wurde die Zeit in einigen Bereichen vor 50 Jahren angehalten. In der Fachdidaktik kennen sich Lehrer heute wie damals hervorragend aus, aber psychologische Grundlagen für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen spielen in der Ausbildung kaum eine Rolle. Aber die in der Kindheit und Jugend erfahrenen Beziehungen bilden sich später als soziale Kompetenz im Verhalten eines Menschen ab. Wie in der Familie und der Schule miteinander gelebt wird, das wird als Konzept für den eigenen Lebensentwurf übernommen. Das Setzen von Grenzen, und zwar viel früher als mit Beginn der Strafmündigkeit, ist wichtig. Zeigt es doch Kindern, wie Erwachsene sich ein gesellschaftliches Zusammenleben vorstellen. Dieses Grenzsetzen wird aber nur vom Kind akzeptiert, wenn es zwar konsequent berechenbar, aber wohlwollend in einer tragenden Beziehung geschieht.


Beispiel Lebenskunde

Das Unterrichtsfach Humanistische Lebenskunde kann hier als beispielhaft bezeichnet werden. Im Unterricht wird unter anderem der Versuch unternommen, über die Art des Umgangs miteinander zu lernen, was in einer humanen Gesellschaft erwünscht ist. In den Lerngruppen wird viel Wert auf das soziale Miteinander gelegt. Dazu bemühen die Lehrerinnen und Lehrer sich, Beziehungen zwischen den Schülerinnen und Schülern als vertrauensvoll, offen und freundlich herzustellen, um Lerninhalte auf dieser Basis möglichst störungsfrei bearbeiten zu können. Dazu wird bereits in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, die der Humanistische Verband in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Berlin durchführt, der Auseinandersetzung der Lehrperson mit den eigenen inneren Bildern - wir können auch sagen, mit dem individuellen humanistischen Menschenbild - viel Platz eingeräumt. Dies geschieht zum einen über eine theoretische Aneignung von humanistischem Gedankengut von der Antike bis zur Neuzeit. In den Lehrveranstaltungen allerdings werden die Lerninhalte so vorbereitet, dass den Studierenden immer auch die Begegnung mit der ganz persönlichen Positionierung ermöglicht wird, etwa, wenn sie dazu aufgefordert werden, sich zum Verteidiger einer bestimmten Person und/oder einer philosophischen Richtung zu machen. Dadurch wird, neben der historischen Dimension, ein individueller Zugang und demgemäß eine neue persönliche Handlungskompetenz erworben. Das bedeutet: Ich kann mich in die Haltung eines anderen hineinversetzen, seine Position verstehen und verteidigen. Und das sagt immer auch etwas aus über mich als Person, über meine individuelle Orientierung.

Zum anderen wird im Studienplan dem Bereich der Pädagogischen Psychologie viel Raum gegeben. Die Psychoanalytische Pä dagogik erleichtert es dem Lehrer, Schülerverhalten individuell zu verstehen. Durch den Systemischen Ansatz wird dieses Verstehen auf Gruppenprozesse (Systeme) erweitert. Dabei wird der Blickwinkel des Lehrers oder der Lehrerin dahingehend geschult, dass auffälliges Verhalten nicht ausschließlich defizitär zu deuten ist, sondern die dem Schüler zur Verfügung stehenden Ressourcen einbezogen werden.

So kann zum Beispiel ein Schüler, der durch Clownerien den Unterricht stört, Defizite im Sozialverhalten ausdrücken. Er kann aber auch darauf aufmerksam machen, dass der Lehrer immer viel zu schnell vorangeht, während die Klasse ab und zu eine Verschnaufpause braucht. Der Schüler tut dies wohl eher unbewusst, aber um sich mit ihm über sein Verhalten auseinander zu setzen ist es erfolgreicher, sein Verhalten als sinnvoll zu deuten.

Aber - die Analyse von Störungen im Unterricht fängt immer beim Lehrer an. Die Frage an die Lehrerin/den Lehrer ist hier: "Warum stört mich diese Schülerin oder dieses Verhalten so sehr, dass ich emotional so stark in den störenden Prozess gezogen werde und mir das Festhalten an einer tragenden pädagogischen Beziehung so schwer fällt?" Das hat eben mit den inneren Bildern, nennen wir sie Erfahrungen, der Lehrerin/des Lehrers in schulischen Zusammenhängen zu tun. Und die werden anhand von vielen praktischen Unterrichtsbeispielen im Studium thematisiert. Und bereits im Studium wird den Studierenden die Möglichkeit einer kostenlosen Supervisionsgruppe geboten, in der sie ihre Arbeitsprobleme in einer solidarischen Gruppe besprechen können.

Um überhaupt Einfluss auf deren Verhalten zu gewinnen, müssen Erzieher und Lehrer imstande sein, tragende Beziehungen zu ihren Schülern und Schülerinnen aufzubauen - und ganz besonders zu den auffälligen, problematischen, die sie ihrerseits womöglich ablehnen. Die dazu nötige Feinfühligkeit müssen sie sich immer wieder neu erarbeiten, etwa in Supervisionsgruppen oder in kollegialen Fallgesprächen, und sie sollten dabei vollkommen ehrlich zu sich selbst sein. Das eigene aggressive Potenzial fließt in die Interaktion mit dem zu Erziehenden ein und es ist zu begrüßen, dass Kinder sich heute dazu äußern und sich dagegen wehren. Wir sollten uns nicht eine Zeit zurückwünschen, in der Kinder und Jugendliche von alten Leuten, ihren Lehrern und Ausbildnern ungestraft schikaniert, grob zurechtgewiesen und zynisch oder menschenverachtend behandelt werden durften. Nicht dem Alter sei Respekt gezollt, sondern demjenigen, der den noch schwachen Mitgliedern unserer Gesellschaft verständnis- und respektvoll hilft, sich zu einem Leben in sozialer Verantwortung zu entscheiden.


Brigitte Wieczorek-Schauerte, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Ausbildungsinstitut Humanistische Lebenskunde des HVD. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Psychologie und Unterrichtsforschung.


*


Familienzentren - für Bildungschancen von kleinauf

Berlin - Am 16. April wurde eine Kooperationsvereinbarung zwischen dem Berliner Senat, dem Bezirksamt Spandau und dem Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) zur Umsetzung des Modellprojektes "Familie im Zentrum" (Förderprogramm "Soziale Stadt") unterzeichnet. Der HVD wird in diesem Rahmen gemeinsam mit dem freien Träger "Trialog e. V." ein Familienzentrum in seiner Kita Wasserwerkstraße aufbauen. Gegenwärtig leben über eine Millionen Kinder in Deutschland in Armut. Auch in den 22 Humanistischen Kindertagesstätten in Berlin sind immer mehr Kinder von Armut nicht nur in materieller Hinsicht, sondern auch kulturell, sozial und zunehmend gesundheitlich betroffen. Der HVD beschäftigt sich schon seit längerer Zeit mit der Frage, welche Konzepte und Maßnahmen zur Kompensation und zur Prävention von Armut in den eigenen Kitas entwickelt und umgesetzt werden können. So planen die Berliner Humanisten derzeit ein weiteres Familienzentrum in eigener Trägerschaft in der Kita Felix im Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Der Sozialraum dieser Kita ist charakterisiert durch eine großstädtische Trabantensiedlung mit hoher Arbeitslosigkeit, Niedrigverdienern, unvollständigen Familien usw. Familienzentren folgen dem Handlungsgrundsatz "Hilfe zur Selbsthilfe". Dabei sollen Eltern gestärkt und in die Lage versetzt werden, Verantwortung für sich und ihre Kinder zu übernehmen. Motivierte und engagierte Mitarbeiter/innen des Humanistischen Verbandes mit einer hohen Professionalität unterstützen Eltern vor allem auch in Fragen der Bildung und Erziehung. Dabei stehen die Kinder mit ihren Stärken und Bedürfnissen im Mittelpunkt der Arbeit. Das Familienzentrum soll sich mittelfristig zu einer festen Institution im Sozialraum entwickeln, denn nur so können sich die Bildungschancen der betroffenen Kinder und das Lebensgefühl aller Beteiligten nachhaltig verbessern. Das Projekt wird seit 2008 für zwei Jahre aus dem Europäischen Fond für Regionale Entwicklung zu 50 Prozent finanziell gefördert und zur anderen Hälfte vom Humanistischen Verband finanziert.


*


Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 83/Juni/08, S. 22-24
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2008